196.
An Malwida von Meysenbug

[1229] Nizza, Donnerstag, 13. März 1885


Verehrte Freundin, Sie wundern sich darüber, daß ich Ihnen gar nicht mehr schreibe? Ich wundre mich gleichfalls darüber; aber immer, wenn ich mich dazu anschickte, legte ich endlich die Feder wieder weg. Wüßte ich die Gründe dafür genau, so würde ich mich nicht mehr wundern, aber – vielleicht betrüben.

Es ging mir nicht gut, den ganzen Winter (die trockne Luft fehlte mir, dank den Abnormitäten dieses Jahres), und als Ihr gütiger Brief zu mir kam, lag ich zu Bett, sehr leidend. Aber das ist eine alte Geschichte, und im Grunde bin ich's satt, Briefe über meine Gesundheit zu schreiben. »Helfen« – wer könnte mir helfen! Ich selber bin bei weitem mein bester Arzt. Und das Positivum, daß ich's aushalte und meinen Willen durchsetze unter viel Widerständen, ist mein Beweis dafür.

Es war den Winter über ein Deutscher um mich, der mich »verehrt«; ich danke dem Himmel, daß er fort ist! Er langweilte mich, und ich war genötigt, so vieles vor ihm zu verschweigen. O über die moralische[1229] Tartüfferie aller dieser lieben Deutschen! Wenn Sie mir einen Abbé Galiani in Rom versprechen könnten! Das ist ein Mensch nach meinem Geschmack. Ebenso Stendhal. – Was Musik angeht: so habe ich letzten Herbst gewissenhaft und neugierig die Probe gemacht, wie ich jetzt zu R. Wagners Musik stehe. Was mir diese wolkige, schwüle, vor allem schauspielerische und prätentiöse Musik zuwider ist! So sehr zuwider als – als – als – tausend Dinge, zum Beispiel Schopenhauers Philosophie. Das ist Musik eines mißratenen Musikers und Menschen, aber eines großen Schauspielers – darauf will ich schwören. Da lobe ich mir die tapfere und unschuldige Musik meines Schülers und Freundes Peter Gast, eines echten Musikers: der mag einmal für seinen Teil dafür sorgen, daß die Herrn Schauspieler und Schein-Genies nicht mehr zu lange den Geschmack verderben. – Der arme Stein! Er hält R. Wagner sogar für einen Philosophen!

Warum rede ich davon? Es ist nur, daß ich Ihnen irgendein Beispiel gebe. Es ist der Humor meiner Lage, daß ich verwechselt werde – mit dem ehemaligen Basler Professor Herrn Dr. Friedrich Nietzsche. Zum Teufel auch! Was geht mich dieser Herr an! –

Sehen Sie, meine verehrte Freundin, das ist ein Brief »unter vier Augen«.

Geben Sie mir doch die Adresse jenes Klosters! Es könnte sein, daß ich vielleicht im Herbst einmal den Versuch mit Rom mache, vorausgesetzt, daß ich incognito dort leben kann, und meiner Einsiedler-Natur nichts Widernatürliches zugemutet wird.

Sie wissen doch, wie sehr ich Ihnen zugetan bin? Ihr

N.


Ich liebe diese Küste nicht, ich verachte Nizza, aber im Winter hat es die trockenste Luft in Europa.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1229-1230.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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