172.
An Franz Overbeck

[1199] [Erhalten am 11. Februar 1883 aus Rapallo]


Lieber Freund, das Geld ist in meinen Händen: und wieder dachte ich darüber nach, welche unangenehme Mühsal ich Dir nun seit Jahren mache. Vielleicht hat es nun bald sein Ende.

Ich will es Dir nicht verhehlen, es steht schlecht mit mir. Es ist wieder Nacht um mich; mir ist zumute, als hätte es geblitzt – ich war eine kurze Spanne Zeit ganz in meinem Elemente und in meinem Lichte. Und nun ist es vorbei. Ich glaube, ich gehe unfehlbar zugrunde, es sei denn, daß irgend etwas passiert, ich weiß durchaus nicht was. Vielleicht, daß mich jemand aus Europa wegschleppte – ich, mit meiner physikalischen Denkungsweise, sehe in mir jetzt das Opfer[1199] einer terrestrisch-klimatischen Störung, der Europa ausgesetzt ist. Was kann ich dafür, daß ich einen Sinn mehr habe und eine neue furchtbare Leidensquelle! Selbst so zu denken ist schon eine Erleichterung – so brauche ich doch nicht die Menschen als Ursachen meines Elends anzuklagen. Obwohl ich dies könnte! Und nur zu viel auch tue! Alles, worauf ich in meinen Briefen an Dich hingedeutet habe, ist nur das Nebenbei – ich habe eine solche vielfache Last qualvoller und gräßlicher Erinnerungen zu tragen!

So ist mir zum Beispiel noch nicht eine Stunde aus dem Gedächtnis weggeblieben, daß mich meine Mutter eine Schande für das Grab meines Vaters genannt hat. –

Von andern Beispielen will ich schweigen – aber ein Pistolenlauf ist mir jetzt eine Quelle relativ angenehmer Gedanken. –

Mein ganzes Leben hat sich vor meinen Blicken zersetzt: dieses ganze unheimliche verborgen gehaltene Leben, das alle sechs Jahre einen Schritt tut und gar nichts eigentlich weiter will als diesen Schritt: während alles Übrige, alle meine menschlichen Beziehungen, mit einer Maske von mir zu tun haben, und ich fortwährend das Opfer davon sein muß, ein ganz verborgenes Leben zu führen. Ich bin den grausamsten Zufällen immer ausgesetzt gewesen – oder vielmehr: ich bin es, der aus allen Zufällen sich Grausamkeiten gemacht hat.

Dies Buch, von dem ich Dir schrieb, eine Sache von zehn Tagen, kommt mir jetzt wie mein Testament vor. Es enthält in der größten Schärfe ein Bild meines Wesens, wie es ist, sobald ich einmal meine ganze Last abgeworfen habe. Es ist eine Dichtung und keine Aphorismen-Sammlung.

Ich fürchte mich vor Rom und kann mich nicht entschließen. Wer weiß, welche Tortur dort auf mich wartet! So habe ich mich daran gemacht, mein eigner Abschreiber zu sein.

Was soll ich tun unter diesem Himmel und Wetter-Wechsel! Ah, diese Beängstigung! Und dabei weiß ich, daß, relativ, am Meere es noch »am besten geht«!

Mit herzlichem Danke und Dir und Deiner lieben Frau das Beste wünschend

F. N.[1200]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1199-1201.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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