239.
An Peter Gast

[1297] Sils-Maria,

Donnerstag, den 14. Juni 1888


Lieber Freund, Ihr Brief langte zu gleicher Zeit mit der Rückkehr meiner Gesundheit (– und meines Barbiers) bei mir an: Sie können denken, wie festlich er begrüßt wurde. Ihre Mitteilung, daß das provençalische Quartett einmal mir zugehören soll, schmeichelt mir im höchsten Grade. Ich habe daraufhin ungefähr schon meine Lebenspläne verändert. Doch darüber später einmal: heute nur den ersten und vorläufigsten Ausdruck tiefer Erkenntlichkeit. Daß man die guten Dinge miteinander gemein hat, das verbindet am innerlichsten: und ich weiß noch sehr gut, welche kleinen Schauer von Vollkommenheit mir über die Seele liefen, als ich, in Venedig, die Ehre hatte, das damals werdende Quartett zu hören. –

Die Cartolina ist nicht eingetroffen; falls das herrliche Duett ankommt, werde ich es an »geneigter Belustigung« nicht fehlen lassen. – Ein sehr liebenswürdiger Gedanke ist es von Ihnen, dem Dr. Fuchs[1297] ein paar Worte zukommen zu lassen: ich bitte Sie darum; ich weiß gut genug, wie dies auf den sehr vereinsiedelten und viel zu wenig geschätzten Danziger wirken wird. Zuletzt habe ich in meinem letzten Brief von Ihnen erzählt. Es ist übrigens erstaunlich, was er alles durchsetzt und unternimmt: seine letzten Briefberichte gaben mir von der feurigen Energie seiner Natur wieder den allerhöchsten Begriff. (Die Rezensionen wünscht er wieder zurück: er hat noch viel mehr und will sie, auf Wunsch, herausrücken ...)

Es ging schlecht bis jetzt, lieber Freund. Die Reise mißriet wieder, wie gewöhnlich: ich hatte sechs Tage nötig, um, ungefähr wieder, von den schlechten Nachwirkungen loszukommen. Nichts ist so labil im Gleichgewicht als meine Gesundheit ... Das Wetter, das ich hier oben fand, war nicht das, welches ich suchte. Feucht, schwül, Tauluft – 23 Grad C. Denken Sie sich: ich dachte mit Reue an das verlassene Turin, ob ich schon dasselbe in der allergrößten Hitze kennengelernt hatte. Die letzte Zeit stieg das Thermometer Tag für Tag auf 31 Grad C., das Minimum war 22 Grad C. Und seltsam! ich, der empfindlichste Mensch für Hitze, litt ganz und gar nicht dabei –, schlief gut, aß gut, hatte Einfälle und arbeitete ... Die subtile trockne Luft, der Zephir auf den Gassen – im Grunde war es eine Art mir unbekannten Epikureismus'. Welche Höhe die Kaffeehaus-Kultur erklommen, davon wage ich nicht zu schreiben. –

Seit gestern ist es auch hier wieder gute Luft und gesund. Sils ist wirklich wunderschön; in gewagter Latinität das, was ich Perla Perlissima nenne. Ein Reichtum an Farben, hundertmal südlicher darin als Turin. Ringsherum liegen noch die Reste von 26, zum Teil ungeheuren Lawinen. Ganze Wälder sind von ihnen heruntergebrochen. Es gibt hier ein interessantes Lawinen-Recht: das Holz gehört dem, auf dessen Grundstück die Lawine es wirft. Ein Bewohner von Bevers hat auf diese Weise ca. 5000 frs. Holz zum Geschenk bekommen. Der Schnee lag hier noch bis in den Mai hinein sechs Fuß hoch: dann schmolz er mit einer kaum begreiflichen Schnelle weg.

In Turin hörte ich zuletzt noch ein Musikfest: 34 Stadtorchester konkurrierten. Ich wohnte der Konkurrenz der fünf besten Kapellen bei im Teatro Vittorio Emanuele, das ca. 5000 Personen faßt. Der Klang war bezaubernd schön: was ich nie geglaubt hätte. Diese Fortissimi![1298] Ich zeichnete bei mir als die bei weitem erste Leistung die der Kapelle von Asti aus, mit ihrem maestro Foschini; der den Mut hatte, eine eigne Sinfonia drammatica als Konkurrenzstück aufzuführen. Nach meiner Abreise von Turin erfuhr ich mit Vergnügen, daß Asti die Große Goldne Medaille bekommen hat, mit allen möglichen Ehren seitens zweier Ministerien auch für den Maestro. –

Overbeck bezieht ein eignes Haus in Basel. Von meiner Schwester ist ein geradezu bezaubernder langer Bericht über die Ankunft und feierliche Einholung in Nueva Germania da. Die Sache gewinnt wirklich einen großartigen Aspekt.

In München sehn Sie, wenn es möglich, Seydlitzens. Die sind so gut gegen mich. – Von Levi höre ich, daß er krank ist und diesen Sommer nicht in Bayreuth dirigiert.

Ich hatte Fritzsch freigestellt, von meinem Kopenhagener Erfolg etwas in der Presse verlauten zu lassen. Er schrieb mir kürzlich, im Drang der Geschäfte habe er's vergessen, und nun sei es wohl zu spät. – Unverbesserlich!

Mit herzlichem Glückwunsch für die Reise

Ihr N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1297-1299.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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