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[1221] Sils-Maria, 2. Sept. 1884
Zuletzt, mein lieber verehrter Freund – was uns auch für Widerwärtigkeiten im Wege stehen mögen, wir beide gehören nun einmal zur Ritter- und Brüderschaft »von der gaya scienza» und wollen uns dessen in diesem guten Jahre, das Ihren »Löwen« und meinen »Zarathustra« von einem Baume abschüttelte, recht von Herzen getrösten. Der Rest – ist Warten, bei Ihnen wie bei mir.
Für die Zukunft trage ich die Hoffnung mit mir herum, daß sich in Nizza eine kleine äußerst gute Gesellschaft dieses Glaubens an die gaya scienza bilden wird: und im Geiste habe ich Ihnen als dem ersten schon den Ritterschlag zur Einweihung in diesen neuen Orden gegeben. Man soll »beim Mistral!« fluchen und schwören – eine andere Verpflichtung wüßte ich nicht, da sich bei Menschen, wie wir sind, alles »von selber versteht«. –
Einstweilen bin ich durch eine doppelte Quarantäne von Nizza fern gehalten (das heißt durch 2 mal 7 Tage) und in Anbetracht, daß[1221] erst mit den Herbst- Regen die Cholera verschwinden wird, also etwa in der zweiten Hälfte des Oktober – oszilliert meine Sehnsucht sehr nach dem Norden zu, deutlicher geredet, nach Dresden zu. Sobald die »Aussicht der Aufführung« Ihnen selber zu Gesicht kommt (oder auch nur die Wahrscheinlichkeit dieser Aussicht), bitte, telegraphieren Sie hierher. Hier, ohne Ofen, durchfroren, mit blauen Händen, kann ich's schwerlich lange aushalten – ich müßte mir denn einen Ofen anschaffen.
Ich bin überdies mit der Haupt-Aufgabe dieses Sommers, wie ich sie mir gestellt hatte, im ganzen fertig geworden, – die nächsten 6 Jahre gehören der Ausarbeitung eines Schemas an, mit welchem ich meine »Philosophie« umrissen habe. Es steht gut und hoffnungsvoll damit. Zarathustra hat einstweilen nur den ganz persönlichen Sinn, daß es mein »Erbauungs- und Ermutigungs-Buch« ist – im übrigen dunkel und verborgen und lächerlich für jedermann.
Heinrich von Stein, ein prachtvolles Stück Mensch und Mann, an dem ich Freude gehabt habe, sagte mir ganz ehrlich, er habe von besagtem Zarathustra »zwölf Sätze und nicht mehr« verstanden. – Das tat mir sehr wohl.
Schreiben Sie mir ein Wort über Ihre Übersetzung.
Mit der Gesundheit steht es sehr unsicher, es stand in Venedig besser, und in Nizza besser als in Venedig. Alle 10 Tage ein guter Tag: so lautet meine Statistik, hole sie der Teufel!
Kein Mensch, der mir vorliest! Alle Abende melancholisch im niedrigen Zimmer, frostklappernd, 3-4 Stunden die Erlaubnis abwarten, zu Bett zu gehn!
Heute verläßt mich meine beste Sommer-Bekanntschaft, meine Tisch-Nachbarin Frl. von Mansuroff, dame d'honneur der russischen Kaiserin – ach, wir hatten uns so viel zu erzählen, es ist ein Jammer, daß sie fortgeht! Denken Sie doch, eine veritable Schülerin Chopins, und voller Liebe und Bewunderung für diesen »ebenso stolzen wie bescheidenen« Menschen! – – –
Sils-Maria ist allerersten Ranges, als Landschaft – und nunmehr auch, wie man mir sagte, durch »den Einsiedler von Sils-Maria«. – –
Sehen Sie, da schrieb ich schnell noch eine »Unbescheidenheit allerersten Ranges«!
Treulich Ihr Freund Nietzsche[1222]
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