|
[1208] [Sommer 1883, von Sils-Maria]
Mein lieber Freund Overbeck, ich will auch an Dich noch ein paar aufrichtige Worte schreiben, wie ich es jüngst an Deine verehrte Frau getan habe. Ich habe ein Ziel, welches mich nötigt, noch zu leben und dessentwegen ich auch mit den schmerzhaftesten Dingen fertig werden muß. Ohne dieses Ziel würde ich es leichter nehmen – nämlich längst nicht mehr leben. Und nicht nur diesen Winter hätte ein jeder, der meinen Zustand aus der Nähe gesehen und begriffen hätte, mir sagen dürfen: »mach Dir's doch leichter! Stirb!« – sondern auch früher schon,[1208] in den furchtbaren Jahren physischen Leidens, stand es ebenso mit mir. Selbst noch meine Genueser Jahre sind eine lange lange Kette von Selbstüberwindungen um jenes Zieles willen und nicht im Geschmacke irgendeines Menschen, den ich kenne. Also, lieber Freund, der »Tyrann in mir«, der unerbittliche, will, daß ich auch diesmal siege (was körperliche Qualen betrifft, nach Länge, Intensität und Mannigfaltigkeit, so darf ich mich zu den erfahrensten und erprobtesten Menschen rechnen: ist es denn mein Los, daß ich's auch noch in betreff der seelischen Qualen sein muß?). Und wie meine Denkweise und letzte Philosophie nun einmal ist, so habe ich sogar einen absoluten Sieg nötig: nämlich die Umwandlung des Erlebnisses in Gold und Nutzen höchsten Ranges. – –
Einstweilen bin ich freilich immer noch der leibhaftige Ringkampf: so daß ich bei den neulichen Aufforderungen Deiner lieben Frau ungefähr den Eindruck hatte, als ob jemand den alten Laokoon auffordere, er möge doch seine Schlangen überwinden.
Meine Angehörigen und ich – wir sind zu verschieden. Die Maßregel, die ich diesen Winter für nötig befand, keine Briefe mehr von daher zu empfangen, ist aber nicht mehr aufrecht zu erhalten (ich bin nicht hart genug dazu). Aber ein jedes verächtliche Wort, was gegen Rée oder Frl. Salomé geschrieben wird, macht mir das Herz bluten; es scheint: ich bin schlecht zur Feindschaft gemacht (während meine Schwester mir zuletzt noch schrieb, ich solle guter Dinge sein, es sei ja »ein frischer fröhlicher Krieg«).
Ich habe die stärksten abziehenden Mittel angewendet, die ich kenne, und namentlich an die höchste und schwerste eigne Produktivität appelliert. (Inzwischen ist die Skizze zu einer »Moral für Moralisten« fertig geworden.) Ach, Freund, ich bin ja ein alter geriebener Moralist der Praxis und Selbstbeherrschung, ich habe hier so wenig etwas versäumt, wie etwa diesen Winter bei der Selbstbehandlung im Nervenfieber. Aber von außen her werde ich nicht unterstützt; im Gegenteil, es scheint gleichsam alles verschworen, mich in meinem Abgrunde festzuhalten: – so das entsetzliche letztjährige Winterwetter, wie es die Küste Genuas noch kaum erlebt hat, so wieder dieser kalte, trübe, regnerische Sommer.
Aber die Gefahr ist groß. Ich bin eine allzu konzentrierte Natur,[1209] und was mich auch trifft, bewegt sich nach meinem Mittelpunkte. Das Unglück des vorigen Jahres ist nur im Verhältnis zu dem mich beherrschenden Ziele und Zwecke so groß; ich war und bin furchtbar zweifelhaft über mein Recht geworden, mir ein solches Ziel zu setzen –das Gefühl meiner Schwäche überfiel mich, in einem Momente, wo alles, alles, alles mir hätte Mut machen sollen!
Denke doch daran, liebster Freund Overbeck, etwas absolut Abziehendes ausfindig zu machen! Ich glaube, es bedarf jetzt der äußersten und extremsten Mittel – Du kannst Dir nicht vorstellen, wie bei Tag und Nacht dieser Wahnsinn in mir wütet.
Daß ich in diesem Jahre meine sonnenhellsten und heitersten Dinge erdacht und geschrieben habe, viele Meilen hoch über mir und meinem Elende: das gehört eigentlich zum Erstaunlichsten und Schwersterklärlichen, was ich weiß.
Ich habe, soweit ich berechnen kann, noch das nächste Jahr nötig zu leben – hilf mir dazu, daß ich noch fünfzehn Monate aushalte.
Wenn es irgendwie Dir möglich ist, den Gedanken einer Zusammenkunft in Schuls zu verwirklichen: so gib mir einen Wink – ich bin Dir äußerst dankbar auch schon für den Vorschlag.
Treulich Dein Nietzsche
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
|