267.
An Peter Gast

[1340] Turin, Sonntag, den 16. Dezember 1888


Lieber Freund, bedeutende Erweiterung des Begriffs »Operette«. Spanische Operette. »La gran via«, zweimal gehört, – Hauptzugstück von Madrid. Ist einfach nicht zu importieren: man muß dazu Spitzbube und verfluchter Kerl von Instinkt sein – und dabei feierlich ... Ein Terzett von drei feierlichen alten riesengroßen Kanaillen ist das stärkste, was ich gehört und gesehn habe, – auch als Musik: genial, gar nicht zu rubrizieren ... Ich nahm, da ich jetzt sehr gebildet in Rossini bin und bereits acht Opern kenne, die von mir vorgezogene »Cenerentola« zum Vergleich – ist tausendmal zu gutartig gegen diese Spanier. Wissen Sie, die Handlung schon kann nur ein vollendeter Spitzbube ausdenken – lauter Sachen, die wie Taschenspielerei wirken, so blitzartig kommt die canaille zum Vorschein. Vier oder fünf Stücke Musik, die man hören muß; sonst hat der Wiener Walzer in der Form größerer Ensembles das Übergewicht. – Offenbachs »Schöne Helena« hinterdrein fiel einfach ab. Ich lief fort. – Dauer präzis 1 Stunde.[1340]

– Heute nachmittag werde ich ein Requiem von dem alten Neapolitaner Jommelli hören (starb 1774): Accademia di canto corale.

– Und nun die Hauptsache. Ich habe gestern ein Manuskript an C. G. Naumann geschickt, welches zunächst, also vor Ecce homo, absolviert werden muß. Ich finde die Übersetzer für »Ecce« nicht: ich muß einige Monate den Druck noch hinausschieben. Zuletzt eilt es nicht. – Das Neue wird Ihnen Vergnügen machen: – auch kommen Sie vor – und wie! – Es heißt

Nietzsche contra Wagner

Aktenstücke eines Psychologen

Es ist wesentlich eine Antipoden-Charakteristik, wobei ich eine Reihe Stellen meiner älteren Schriften benutzt und dergestalt zum »Fall Wagner« das sehr ernste Gegenstück gegeben habe. Das hindert nicht, daß die Deutschen darin mit spanischer Bosheit behandelt werden – die Schrift (drei Bogen etwa) ist extrem antideutsch. Am Schluß erscheint etwas, wovon selbst Freund Gast keine Ahnung hat: ein Lied (oder wie Sie's nennen wollen) Zarathustras, mit dem Titel »Von der Armut des Reichsten«. – wissen Sie, eine kleine siebente Seligkeit und noch ein Achtel dazu ... Musik ...

– Ich sehe jetzt mitunter nicht ein, wozu ich die tragische Katastrophe meines Lebens, die mit »Ecce« beginnt, zu sehr beschleunigen sollte. Dies Neue wird vielleicht, auf Grund der Neugierde, welche der »Fall Wagner« hervorgerufen hat, stark gelesen werden – und da ich jetzt keinen Satz mehr schreibe, worin ich nicht ganz zum Vorschein käme, so ist zuletzt schon diese Psychologen-Antithese der Weg, um mich zu verstehn – la gran via ...

Avenarius, dem ich mit einem boshaften Briefchen auf die Finger gefühlt habe, hat auf das allerartigste und herzlichste sich entschuldigt, – ich glaube, diese Geschichte habe ich sehr gut gemacht. (Verlangen Sie noch einige Exemplare des Kunstwart!)

– Sehen Sie, lieber Freund! Piemonteser Küche! Ah, meine Trattoria! Ich habe keinen Begriff gehabt, was in der Kunst der Zubereitung die Italiener überlegen sind! – und der Qualität! Nicht umsonst mitten innerhalb der allerberühmtesten Viehzucht! – Und, nach wie vor, obwohl ich esse wie ein Prinz, auch viel, zahle ich für jede Mahlzeit (10 cs. Trinkgeld mit) 1 fr. 25. – Abends sitze ich in einem prachtvollen[1341] hohen Raum: ein kleines sehr anständiges Konzert kommt gerade so gedämpft, als es wünschenswert, zu mir – es sind drei Säle nebeneinander. Man bringt mir meine Zeitung, Journal des Débats, – ich esse eine Portion ausgezeichnetes Eis: kostet, mit Trinkgeld (worauf ich halte, weil es hier nicht Sitte ist) 40 cs. – In der Galleria Subalpina (in die ich hinabsehe, wenn ich aus meinen Zimmer heraustrete), dem schönsten, elegantesten Raum dieser Art, den ich kenne, spielt man jetzt Abend für Abend den Barbiere di Siviglia, und zwar vortrefflich: man zahlt, was man verzehrt, mit einem etwas erhöhten Preise. – Und wie gut sieht die Stadt aus, wenn es trübe ist! Neulich sagte ich mir: einen Ort zu haben, wo man nicht heraus will, nicht einmal in die Landschaft, – wo man sich freut, in den Straßen zu gehn! – Früher hätte ich's für unmöglich gehalten. –

In Freundschaft

Ihr N.


Etwas letztes, nicht Letztes: Alle, die jetzt mit mir zu tun haben, bis zur Hökerin herab, die mir herrliche Trauben aussucht, sind lauter vollkommen geratene Menschen, sehr artig, heiter, ein wenig fett, – selbst die Kellner.

– Eben starb der Prinz von Carignano: wir werden ein großes Begräbnis haben.

– Soeben auch trifft ein herrlicher Brief Taines ein! –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1340-1342.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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