204.
An Franz Overbeck

[1242] Sils-Maria, den 5. August 1886


Lieber Freund, eine Mitteilung und eine Bitte! – Eben telegraphiert mir Fritzsch aus Leipzig »Endlich im Besitz!« – Worte, die mir große Freude machen. Ein verhängnisvolles Versehn aus meiner Basler Zeit (etwas »zuviel Vertrauen«, wie so oft in meinem Leben) ist damit ad acta gelegt. Wie gut, daß ich diesen Frühling nach Deutschland ging! Dasselbe habe ich noch einmal zu sagen, in Hinsicht darauf, daß ich meine Lage gegenüber Verleger-Möglichkeit und Publikum mir ad oculus demonstrierte; auch daß ich persönlich mit dem ausgezeichneten Brüder-Paar Naumann verhandelte. Das neue Buch, ein Resultat, welches aus der Ferne gar nicht hätte erreicht werden können, ist eben fertig geworden; der Auftrag, ein Exemplar an Dich nach Basel abzusenden, ist bereits seit einigen Tagen ergangen. Nun kommt die Bitte, alter Freund: lies es, von vorne nach hinten, und laß Dich nicht erbittern und entfremden – »nimm alle Kraft zusammen«, alle Kraft Deines Wohlwollens für mich, Deines geduldigen und hundertfach bewährten Wohlwollens, – ist Dir das Buch unerträglich, so doch vielleicht hundert Einzelheiten nicht! Vielleicht auch, daß es dazu beiträgt, ein paar erhellende Lichter auf meinen Zarathustra zu werfen: der deshalb ein unverständliches Buch ist, weil er auf lauter Erlebnisse zurückgeht, die ich mit niemandem teile. Wenn ich Dir einen Begriff meines Gefühls von Einsamkeit geben könnte! Unter den Lebenden so wenig als unter den Toten habe ich jemanden, mit dem ich mich verwandt fühlte. Dies ist unbeschreiblich schauerlich; und nur die Übung im Ertragen dieses Gefühls und eine schrittweise Entwicklung desselben von Kindesbeinen an macht mir's begreiflich, daß ich daran noch nicht zugrunde gegangen bin. – Im übrigen liegt die Aufgabe, um derentwillen ich lebe, klar vor mir – als ein factum von unbeschreiblicher Traurigkeit, aber verklärt durch das Bewußtsein, daß Größe darin ist, wenn je der Aufgabe eines Sterblichen Größe eingewohnt hat. –

– Ich bleibe hier bis Anfang September.

Treulich Dein F. N.[1242]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1242-1243.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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