186.
An Franz Overbeck

[1216] [Nizza, 7. April 1884] Montag


Schönsten Dank, mein lieber Freund! Auch Dein Wink in betreff Mickiewicz' kam zur rechten Zeit: ich schäme mich, so wenig von den Polen zu wissen (die, zu guter Letzt, doch meine »Altvordern« sind!) – wie sehr wünschte ich einem Dichter zu begegnen, der zu Chopin gehörte und mir wie Chopin wohltäte! – Über Lipiner hörte ich jüngst noch sehr Genaues: äußerlich ein »gemachter Mann« –. Sonst aber die typische Form des jetzigen »Obscurantismo«, hat sich taufen lassen, ist Antisemit, fromm (er hat kürzlich Gottfried Keller auf das feindseligste angegriffen und ihm »Mangel an wahrem Christentum und Glauben« vorgeworfen!) Lipiner soll alle jungen Leute, auf die er Einfluß hat, ruinieren – er treibt sie zum »Mystischen« und läßt sie das wissenschaftliche Denken verachten. Ein Mensch mit lauter sehr »praktischen« Nebenabsichten, der die »Zeichen der Zeit« sich zunutze macht. Meine Nachrichten stammen von einem Wiener Naturforscher, der ihn von Kindheit an kennt. –

Über Schmeitzners Verhalten weiß ich nichts Neues. Die Sache ist mir äußerst peinlich, denn ich glaubte eine gute Gelegenheit zu haben, meiner Mutter einen wirklichen Dienst zu erweisen und damit etwas zwischen uns zu verbessern: da kommt mir wieder die Antisemiterei zwischen die Beine!!

Die Zeit ist nun ganz vor der Tür, daß ich Nizza verlasse: ich will die ersten Exemplare meines Zarath. noch abwarten. Hoffentlich werden sie kommen: aber es ist auch wieder so eine monatlang Klaustrur möglich, wie voriges Jahr. Ich erwarte, unter uns gesagt, der Bankerott Schmeitzners. Wohin werden da unsre Bücher geraten!

Für nächsten Winter bin ich bereits ziemlich sicher; womöglich das gleiche Haus und das gleiche Zimmer. Vielleicht gelingt es mir, hier[1216] eine Gesellschaft mir zu begründen, unter der ich nicht ganz der »Verborgene« bin. Das Klima des littoral provençal gehört auf das wunderbarste zu meiner Natur; ich hätte den Schlußreim zu meinem Zarathustra nur an dieser Küste dichten können, in der Heimat der »gaya scienza«. Lanzky (ein Dichter, beiläufig) ist bereits entschlossen zu kommen; ich wünschte Köselitz bereden zu können. Vielleicht sogar Dr. Rée u. Frl. Salomé, an denen ich gern einiges gutmachen möchte, was meine Schwester schlimm gemacht hat. Ich hörte jetzt wieder über beide; und Erfreuliches (sie sind in Meran). Von Frl. S. soll diesen Frühling etwas er scheinen »über religiöse Affekte« – dies Thema habe ich in ihr entdeckt, es freut mich außerordentlich, daß meine Tautenburger Bemühungen doch noch Früchte tragen.

Mein Umgang in diesem Winter war durch die Gäste des Hauses, in dem ich wohne, an die Hand gegeben. Ein alter preußischer General mit seiner Tochter, in allen praktischen Dingen mein Ratgeber; eine alte amerikanische Pfarrerin, die mir täglich c. 2 Stunden aus dem Englischen übersetzt hat; neuerdings haben Albert Köchlin und Frau (Lörrach) sich äußerst liebenswürdig gegen mich benommen. Jetzt eben habe ich Besuch, für 10 Tage etwa, von einer Züricher Studentin, was du spaßhaft finden wirst – es tut mir wohl, es beruhigt mich etwas, nach den inneren »großen Wellen« der letzten Monate. Sie ist befreundet mit – Irma von Regner-Bleileben; und zwischen ihr und Frl. Salomé scheint eine gegenseitige Verehrung stattzufinden; sie ist ebenfalls sehr intim mit der Gräfin Dönhoff und ihrer Mutter, natürlich auch mit Malwida: so daß es genug gemeinsame personalia gibt. Gestern besuchten wir zusammen ein spanisches Stiergefecht. –

Himmel! Ich bekomme jetzt nachgerade eine hübsche Gattung von Briefen – diese Art von Verehrungs-Stil hat R. Wagner in die deutsche Jugend hineingetragen: und es beginnt schon, was ich lange prophezeit habe, daß ich in manchen Stücken der Erbe R. W.s sein werde. –

Die letzten Monate habe ich »Welt-Historie« getrieben, mit Entzücken, obschon mit manchem schauerlichen Resultate. Habe ich Dir einmal Jacob Burckhardts Brief gezeigt, der mich mit der Nase auf die »Welt-Historie« gestoßen hat?

Falls ich den Sommer nach Sils-Maria komme, so will ich eine Revision meiner Metaphysica und erkenntnistheoret. Ansichten vornehmen.[1217] Ich muß jetzt Schritt für Schritt durch eine ganze Reihe von Disziplinen hindurch, denn ich habe mich nunmehr entschlossen, die nächsten fünf Jahre zur Ausarbeitung meiner »Philosophie« zu verwenden, für welche ich mir, durch meinen Zarathustra, eine Vorhalle gebaut habe.

Beim Durchlesen von »Morgenröte« und »Fröhlicher Wissenschaft« fand ich übrigens, daß darin fast keine Zeile steht, die nicht als Einleitung, Vorbereitung u. Kommentar zu genanntem Zarathustra dienen kann. Es ist eine Tatsache, daß ich den Kommentar vor dem Text gemacht habe. – –

Wie geht es Emerson und Deiner verehrten Frau?

Dein Freund N.


Du schreibst nichts von Deiner Gesundheit?

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1216-1218.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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