184.
An Franz Overbeck

[1213] [Aus Sils-Maria, erhalten am 28. August 1883]


(Dieser Brief ist für Dich allein.)

Lieber Freund, die Trennung von Dir warf mich in die tiefste Melancholie zurück, und die ganze Rückreise wurde ich böse schwarze Empfindungen nicht los; darunter war ein wahrer Haß auf meine Schwester, die mich nun ein Jahr lang mit Schweigen zur unrechten Zeit und mit Reden zur unrechten Zeit um den Erfolg meiner besten Selbst-Überwindungen gebracht hat: so daß ich schließlich das Opfer eines schonungslosen Rachegefühls bin, während gerade meine innerste Denkweise allem Sich-Rächen und Strafen abgesagt hat: – dieser Konflikt in mir nähert mich Schritt für Schritt dem Irrsinn1, das empfinde ich auf das furchtbarste – und ich wüßte nicht, inwiefern eine Reise nach Naumburg diese Gefahr verringern könnte. Umgekehrt: es könnte zu schauderhaften Augenblicken kommen – und auch jener lange genährte Haß könnte in Wort und Tat zum Vorschein kommen: wobei ich bei weitem am meisten das Opfer sein würde. Auch Briefe an meine Schwester zu schreiben ist jetzt nicht mehr ratsam – außer solchen von der harmlosesten Form (ich schickte ihr zuletzt noch einen Brief voll lustiger Verschen). Vielleicht war meine Versöhnung mit ihr in dieser ganzen Geschichte der verhängnisvollste Schritt – ich sehe jetzt ein, daß sie dadurch geglaubt hat, ein Recht zu ihrer Rache an Frl. Salomé zu bekommen. – Pardon![1213]

Nach unserer Übereinstimmung über das Bedenkliche an dem Leipziger Plan tat es mir wahrhaft wohl, einen Brief Heinzes vorzufinden, mit dem diese ganze Angelegenheit – ein Schritt der Verzweiflung meinerseits – zu Ende gebracht ist. Ich lege Dir den Brief bei, insgleichen die erste öffentliche Äußerung über Zarathustra I; sonderbarerweise ist letztere in einem Gefängnisse niedergeschrieben. Was mir Vergnügen macht, das ist zu sehen, daß gleich dieser erste Leser ein Gefühl davon hat, worum es sich hier handelt: um den längst verheißenen »Antichrist«. Seit Voltaire gab es kein solches Attentat gegen das Christentum – und, die Wahrheit zu sagen, auch Voltaire hatte keine Ahnung davon, daß man es so angreifen könne. –

Was Zarathustra II betrifft, so schreibt Köselitz: »Z. wirkt ungeheuer stark; es wäre aber verwegen, schon darüber mich äußern zu wollen: er hat mich umgeworfen, ich liege noch am Boden.« –

Du verstehst!

Inzwischen, während ich mit Dir zusammen war, hat mir mein alter Schulfreund Krug seinen Besuch machen wollen (der »Direktor des königl. Eisenbahn-Betriebs-Amts in Köln« ist, wie auf seiner Karte steht).

Köselitzens Brief enthält Worte über Epikur (wie früher einmal über Seneca), welchen ich nichts an die Seite zu setzen wüßte, an tiefster Sach- und Menschenkenntnis dieser Philosophie: er deutet an, daß er »Leibphilologen« habe, die er in die Bibliothek treibe, die Kirchenväter und andre Skribenten auf Epikur hin anzusehn.

Welche Wohltat war es, Dich und Dein herzliches Vertrauen einmal so in der Nähe zu haben! Und wie gut verstehen und verstanden wir uns! Möge Deine besser gesicherte Vernunft meinem ins Schwanken geratenen Kopfe eine Stütze sein und bleiben!

Von Herzen Dein Freund Nietzsche

1

Könntest Du diesen Gesichtspunkt vielleicht meiner Schwester stark zu Gemüte führen?

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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