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[353] Es gibt Gegner der Philosophie: und man tut wohl, auf sie zu hören, sonderlich wenn sie den erkrankten Köpfen der Deutschen die Metaphysik widerraten, ihnen aber Reinigung durch die Physis, wie Goethe, oder Heilung durch die Musik, wie Richard Wagner, predigen. Die Ärzte des Volkes verwerfen die Philosophie; wer diese also rechtfertigen will, mag zeigen, wozu die gesunden Völker die Philosophie brauchen und gebraucht haben. Vielleicht gewinnen, falls er dies zeigen kann, selbst die Kranken die ersprießliche Einsicht, warum gerade ihnen dieselbe schädlich sei. Es gibt zwar gute Beispiele einer Gesundheit, die ganz ohne Philosophie oder bei einem ganz mäßigen, fast spielerischen Gebrauche derselben bestehen kann; so lebten die Römer in ihrer besten Zeit ohne Philosophie. Aber wo fände sich das Beispiel der Erkrankung eines Volkes, dem die Philosophie die verlorne Gesundheit wiedergegeben hätte? Wenn sie je helfend, rettend, vorschützend sich äußerte, dann war es bei Gesunden, die Kranken machte sie stets noch kränker. War je ein Volk zerfasert und in schlaffer Spannung mit seinen Einzelnen verbunden, nie hat die Philosophie diese Einzelnen enger an das Ganze zurückgeknüpft. War je einer gewillt, abseits zu stehen und um sich den Zaun der Selbstgenugsamkeit zu ziehen, immer war die Philosophie bereit, ihn noch mehr zu isolieren und durch Isolation zu zerstören. Sie ist gefährlich, wo sie nicht in ihrem vollen Rechte ist: und nur die Gesundheit eines Volkes, aber auch nicht jedes Volkes, gibt ihr dieses Recht.

Schauen wir uns jetzt nach jener höchsten Autorität für das um, was an einem Volke gesund zu heißen hat. Die Griechen, als die wahrhaft Gesunden, haben ein für allemal die Philosophie selbst gerechtfertigt, dadurch, daß sie philosophiert haben; und zwar viel mehr als alle anderen Völker. Sie konnten nicht einmal zur rechten Zeit aufhören; denn noch im dürren Alter gebärdeten sie sich als hitzige Verehrer[353] der Philosophie, ob sie schon unter ihr nur die frommen Spitzfindigkeiten und die hochheiligen Haarspaltereien der christlichen Dogmatik verstanden. Dadurch, daß sie nicht zur rechten Zeit aufhören konnten, haben sie selbst ihr Verdienst um die barbarische Nachwelt sehr verkürzt, weil diese, in der Unbelehrtheit und dem Ungestüm ihrer Jugend, sich gerade in jenen künstlich gewebten Netzen und Stricken verfangen mußte.

Dagegen haben die Griechen es verstanden, zur rechten Zeit anzufangen, und diese Lehre, wann man zu philosophieren anfangen müsse, geben sie so deutlich wie kein anderes Volk. Nicht nämlich erst in der Trübsal: was wohl einige vermeinen, die die Philosophie aus der Verdrießlichkeit ableiten. Sondern im Glück, in einer reifen Mannbarkeit, mitten heraus aus der feurigen Heiterkeit des tapferen und siegreichen Mannesalters. Daß in dieser Zeit die Griechen philosophiert haben, belehrt uns ebenso über das, was die Philosophie ist und was sie soll, als über die Griechen selbst. Wären jene damals solche nüchterne und altkluge Praktiker und Heiterlinge gewesen, wie es sich der gelehrte Philister unserer Tage wohl imaginiert, oder hätten sie nur in einem schwelgerischen Schweben, Klingen, Atmen und Fühlen gelebt, wie es wohl der ungelehrte Phantast gerne annimmt, so wäre die Quelle der Philosophie gar nicht bei ihnen ans Licht gekommen. Höchstens hätte es einen bald im Sande verrieselnden oder zu Nebeln verdunstenden Bach gegeben, nimmermehr aber jenen breiten, mit stolzem Wellenschlage sich ergießenden Strom, den wir als die griechische Philosophie kennen.

Zwar hat man mit Eifer darauf hingezeigt, wie viel die Griechen im orientalischen Auslande finden und lernen konnten und wie mancherlei sie wohl von dort geholt haben. Freilich gab es ein wunderliches Schauspiel, wenn man die angeblichen Lehrer aus dem Orient und die möglichen Schüler aus Griechenland zusammenbrachte und jetzt Zoroaster neben Heraklit, die Inder neben den Eleaten, die Ägypter neben Empedokles, oder gar Anaxagoras unter den Juden und Pythagoras unter den Chinesen zur Schau stellte. Im einzelnen ist wenig ausgemacht worden; aber den ganzen Gedanken ließen wir uns schon gefallen, wenn man uns nur nicht mit der Folgerung beschwert, daß die Philosophie somit in Griechenland nur importiert und nicht[354] aus natürlichem heimischem Boden gewachsen sei, ja daß sie, als etwas Fremdes, die Griechen wohl eher ruiniert als gefördert habe. Nichts ist törichter, als den Griechen eine autochthone Bildung nachzusagen, sie haben vielmehr alle bei anderen Völkern lebende Bildung in sich eingesogen, sie kamen gerade deshalb so weit, weil sie es verstanden, den Speer von dort weiterzuschleudern, wo ihn ein anderes Volk liegenließ. Sie sind bewunderungswürdig in der Kunst, fruchtbar zu lernen: und so, wie sie, sollen wir von unsern Nachbarn lernen, zum Leben, nicht zum gelehrtenhaften Erkennen, alles Erlernte als Stütze benutzend, auf der man sich hoch und höher als der Nachbar schwingt. Die Fragen nach den Anfängen der Philosophie sind ganz gleichgültig, denn überall ist im Anfang das Rohe, Ungeformte, Leere und Häßliche, und in allen Dingen kommen nur die höheren Stufen in Betracht. Wer an Stelle der griechischen Philosophie sich lieber mit ägyptischer und persischer abgibt, weil jene vielleicht »originaler« und jedenfalls älter sind, der verfährt ebenso unbesonnen wie diejenigen, welche sich über die griechische so herrliche und tiefsinnige Mythologie nicht eher beruhigen können, als bis sie dieselbe auf physikalische Trivialitäten, auf Sonne, Blitz, Wetter und Nebel als auf ihre Uranfänge zurückgeführt haben, und welche zum Beispiel in der beschränkten Anbetung des einen Himmelsgewölbes bei den biederen Indogermanen eine reinere Form der Religion wiedergefunden zu haben wähnen, als die polytheistische der Griechen gewesen sei. Der Weg zu den Anfängen führt überall zu der Barbarei; und wer sich mit den Griechen abgibt, soll sich immer vorhalten, daß der ungebändigte Wissenstrieb an sich zu allen Zeiten ebenso barbarisiert als der Wissenshaß und daß die Griechen durch die Rücksicht auf das Leben, durch ein ideales Lebensbedürfnis ihren an sich unersättlichen Wissenstrieb gebändigt haben – weil sie das, was sie lernten, sogleich leben wollten. Die Griechen haben auch als Menschen der Kultur und mit den Zielen der Kultur philosophiert, und deshalb ersparten sie sich, aus irgendeinem autochthonen Dünkel, die Elemente der Philosophie und Wissenschaft noch einmal zu erfinden, sondern gingen sofort darauf los, diese übernommenen Elemente so zu erfüllen, zu steigern, zu erheben und zu reinigen, daß sie jetzt erst in einem höheren Sinne und in einer reineren Sphäre zu Erfindern wurden. Sie[355] erfanden nämlich die typischen Philosophenköpfe, und die ganze Nachwelt hat nichts Wesentliches mehr hinzuerfunden.

Jedes Volk wird beschämt, wenn man auf eine so wunderbar idealisierte Philosophengesellschaft hinweist, wie die der altgriechischen Meister Thales, Anaximander, Heraklit, Parmenides, Anaxagoras, Empedokles, Demokrit und Sokrates. Alle jene Männer sind ganz und aus einem Stein gehauen. Zwischen ihrem Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Notwendigkeit. Es fehlt für sie jede Konvention, weil es damals keinen Philosophen- und Gelehrtenstand gab. Sie alle sind in großartiger Einsamkeit als die einzigen, die damals nur der Erkenntnis lebten. Sie alle besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Späteren übertreffen, ihre eigne Form zu finden und diese bis ins Feinste und Größte durch Metamorphose fortzubilden. Denn keine Mode kam ihnen hilfreich und erleichternd entgegen. So bilden sie zusammen das, was Schopenhauer im Gegensatz zu der Gelehrten-Republik eine Genialen-Republik genannt hat: ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu, und ungestört durch mutwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort.

Von diesem hohen Geistergespräch habe ich mir vorgesetzt zu erzählen, was unsre moderne Harthörigkeit etwa davon hören und verstehen kann: das heißt gewiß das Allerwenigste. Es scheint mir, daß jene alten Weisen von Thales bis Sokrates in ihm alles das, wenn auch in allgemeinster Form, besprochen haben, was für unsre Betrachtung das Eigentümlich-Hellenische ausmacht. Sie prägen in ihrem Gespräche wie schon in ihren Persönlichkeiten die großen Züge des griechischen Genius aus, deren schattenhafter Abdruck, deren verschwommene und deshalb undeutlicher redende Kopie die ganze griechische Geschichte ist. Wenn wir das gesamte Leben des griechischen Volkes richtig deuteten, immer würden wir doch nur das Bild widergespiegelt finden, das in seinen höchsten Genien mit lichteren Farben strahlt. Gleich das erste Erlebnis der Philosophie auf griechischem Boden, die Sanktion der sieben Weisen, ist eine deutliche und unvergeßliche Linie am Bilde des Hellenischen. Andre Völker haben Heilige, die Griechen haben Weise. Man hat mit Recht gesagt, daß ein Volk nicht sowohl durch seine großen Männer charakterisiert[356] werde als durch die Art, wie es dieselben erkenne und ehre. In anderen Zeiten ist der Philosoph ein zufälliger einsamer Wanderer in feindseligster Umgebung, entweder sich durchschleichend oder mit geballten Fäusten sich durchdrängend. Allein bei den Griechen ist der Philosoph nicht zufällig: wenn er im sechsten und fünften Jahrhundert unter den ungeheuren Gefahren und Verführungen der Verweltlichung erscheint und gleichsam aus der Höhle der Trophonios mitten in die Üppigkeit, das Entdeckerglück, den Reichtum und die Sinnlichkeit der griechischen Kolonien hineinschreitet, so ahnen wir, daß er als ein edler Warner kommt zu demselben Zwecke, zu dem in jenem Jahrhundert die Tragödie geboren wurde und den die orphischen Mysterien in den grotesken Hieroglyphen ihrer Gebräuche zu verstehen geben. Das Urteil jener Philosophen über das Leben und das Dasein überhaupt besagt so sehr viel mehr als ein modernes Urteil, weil sie das Leben in einer üppigen Vollendung vor sich hatten und weil bei ihnen nicht, wie bei uns, das Gefühl des Denkers sich verwirrt in dem Zwiespalt des Wunsches nach Freiheit, Schönheit, Größe des Lebens und des Triebes nach Wahrheit, die nur frägt: Was ist das Leben überhaupt wert? Die Aufgabe, die der Philosoph innerhalb einer wirklichen, nach einheitlichem Stile gearteten Kultur zu erfüllen hat, ist aus unsern Zuständen und Erlebnissen deshalb nicht rein zu erraten, weil wir keine solche Kultur haben. Sondern nur eine Kultur, wie die griechische, kann die Frage nach jener Aufgabe des Philosophen beantworten, nur sie kann, wie ich sagte, die Philosophie überhaupt rechtfertigen, weil sie allein weiß und beweisen kann, warum und wie der Philosoph nicht ein zufälliger, beliebiger, bald hier-, bald dorthin versprengter Wanderer ist. Es gibt eine stählerne Notwendigkeit, die den Philosophen an eine wahre Kultur fesselt: aber wie, wenn diese Kultur nicht vorhanden ist? Dann ist der Philosoph ein unberechenbarer und darum Schrecken einflößender Komet, während er im guten Falle als ein Hauptgestirn im Sonnensysteme der Kultur leuchtet. Deshalb rechtfertigen die Griechen den Philosophen, weil er allein bei ihnen kein Komet ist.


2

[357] Nach solchen Betrachtungen wird es ohne Anstoß hingenommen werden, wenn ich von den vorplatonischen Philosophen als von einer zusammengehörigen Gesellschaft rede und ihnen allein diese Schrift zu widmen gedenke. Mit Plato beginnt etwas ganz Neues; oder, wie mit gleichem Rechte gesagt werden kann, seit Plato fehlt den Philosophen etwas Wesentliches im Vergleich mit jener Genialen-Republik von Thales bis Sokrates.

Wer sich mißgünstig über jene älteren Meister ausdrücken will, mag sie die Einseitigen nennen und ihre Epigonen, mit Plato an der Spitze, die Vielseitigen. Richtiger und unbefangener würde es sein, die letzteren als philosophische Mischcharaktere, die ersteren als die reinen Typen zu begreifen. Plato selbst ist der erste großartige Mischcharakter und als solcher sowohl in seiner Philosophie als in seiner Persönlichkeit ausgeprägt. Sokratische, pythagoreische und heraklitische Elemente sind in seiner Ideenlehre vereinigt: sie ist deshalb kein typisch-reines Phänomen. Auch als Mensch vermischt Plato die Züge des königlich abgeschlossenen und allgenugsamen Heraklit, des melancholisch-mitleidsvollen und legislatorischen Pythagoras und des seelenkundigen Dialektikers Sokrates. Alle späteren Philosophen sind solche Mischcharaktere; wo etwas Einseitiges an ihnen hervortritt wie bei den Zynikern, ist es nicht Typus, sondern Karikatur. Viel wichtiger aber ist, daß sie Sektenstifter sind und daß die von ihnen gestifteten Sekten insgesamt Oppositionsanstalten gegen die hellenische Kultur und deren bisherige Einheit des Stils waren. Sie suchen in ihrer Art eine Erlösung, aber nur für die einzelnen oder höchstens für nahestehende Gruppen von Freunden und Jüngern. Die Tätigkeit der älteren Philosophen geht, obschon ihnen unbewußt, auf eine Heilung und Reinigung im großen; der mächtige Lauf der griechischen Kultur soll nicht aufgehalten, furchtbare Gefahren sollen ihr aus dem Wege geräumt werden, der Philosoph schützt und verteidigt seine Heimat. Jetzt, seit Plato, ist er im Exil und konspiriert gegen sein Vaterland.

Es ist ein wahres Unglück, daß wir so wenig von jenen älteren philosophischen Meistern übrig haben und daß uns alles Vollständige[358] entzogen ist. Unwillkürlich messen wir sie, jenes Verlustes wegen, nach falschen Maßen und lassen uns durch die rein zufällige Tatsache, daß es Plato und Aristoteles nie an Schätzern und Abschreibern gefehlt hat, zu ungunsten der Früheren einnehmen. Manche nehmen eine eigne Vorsehung für die Bücher an, ein fatum libellorum: dies müßte aber jedenfalls sehr boshaft sein, wenn es uns Heraklit, das wunderbare Gedicht des Empedokles, die Schriften des Demokrit den die Alten dem Plato gleichstellen und der jenen an Ingenuität noch überragt, zu entziehn für gut fand und uns zum Ersatz Stoiker, Epikureer und Cicero in die Hand drückt. Wahrscheinlich ist uns der großartigste Teil des griechischen Denkens und seines Ausdrucks in Worten verlorengegangen: ein Schicksal, über das sich der nicht wundern wird, der sich der Mißgeschicke des Scotus Eriugena oder des Pascal erinnert und erwägt, daß selbst in diesem hellen Jahrhundert die erste Auflage von Schopenhauers »Welt als Wille und Vorstellung« zu Makulatur gemacht werden mußte. Will jemand für solche Dinge eine eigne fatalistische Macht annehmen, so mag er es tun und mit Goethe sprechen: »Übers Niederträchtige niemand sich beklage; denn es ist das Mächtige, was man dir auch sage.« Es ist insonderheit mächtiger als die Macht der Wahrheit. Die Menschheit bringt so selten ein gutes Buch hervor, in dem mit kühner Freiheit das Schlachtlied der Wahrheit, das Lied des philosophischen Heroismus angestimmt wird: und doch hängt es von den elendesten Zufälligkeiten, von plötzlichen Verfinsterungen der Köpfe, von abergläubischen Zuckungen und Antipathien, zuletzt selbst von schreibefaulen Fingern oder gar von Kerbwürmern und Regenwetter ab, ob es noch ein Jahrhundert länger lebt oder zu Moder und Erde wird. Doch wollen wir nicht klagen, vielmehr uns selbst die Abfertigungs- und Trostworte Hamanns gesagt sein lassen, die er an die Gelehrten richtet, die über verlorne Werke klagen: »Hatte der Künstler, welcher mit einer Linse durch ein Nadelöhr traf, nicht an einem Scheffel Linsen genug zur Übung seiner erworbenen Geschicklichkeit? Diese Frage möchte man an alle Gelehrten tun, welche die Werke der Alten nicht klüger als jener die Linsen zu gebrauchen wissen.« Es wäre in unserem Falle noch hinzuzufügen, daß uns kein Wort, keine Anekdote, keine Jahreszahl mehr überliefert zu sein brauchte, als überliefert ist, ja daß selbst viel weniger[359] uns erhalten sein dürfte, um die allgemeine Lehre festzustellen, daß die Griechen die Philosophie rechtfertigen.

Eine Zeit, die an der sogenannten allgemeinen Bildung leidet, aber keine Kultur und in ihrem Leben keine Einheit des Stils hat, wird mit der Philosophie nichts Rechtes anzufangen wissen, und wenn sie von dem Genius der Wahrheit selbst auf Straßen und Märkten proklamiert würde. Sie bleibt vielmehr, in einer solchen Zeit, gelehrter Monolog des einsamen Spaziergängers, zufälliger Raub des einzelnen, verborgenes Stubengeheimnis oder ungefährliches Geschwätz zwischen akademischen Greisen und Kindern. Niemand darf es wagen, das Gesetz der Philosophie an sich zu erfüllen, niemand lebt philosophisch, mit jener einfachen Mannestreue, die einen Alten zwang, wo er auch war, was er auch trieb, sich als Stoiker zu gebärden, falls er der Stoa einmal Treue zugesagt hatte. Alles moderne Philosophieren ist politisch und polizeilich durch Regierungen, Kirchen, Akademien, Sitten, Moden, Feigheiten der Menschen auf den gelehrten Anschein beschränkt: es bleibt beim Seufzer »wenn doch« oder bei der Erkenntnis »es war einmal«. Die Philosophie ist ohne Recht, deshalb müßte sie der moderne Mensch, wenn er überhaupt nur mutig und gewissenhaft wäre, verwerfen und sie etwa mit ähnlichen Worten verbannen, mit denen Plato die Tragödiendichter aus seinem Staate verwies. Freilich bliebe ihr eine Entgegnung übrig, wie sie auch jenen Tragödiendichtern gegen Plato übrigblieb. Sie könnte etwa, wenn man sie einmal zum Reden zwänge, sagen: »Armseliges Volk! Ist es meine Schuld, wenn ich unter dir wie eine Wahrsagerin im Lande herumstreiche und mich verstecken und verstellen muß, als ob ich die Sünderin wäre und ihr meine Richter? Seht nur meine Schwester, die Kunst! Es geht ihr wie mir, wir sind unter Barbaren verschlagen und wissen nicht mehr uns zu retten. Hier fehlt uns, es ist wahr, jedes gute Recht: aber die Richter, vor denen wir Recht finden, richten auch über euch und werden euch sagen: Habt erst eine Kultur, dann sollt ihr auch erfahren, was die Philosophie will und kann.« –


3

[360] Die griechische Philosophie scheint mit einem ungereimten Einfalle zu beginnen, mit dem Satze: daß das Wasser der Ursprung und der Mutterschoß aller Dinge sei. Ist es wirklich nötig, hierbei stillezustehen und ernst zu werden? Ja, und aus drei Gründen: erstens weil der Satz etwas vom Ursprung der Dinge aussagt; zweitens weil er dies ohne Bild und Fabelei tut; und endlich drittens, weil in ihm, wenngleich nur im Zustande der Verpuppung, der Gedanke enthalten ist »alles ist eins«. Der erstgenannte Grund läßt Thales noch in der Gemeinschaft mit Religiösen und Abergläubischen, der zweite aber nimmt ihn aus dieser Gesellschaft und zeigt uns ihn als Naturforscher, aber vermöge des dritten Grundes gilt Thales als der erste griechische Philosoph. Hätte er gesagt: aus Wasser wird Erde, so hätten wir nur eine wissenschaftliche Hypothese, eine falsche, aber doch schwer widerlegbare. Aber er ging über das Wissenschaftliche hinaus. Thales hat in der Darstellung dieser Einheits-Vorstellung durch die Hypothese vom Wasser den niedrigen Stand der physikalischen Einsichten seiner Zeit nicht überwunden, sondern höchstens übersprungen. Die dürftigen und ungeordneten Beobachtungen empirischer Art, die Thales über das Vorkommen und die Verwandlungen des Wassers oder, genauer, des Feuchten gemacht hatte, hätten am wenigsten eine solche ungeheure Verallgemeinerung erlaubt oder gar angeraten; das, was zu dieser trieb, war ein metaphysischer Glaubenssatz, der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat und dem wir bei allen Philosophien samt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen – der Satz »alles ist eins«.

Es ist merkwürdig, wie gewaltherrisch ein solcher Glaube mit aller Empirie verfährt: gerade an Thales kann man lernen, wie es die Philosophie zu allen Zeiten gemacht hat, wenn sie zu ihrem magisch anziehenden Ziele über die Hecken der Erfahrung hinweg hinüberwollte. Sie springt auf leichten Stützen voraus: die Hoffnung und die Ahnung beflügeln ihren Fuß. Schwerfällig keucht der rechnende Verstand hinterdrein und sucht bessere Stützen, um auch selbst jenes lockende Ziel zu erreichen, an dem der göttlichere Gefährte schon angelangt ist. Man glaubt, zwei Wanderer an einem wilden, Steine mit sich[361] fortwälzenden Waldbach zu sehen: der eine springt leichtfüßig hinüber, die Steine benutzend und sich auf ihnen immer weiter schwingend, ob sie auch jäh hinter ihm in die Tiefe sinken. Der andere steht alle Augenblicke hilflos da, er muß sich erst Fundamente bauen, die seinen schweren, bedächtigen Schritt ertragen, mitunter geht dies nicht, und dann hilft ihm kein Gott über den Bach. Was bringt also das philosophische Denken so schnell an sein Ziel? Unterscheidet es sich von dem rechnenden und abmessenden Denken etwa nur durch das raschere Durchfliegen großer Räume? Nein, denn es hebt seinen Fuß eine fremde, unlogische Macht, die Phantasie. Durch sie gehoben, springt es weiter von Möglichkeit zu Möglichkeit, die einstweilen als Sicherheiten genommen werden: hier und da ergreift es selbst Sicherheiten im Fluge. Ein genialisches Vorgefühl zeigt sie ihm, es errät von ferne, daß an diesem Punkte beweisbare Sicherheiten sind. Besonders aber ist die Kraft der Phantasie mächtig im blitzartigen Erfassen und Beleuchten von Ähnlichkeiten: die Reflexion bringt nachher ihre Maßstäbe und Schablonen heran und sucht die Ähnlichkeiten durch Gleichheiten, das Nebeneinander-Geschaute durch Kausalitäten zu ersetzen. Aber selbst wenn dies nie möglich sein sollte, selbst im Falle des Thales hat das unbeweisbare Philosophieren noch einen Wert; sind auch alle Stützen gebrochen, wenn die Logik und die Starrheit der Empirie hinüber will zu dem Satze »alles ist Wasser«, so bleibt immer noch, nach Zertrümmerung des wissenschaftlichen Baues, ein Rest übrig; und gerade in diesem Reste liegt eine treibende Kraft und gleichsam die Hoffnung zukünftiger Fruchtbarkeit.

Ich meine natürlich nicht, daß der Gedanke in irgendeiner Beschränkung oder Abschwächung oder als Allegorie vielleicht noch eine Art »Wahrheit« behalte: etwa wenn man sich den bildenden Künstler am Wasserfalle stehend denkt und er in den ihm entgegenspringenden Formen ein künstlerisch vorbildendes Spiel des Wassers mit Menschen- und Tierleibern, Masken, Pflanzen, Felsen, Nymphen, Greifen, überhaupt mit allen vorhandenen Typen sieht: so daß für ihn der Satz »alles ist Wasser« bestätigt wäre. Der Gedanke des Thales hat vielmehr gerade darin seinen Wert – auch nach der Erkenntnis, daß er unbeweisbar ist –, daß er jedenfalls unmythisch und unallegorisch gemeint war. Die Griechen, unter denen Thales plötzlich so bemerkbar[362] wurde, waren darin das Gegenstück aller Realisten, als sie eigentlich nur an die Realität von Menschen und Göttern glaubten und die ganze Natur gleichsam nur als Verkleidung, Maskerade und Metamorphose dieser Götter-Menschen betrachteten. Der Mensch war ihnen die Wahrheit und der Kern der Dinge, alles andre nur Erscheinung und täuschendes Spiel. Ebendeshalb machte es ihnen unglaubliche Beschwerde, die Begriffe als Begriffe zu fassen: und umgekehrt wie bei den Neueren auch das Persönlichste sich zu Abstraktionen sublimiert, rann bei ihnen das Abstrakteste immer wieder zu einer Person zusammen. Thales aber sagte: »Nicht der Mensch, sondern das Wasser ist die Realität der Dinge.« Er fängt an, der Natur zu glauben, sofern er doch wenigstens an das Wasser glaubt. Als Mathematiker und Astronom hatte er sich gegen alles Mythische und Allegorische erkältet, und wenn es ihm nicht gelang, bis zu der reinen Abstraktion »alles ist eins« ernüchtert zu werden, und er bei einem physikalischen Ausdruck stehenblieb, so war er doch unter den Griechen seiner Zeit eine befremdliche Seltenheit. Vielleicht besaßen die höchst auffälligen Orphiker die Fähigkeit, Abstraktionen zu fassen und unplastisch zu denken, in einem noch höheren Grade als er: nur daß ihnen der Ausdruck derselben allein in der Form der Allegorie gelang. Auch Pherekydes aus Syros, der Thales in der Zeit und in manchen physikalischen Konzeptionen nahesteht, schwebt mit seinem Ausdrucke derselben in jener Mittelregion, in der der Mythus sich mit der Allegorie gattet: so daß er zum Beispiel wagt, die Erde mit einer geflügelten Eiche zu vergleichen, die mit ausgebreiteten Fittichen in der Luft hängt und der Zeus nach Überwältigung des Kronos ein prachtvolles Ehrengewand umlegt, in das er mit eigner Hand die Länder, Wasser und Flüsse eingestickt hat. Solchem kaum ins Schaubare zu übersetzenden düster-allegorischen Philosophieren gegenüber ist Thales ein schöpferischer Meister, der ohne phantastische Fabelei der Natur in ihre Tiefen zu sehen begann. Wenn er dabei die Wissenschaft und das Beweisbare zwar benutzte, aber bald übersprang, so ist dies ebenfalls ein typisches Merkmal des philosophischen Kopfes. Das griechische Wort, welches den »Weisen« bezeichnet, gehört etymologisch zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende, sisyphos der Mann des schärfsten Geschmacks; ein scharfes Herausschmecken und -erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden[363] macht also, nach dem Bewußtsein des Volkes, die eigentümliche Kunst des Philosophen aus. Er ist nicht klug, wenn man klug den nennt, der in seinen eignen Angelegenheiten das Gute herausfindet; Aristoteles sagt mit Recht: »Das, was Thales und Anaxagoras wissen, wird man ungewöhnlich, erstaunlich, schwierig, göttlich nennen, aber unnütz, weil es ihnen nicht um die menschlichen Güter zu tun war.« Durch dieses Auswählen und Ausscheiden des Ungewöhnlichen, Erstaunlichen, Schwierigen, Göttlichen grenzt sich die Philosophie gegen die Wissenschaft ebenso ab, wie sie durch das Hervorheben des Unnützen sich gegen die Klugheit abgrenzt. Die Wissenschaft stürzt sich ohne solches Auswählen, ohne solchen Feingeschmack auf alles Wißbare, in der blinden Begierde, alles um jeden Preis erkennen zu wollen; das philosophische Denken dagegen ist immer auf der Fährte der wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigsten Erkenntnisse. Nun ist der Begriff der Größe wandelbar sowohl im moralischen als ästhetischen Bereiche: so beginnt die Philosophie mit einer Gesetzgebung der Größe, ein Namengeben ist mit ihr verbunden. »Das ist groß«, sagt sie, und damit erhebt sie den Menschen über das blinde, ungebändigte Begehren seines Erkenntnistriebes. Durch den Begriff der Größe bändigt sie diesen Trieb: und am meisten dadurch, daß sie die größte Erkenntnis, vom Wesen und Kern der Dinge, als erreichbar und als erreicht betrachtet. Wenn Thales sagt: »Alles ist Wasser«, so zuckt der Mensch empor aus dem wurmartigen Betasten und Herumkriechen der einzelnen Wissenschaften, er ahnt die letzte Lösung der Dinge und überwindet durch diese Ahnung die gemeine Befangenheit der niederen Erkenntnisgrade. Der Philosoph sucht den Gesamtklang der Welt in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen: während er beschaulich ist wie der bildende Künstler, mitleidend wie der Religiöse, nach Zwecken und Kausalitäten spähend wie der wissenschaftliche Mensch, während er sich zum Makrokosmos aufschwellen fühlt, behält er dabei die Besonnenheit, sich, als den Widerschein der Welt, kalt zu betrachten, jene Besonnenheit, die der dramatische Künstler besitzt, wenn er sich in andre Leiber verwandelt, aus ihnen redet und doch diese Verwandlung nach außen hin in geschriebenen Versen zu projizieren weiß. Was hier der Vers für den Dichter ist, ist für den Philosophen das dialektische Denken: nach ihm greift er, um[364] sich seine Verzauberung festzuhalten, um sie zu petrifizieren. Und wie für den Dramatiker Wort und Vers nur das Stammeln in einer fremden Sprache sind, um in ihr zu sagen, was er lebte und schaute und was er direkt nur durch die Gebärde und die Musik verkünden kann, so ist der Ausdruck jeder tiefen philosophischen Intuition durch Dialektik und wissenschaftliches Reflektieren zwar einerseits das einzige Mittel, um das Geschaute mitzuteilen, aber ein kümmerliches Mittel, ja im Grunde eine metaphorische, ganz und gar ungetreue Übertragung in eine verschiedene Sphäre und Sprache. So schaute Thales die Einheit des Seienden: und wie er sich mitteilen wollte, redete er vom Wasser!


4

Während der allgemeine Typus des Philosophen an dem Bilde des Thales sich nur wie aus Nebeln heraushebt, spricht schon das Bild seines großen Nachfolgers viel deutlicher zu uns. Anaximander aus Milet, der erste philosophische Schriftsteller der Alten, schreibt so, wie der typische Philosoph eben schreiben wird, solange ihm noch nicht durch befremdende Anforderungen die Unbefangenheit und die Naivität geraubt sind: in großstilisierter Steinschrift, Satz für Satz Zeuge einer neuen Erleuchtung und Ausdruck des Verweilens in erhabenen Kontemplationen. Der Gedanke und seine Form sind Meilensteine auf dem Pfade zu jener höchsten Weisheit. In solcher lapidarischen Eindringlichkeit sagt Anaximander einmal: »Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zugrunde gehen nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden gemäß der Ordnung der Zeit.« Rätselhafter Ausspruch eines wahren Pessimisten, Orakelaufschrift am Grenzsteine griechischer Philosophie, wie werden wir dich deuten?

Der einzige ernstgesinnte Sittenlehrer unseres Säkulums legt uns in den »Parergis« (Band II, Kapitel 12, Nachträge zur Lehre vom Leiden der Welt, Anhang verwandter Stellen) eine ähnliche Betrachtung ans Herz. »Der rechte Maßstab zur Beurteilung eines jeden Menschen ist, daß er eigentlich ein Wesen sei, welches gar nicht existieren sollte, sondern sein Dasein abbüßt durch vielgestaltetes Leiden und Tod – was kann man von einem solchen erwarten? Sind wir denn nicht alle zum[365] Tode verurteilte Sünder? Wir büßen unsere Geburt erstlich durch das Leben und zweitens durch das Sterben ab.« Wer diese Lehre aus der Physiognomie unseres allgemeinen Menschenloses herausliest und die schlechte Grundbeschaffenheit eines jeden Menschenlebens schon darin erkennt, daß keines verträgt, aufmerksam und in nächster Nähe betrachtet zu werden – obschon unsere an die biographische Seuche gewöhnte Zeit anders und stattlicher über die Würde des Menschen zu denken scheint –; wer, wie Schopenhauer, auf den »Höhen der indischen Lüfte« das heilige Wort von dem moralischen Werte des Daseins gehört hat, der wird schwer davon abzuhalten sein, eine höchst anthropomorphische Metapher zu machen und jene schwermütige Lehre aus der Beschränkung auf das Menschenleben herauszuziehen und sie auf den allgemeinen Charakter alles Daseins, durch Übertragung, anzuwenden. Es mag nicht logisch sein, ist aber jedenfalls recht menschlich und überdies recht im Stile des früher geschilderten philosophischen Springens, jetzt mit Anaximander alles Werden wie eine strafwürdige Emanzipation vom ewigen Sein anzusehn, als ein Unrecht, das mit dem Untergange zu büßen ist. Alles, was einmal geworden ist, vergeht auch wieder, ob wir nun dabei an das Menschenleben oder an das Wasser oder an warm und kalt denken: überall, wo bestimmte Eigenschaften wahrzunehmen sind, dürfen wir auf den Untergang dieser Eigenschaften, nach einem ungeheuren Erfahrungs-Beweis, prophezeien. Nie kann also ein Wesen, das bestimmte Eigenschaften besitzt und aus ihnen besteht, Ursprung und Prinzip der Dinge sein; das wahrhaft Seiende, schloß Anaximander, kann keine bestimmten Eigenschaften besitzen, sonst würde es, wie alle andern Dinge, entstanden sein und zugrunde gehn müssen. Damit das Werden nicht aufhört, muß das Urwesen unbestimmt sein. Die Unsterblichkeit und Ewigkeit des Urwesens liegt nicht in einer Unendlichkeit und Unausschöpfbarkeit – wie gemeinhin die Erklärer des Anaximander annehmen –, sondern darin, daß es der bestimmten, zum Untergange führenden Qualitäten bar ist; weshalb es auch seinen Namen, als »das Unbestimmte« trägt. Das so benannte Urwesen ist über das Werden erhaben und verbürgt eben deshalb die Ewigkeit und den ungehemmten Verlauf des Werdens. Diese letzte Einheit in jenem »Unbestimmten«, der Mutterschoß aller Dinge, kann freilich von dem Menschen[366] nur negativ bezeichnet werden, als etwas, dem aus der vorhandenen Welt des Werdens kein Prädikat gegeben werden kann, und dürfte deshalb dem kantischen »Ding an sich« als ebenbürtig gelten.

Wer sich freilich mit anderen darüber herumstreiten kann, was das nun eigentlich für ein Urstoff gewesen sei, ob er etwa ein Mittelding zwischen Luft und Wasser oder vielleicht zwischen Luft und Feuer sei, hat unsern Philosophen gar nicht verstanden: was ebenfalls von jenen zu sagen ist, die sich ernsthaft fragen, ob Anaximander sich seinen Urstoff als Mischung aller vorhandenen Stoffe gedacht habe. Vielmehr dorthin müssen wir den Blick richten, wo wir lernen können, daß Anaximander die Frage nach der Herkunft dieser Welt bereits nicht mehr rein physikalisch behandelte, hin nach jenem zuerst angeführten lapidarischen Satz. Wenn er vielmehr in der Vielheit der entstandenen Dinge eine Summe von abzubüßenden Ungerechtigkeiten schaute, so hat er das Knäuel des tiefsinnigsten ethischen Problems mit kühnem Griffe, als der erste Grieche, erhascht. Wie kann etwas vergehen, was ein Recht hat, zu sein! Woher jenes rastlose Werden und Gebären, woher jener Ausdruck von schmerzhafter Verzerrung auf dem Angesichte der Natur, woher die nie endende Totenklage in allen Reichen des Daseins? Aus dieser Welt des Unrechtes, des frechen Abfalls von der Ur-Einheit der Dinge flüchtet Anaximander in eine metaphysische Burg, aus der hinausgelehnt er jetzt den Blick weit umherrollen läßt, um endlich, nach nachdenklichem Schweigen, an alle Wesen die Frage zu richten: »Was ist euer Dasein wert? Und wenn es nichts wert ist, wozu seid ihr da? Durch eure Schuld, merke ich, weilt ihr in dieser Existenz. Mit dem Tode werdet ihr sie büßen müssen. Seht hin, wie eure Erde welkt; die Meere nehmen ab und trocknen aus, die Seemuschel auf dem Gebirge zeigt euch, wie weit sie schon vertrocknet sind; das Feuer zerstört eure Welt bereits jetzt, endlich wird sie in Dunst und Rauch aufgehn. Aber immer von neuem wieder wird eine solche Welt der Vergänglichkeit sich bauen: wer vermöchte euch vom Fluche des Werdens zu erlösen?«

Einem Manne, der solche Fragen stellt, dessen aufschwebendes Denken fortwährend die empirischen Stricke zerriß, um sofort den höchsten superlunarischen Aufschwung zu nehmen, mag nicht jede Art des Lebens willkommen gewesen sein. Wir glauben es gerne der Überlieferung,[367] daß er in besonders ehrwürdiger Kleidung einherging und einen wahrhaft tragischen Stolz in seinen Gebärden und Lebensgewohnheiten zeigte. Er lebte, wie er schrieb; er sprach so feierlich wie er sich kleidete; er erhob die Hand und setzte den Fuß, als ob dieses Dasein eine Tragödie sei, in der er, als Held, mitzuspielen geboren sei. In alledem war er das große Vorbild des Empedokles. Seine Mitbürger erwählten ihn, eine auswandernde Kolonie anzuführen – vielleicht freuten sie sich, ihn zugleich ehren und loswerden zu können. Auch sein Gedanke zog aus und gründete Kolonien: in Ephesus und in Elea wurde man ihn nicht los, und wenn man sich nicht entschließen konnte, an der Stelle zu bleiben, wo er stand, so wußte man doch, daß man dorthin von ihm geführt worden sei, von wo man jetzt, ohne ihn, weiterzuschreiten sich anschickte.

Thales zeigt das Bedürfnis, das Reich der Vielheit zu simplifizieren und zu einer bloßen Entfaltung oder Verkleidung der einen allein vorhandenen Qualität, des Wassers, herabzusetzen. Über ihn geht Anaximander mit zwei Schritten hinaus. Er fragt sich einmal: »Wie ist doch, wenn es überhaupt eine ewige Einheit gibt, jene Vielheit möglich?« und entnimmt die Antwort aus dem widerspruchsvollen, sich selbst aufzehrenden und verneinenden Charakter dieser Vielheit. Die Existenz derselben wird ihm zu einem moralischen Phänomen, sie ist nicht gerechtfertigt, sondern büßt sich fortwährend durch den Untergang ab. Aber dann fällt ihm die Frage ein: »Warum ist denn nicht schon längst alles Gewordne zugrunde gegangen, da doch bereits eine ganze Ewigkeit von Zeit vorüber ist? Woher der immer erneute Strom des Werdens?« Er weiß sich nur durch mystische Möglichkeiten vor dieser Frage zu retten: das ewige Werden kann seinen Ursprung nur im ewigen Sein haben, die Bedingungen zu dem Abfall von jenem Sein zu einem Werden in Ungerechtigkeit sind immer die gleichen, die Konstellation der Dinge ist nun einmal so beschaffen, daß kein Ende für jenes Heraustreten des Einzelwesens aus dem Schoß des »Unbestimmten« abzusehen ist. Hierbei blieb Anaximander: das heißt er blieb in den tiefen Schatten, die wie riesenhafte Gespenster auf dem Gebirge einer solchen Weltbetrachtung lagen. Je mehr man dem Problem sich nahen wollte, wie überhaupt aus dem Unbestimmten je das Bestimmte, aus dem Ewigen das Zeitliche, aus dem Gerechten die Ungerechtigkeit[368] durch Abfall entstehen könne, um so größer wurde die Nacht.


5

Mitten auf diese mystische Nacht, in die Anaximanders Problem vom Werden gehüllt war, trat Heraklit aus Ephesus zu und erleuchtete sie durch einen göttlichen Blitzschlag. »Das Werden schaue ich an«, ruft er, »und niemand hat so aufmerksam diesem ewigen Wellenschlag und Rhythmus der Dinge zugesehen. Und was schaute ich? Gesetzmäßigkeiten, unfehlbare Sicherheiten, immer gleiche Bahnen des Rechtes, hinter allen Überschreitungen der Gesetze richtende Erinnyen, die ganze Welt das Schauspiel einer waltenden Gerechtigkeit und dämonisch allgegenwärtiger, ihrem Dienste untergebener Naturkräfte. Nicht die Bestrafung des Gewordenen schaute ich, sondern die Rechtfertigung des Werdens. Wann hat sich der Frevel, der Abfall in unverbrüchlichen Formen, in heilig geachteten Gesetzen offenbart? Wo die Ungerechtigkeit waltet, da ist Willkür, Unordnung, Regellosigkeit, Widerspruch; wo aber das Gesetz und die Tochter des Zeus, die Dike, allein regiert, wie in dieser Welt, wie sollte da die Sphäre der Schuld, der Buße, der Verurteilung und gleichsam die Richtstätte aller Verdammten sein?«

Aus dieser Intuition entnahm Heraklit zwei zusammenhängende Verneinungen, die erst durch die Vergleichung mit den Lehrsätzen seines Vorgängers in das helle Licht gerückt werden. Einmal leugnete er die Zweiheit ganz diverser Welten, zu deren Annahme Anaximander gedrängt worden war; er schied nicht mehr eine physische Welt von einer metaphysischen, ein Reich der bestimmten Qualitäten von einem Reich der undefinierbaren Unbestimmtheit ab. Jetzt, nach diesem ersten Schritte, konnte er auch nicht mehr von einer weit größeren Kühnheit des Verneinens zurückgehalten werden: er leugnete überhaupt das Sein. Denn diese eine Welt, die er übrigbehielt – umschirmt von ewigen ungeschriebenen Gesetzen, auf- und niederflutend im ehernen Schlage des Rhythmus –, zeigt nirgends ein Verharren, eine Unzerstörbarkeit, ein Bollwerk im Strome. Lauter als Anaximander rief Heraklit es aus: »Ich sehe nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In eurem kurzen Blick liegt es, nicht im Wesen der Dinge,[369] wenn ihr irgendwo festes Land im Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht Namen der Dinge, als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Male steigt, ist nicht derselbe als bei dem ersten Male.«

Heraklit hat als sein königliches Besitztum die höchste Kraft der intuitiven Vorstellung; während er gegen die andre Vorstellungsart, die in Begriffen und logischen Kombinationen vollzogen wird, also gegen die Vernunft, sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt und ein Vergnügen zu empfinden scheint, wenn er ihr mit einer intuitiv gewonnenen Wahrheit widersprechen kann: und dies tut er in Sätzen wie »alles hat jederzeit das Entgegengesetzte an sich« so ungescheut, daß Aristoteles ihn des höchsten Verbrechens vor dem Tribunal der Vernunft zeiht, gegen den Satz vom Widerspruch gesündigt zu haben. Die intuitive Vorstellung aber umfaßt zweierlei: einmal die gegenwärtige, in allen Erfahrungen an uns heran sich drängende bunte und wechselnde Welt, sodann die Bedingungen, durch die jede Erfahrung von dieser Welt erst möglich wird, Zeit und Raum. Denn diese können, wenn sie auch ohne bestimmten Inhalt sind, unabhängig von jeder Erfahrung und rein an sich intuitiv perzipiert, also angeschaut werden. Wenn nun Heraklit in dieser Weise die Zeit, losgelöst von allen Erfahrungen, betrachtet, so hatte er an ihr das belehrendste Monogramm alles dessen, was überhaupt unter das Bereich der intuitiven Vorstellung fällt. So wie er die Zeit erkannte, erkannte sie zum Beispiel auch Schopenhauer, als welcher von ihr wiederholt aussagt: daß in ihr jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen Vater, vertilgt hat, um selbst ebenso schnell wieder vertilgt zu werden; daß Vergangenheit und Zukunft so nichtig als irgendein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Grenze zwischen beiden sei; daß aber, wie die Zeit, so der Raum, und wie dieser, so auch alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, nur ein relatives Dasein hat, nur durch und für ein Anderes, ihm Gleichartiges, d. h. wieder nur ebenso Bestehendes, sei. Dies ist eine Wahrheit von der höchsten unmittelbaren, jedermann zugänglichen Anschaulichkeit und eben darum begrifflich und vernünftig sehr schwer zu erreichen. Wer sie vor Augen hat, muß aber auch sofort zu der heraklitischen Konsequenz weitergehen und sagen, daß das ganze Wesen der Wirklichkeit eben nur[370] Wirken ist und daß es für sie keine andere Art Sein gibt; wie dies ebenfalls Schopenhauer dargestellt hat (Welt als Wille und Vorstellung, Band 1, erstes Buch, § 4): »Nur als wirkend füllt sie den Raum, füllt sie die Zeit: ihre Einwirkung auf das unmittelbare Objekt bedingt die Anschauung, in der sie allein existiert: die Folge der Einwirkung jedes andern materiellen Objekts auf ein anderes wird nur erkannt, sofern das letztere jetzt anders als zuvor auf das unmittelbare Objekt einwirkt, besteht nur darin. Ursache und Wirkung ist also das ganze Wesen der Materie: ihr Sein ist ihr Wirken. Höchst treffend ist deshalb im Deutschen der Inbegriff alles Materiellen Wirklichkeit genannt, welches Wort viel bezeichnender ist als Realität. Das, worauf sie wirkt, ist allemal wieder Materie: ihr ganzes Sein und Wesen besteht also nur in der gesetzmäßigen Veränderung, die ein Teil derselben im anderen hervorbringt, ist folglich gänzlich relativ, nach einer nur innerhalb ihrer Grenzen geltenden Relation, also eben wie die Zeit, eben wie der Raum.«

Das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, wie dies Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem Einflusse am nächsten der Empfindung verwandt, mit der jemand bei einem Erdbeben das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert. Es gehörte eine erstaunliche Kraft dazu, diese Wirkung in das Entgegengesetzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen zu übertragen. Dies erreichte Heraklit durch eine Beobachtung über den eigentlichen Hergang jedes Werdens und Vergehens, welchen er unter der Form der Polarität begriff, als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Tätigkeiten. Fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und scheidet sich in ihre Gegensätze: fortwährend streben diese Gegensätze wieder zueinander hin. Das Volk meint zwar, etwas Starres, Fertiges, Beharrendes zu erkennen; in Wahrheit ist in jedem Augenblick Licht und Dunkel, Bitter und Süß beieinander und aneinandergeheftet wie zwei Ringende, von denen bald der eine, bald der andre die Obmacht bekommt. Der Honig ist, nach Heraklit, zugleich bitter und süß, und die Welt selbst ist ein Mischkrug, der beständig umgerührt werden muß. Aus dem Krieg des Entgegengesetzten[371] entsteht alles Werden: die bestimmten als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort. Alles geschieht gemäß diesem Streite, und gerade dieser Streit offenbart die ewige Gerechtigkeit. Es ist eine wundervolle, aus dem reinsten Borne des Hellenischen geschöpfte Vorstellung, welche den Streit als das fortwährende Walten einer einheitlichen, strengen, an ewige Gesetze gebundenen Gerechtigkeit betrachtet. Nur ein Grieche war imstande, diese Vorstellung als Fundament einer Kosmodizee zu finden; es ist die gute Eris Hesiods zum Weltprinzip verklärt, es ist der Wettkampfgedanke der einzelnen Griechen und des griechischen Staates, aus den Gymnasien und Palästren, aus den künstlerischen Agonen, aus dem Ringen der politischen Parteien und der Städte miteinander ins Allgemeinste übertragen, so daß jetzt das Räderwerk des Kosmos in ihm sich dreht. Wie jeder Grieche kämpft, als ob er allein im Recht sei, und ein unendlich sicheres Maß des richterlichen Urteils in jedem Augenblick bestimmt, wohin der Sieg sich neigt, so ringen die Qualitäten miteinander nach unverbrüchlichen, dem Kampfe immanenten Gesetzen und Maßen. Die Dinge selbst, an deren Feststehen und Standhalten der enge Menschen- und Tierkopf glaubt, haben gar keine eigentliche Existenz, sie sind das Erblitzen und der Funkenschlag gezückter Schwerter, sie sind das Aufglänzen des Siegs im Kampfe der entgegengesetzten Qualitäten.

Jenen Kampf, der allem Werden eigentümlich ist, jenen ewigen Wechsel des Sieges schildert wiederum Schopenhauer (Welt als Wille und Vorstellung, Band 1, zweites Buch, § 27): »Beständig muß die beharrende Materie die Form wechseln, indem, am Leitfaden der Kausalität, mechanische, physische, chemische, organische Erscheinungen, sich gierig zum Hervortreten drängend, einander die Materie entreißen, da jede ihre Idee offenbaren will. Durch die gesamte Natur läßt sich dieser Streit verfolgen, ja, sie besteht eben wieder nur durch ihn.« Die folgenden Seiten geben die merkwürdigsten Illustrationen dieses Streites: nur daß der Grundton dieser Schilderungen immer ein andrer bleibt als bei Heraklit, sofern der Kampf für Schopenhauer ein Beweis von der Selbst-Entzweiung des Willens zum Leben, ein An-sich-selber-Zehren dieses finstren dumpfen Triebes ist, als ein durchweg[372] entsetzliches, keineswegs beglückendes Phänomen. Der Tummelplatz und der Gegenstand dieses Kampfes ist die Materie, welche die Naturkräfte wechselseitig einander zu entreißen suchen, wie auch Raum und Zeit, deren Vereinigung durch die Kausalität eben die Materie ist.


6

Während die Imagination Heraklits das rastlos bewegte Weltall, die »Wirklichkeit«, mit dem Auge des beglückten Zuschauers maß, der zahllose Paare im freudigen Kampfspiele unter der Obhut strenger Kampfrichter ringen sieht, überkam ihn eine noch höhere Ahnung; er konnte die ringenden Paare und die Richter nicht mehr getrennt voneinander betrachten, die Richter selbst schienen zu kämpfen, die Kämpfer selbst schienen sich zu richten – ja, da er im Grunde nur die ewig waltende eine Gerechtigkeit wahrnahm, so wagte er auszurufen: »Der Streit des Vielen selbst ist die reine Gerechtigkeit! Und überhaupt: das Eine ist das Viele. Denn was sind alle jene Qualitäten dem Wesen nach? Sind sie unsterbliche Götter? Sind sie getrennte, von Anfang und ohne Ende für sich wirkende Wesen? Und wenn die Welt, die wir sehen, nur Werden und Vergehn, aber kein Beharren kennt, sollten vielleicht gar jene Qualitäten eine andersgeartete metaphysische Welt konstituieren, zwar keine Welt der Einheit, wie sie Anaximander hinter dem flatternden Schleier der Vielheit suchte, aber eine Welt ewiger und wesenhafter Vielheiten?« – Ist Heraklit auf einem Umwege vielleicht doch wieder in die doppelte Weltordnung, so heftig er sie verneinte, hineingeraten mit einem Olymp zahlreicher unsterblicher Götter und Dämonen – nämlich vieler Realitäten – und mit einer Menschenwelt, die nur das Staubgewölk des olympischen Kampfes und das Aufglänzen göttlicher Speere – das heißt nur ein Werden – sieht? Anaximander hatte sich gerade vor den bestimmten Qualitäten in den Schoß des metaphysischen »Unbestimmten« geflüchtet; weil diese wurden und vergingen, hatte er ihnen das wahre und kernhafte Dasein abgesprochen; sollte es jetzt aber nicht scheinen, als ob das Werden nur das Sichtbarwerden eines Kampfes ewiger Qualitäten ist? Sollte es nicht auf die eigentümliche Schwäche der menschlichen Erkenntnis zurückgehn, wenn wir vom Werden reden[373] – während es im Wesen der Dinge vielleicht gar kein Werden gibt, sondern nur ein Nebeneinander vieler wahrer ungewordner unzerstörbarer Realitäten?

Dies sind unheraklitische Auswege und Irrpfade: er ruft noch einmal: »Das Eine ist das Viele.« Die vielen wahrnehmbaren Qualitäten sind weder ewige Wesenheiten noch Phantasmata unsrer Sinne (als jene denkt sie sich später Anaxagoras, als diese Parmenides), sie sind weder starres, selbstherrliches Sein noch flüchtiger in Menschenköpfen wandelnder Schein. Die dritte, für Heraklit allein zurückbleibende Möglichkeit wird niemand mit dialektischem Spürsinn und gleichsam rechnend erraten können: denn was er hier er fand, ist eine Seltenheit selbst im Bereiche mystischer Unglaublichkeiten und unerwarteter kosmischer Metaphern. – Die Welt ist das Spiel des Zeus oder, physikalischer ausgedrückt, des Feuers mit sich selbst, das Eine ist nur in diesem Sinne zugleich das Viele. –

Um zunächst die Einführung des Feuers als einer weltbildenden Kraft zu erläutern, erinnere ich daran, in welcher Weise Anaximander die Theorie vom Wasser als dem Ursprung der Dinge weitergebildet hatte. Im wesentlichen darin Thales Vertrauen schenkend und seine Beobachtungen stärkend und vermehrend, war Anaximander doch nicht zu überzeugen, daß es vor dem Wasser und gleichsam hinter dem Wasser keine weitere Qualitätsstufe gäbe: sondern aus Warm und Kalt schien ihm das Feuchte selbst sich zu bilden, und Warm und Kalt sollten daher die Vorstufen des Wassers, die noch ursprünglicheren Qualitäten sein. Mit ihrer Ausscheidung aus dem Ursein des »Unbestimmten« beginnt das Werden. Heraklit, der als Physiker sich der Bedeutung Anaximanders unterordnete, deutet sich dieses anaximandrische Warme um als den Hauch, den warmen Atem, die trocknen Dünste, kurz als das Feurige: von diesem Feuer sagt er nun dasselbe aus, was Thales und Anaximander vom Wasser ausgesagt hatten, es durchlaufe in zahllosen Verwandlungen die Bahn des Werdens, vor allem in den drei Hauptzuständen, als Warmes, Feuchtes, Festes. Denn das Wasser geht teils im Niedersteigen zur Erde, im Aufsteigen zum Feuer über: oder wie sich Heraklit genauer ausgedrückt zu haben scheint: aus dem Meere steigen nur die reinen Dünste auf, welche dem himmlischen Feuer der Gestirne zur Nahrung dienen, aus der Erde[374] nur die dunklen, nebeligen, aus denen das Feuchte seine Nahrung zieht. Die reinen Dünste sind der Übergang des Meeres zum Feuer die unreinen der Übergang der Erde zum Wasser. So laufen fortwährend die beiden Verwandlungsbahnen des Feuers, aufwärts und abwärts, hin und zurück, nebeneinander her, vom Feuer zum Wasser von da zur Erde, von der Erde wieder zurück zum Wasser, vom Wasser zum Feuer. Während Heraklit in den wichtigsten dieser Vorstellungen, zum Beispiel darin, daß das Feuer durch die Ausdünstungen unterhalten wird, oder darin, daß aus dem Wasser teils Erde, teils Feuer sich absondert, Anhänger des Anaximander ist, so ist er darin selbständig und im Widerspruch mit jenem, daß er das Kalte aus dem physikalischen Prozeß ausschließt, während Anaximander es als gleichberechtigt neben das Warme gestellt hatte, um aus beiden das Feuchte entstehen zu lassen. Dies zu tun war freilich für Heraklit eine Notwendigkeit: denn wenn alles Feuer sein soll, so kann, bei allen Möglichkeiten seiner Umwandlung, es doch nichts geben, was sein absoluter Gegensatz wäre; er wird also das, was man das Kalte nennt, nur als Grad des Warmen gedeutet haben und konnte diese Deutung ohne Schwierigkeiten rechtfertigen. Viel wichtiger aber als diese Abweichung von der Lehre Anaximanders ist eine weitere Übereinstimmung: er glaubt wie jener an einen periodisch sich wiederholenden Weltuntergang und an ein immer erneutes Hervorsteigen einer andern Welt aus dem alles vernichtenden Weltbrande. Die Periode, in der die Welt jenem Weltbrande und der Auflösung in das reine Feuer entgegeneilt, wird von ihm in höchst auffallender Weise als ein Begehren und Bedürfen charakterisiert, das volle Verschlungensein im Feuer als die Sattheit; und es bleibt uns die Frage übrig, wie er den neuen erwachenden Trieb der Weltbildung, das Sich-Ausgießen in die Formen der Vielheit, verstanden und benannt hat. Das griechische Sprichwort scheint uns mit dem Gedanken zu Hilfe zu kommen, daß »Sattheit den Frevel (die Hybris) gebiert«; und in der Tat kann man sich einen Augenblick fragen, ob Heraklit vielleicht jene Rückkehr zur Vielheit aus der Hybris hergeleitet hat. Man nehme diesen Gedanken einmal ernst: in seiner Beleuchtung verwandelt sich vor unseren Blicken das Gesicht Heraklits, das stolze Leuchten seiner Augen erlischt, ein faltiger Zug schmerzlicher Entsagung, der Ohnmacht prägt sich aus, es[375] scheint, daß wir wissen, warum das spätere Altertum ihn den »weinenden Philosophen« nannte. Ist jetzt nicht der ganze Weltprozeß ein Bestrafungsakt der Hybris? Die Vielheit das Resultat eines Frevels? Die Verwandlung des Reinen in das Unreine Folge der Ungerechtigkeit? Wird jetzt nicht die Schuld in den Kern der Dinge verlegt und somit zwar die Welt des Werdens und der Individuen von ihr entlastet, aber zugleich ihre Folgen zu tragen immer von neuem wieder verurteilt?


7

Jenes gefährliche Wort, Hybris, ist in der Tat der Prüfstein für jeden Herakliteer; hier mag er zeigen, ob er seinen Meister verstanden oder verkannt hat. Gibt es Schuld, Ungerechtigkeit, Widerspruch, Leid in dieser Welt?

Ja, ruft Heraklit, aber nur für den beschränkten Menschen, der auseinander und nicht zusammenschaut, nicht für den kontuitiven Gott; für ihn läuft alles Widerstrebende in eine Harmonie zusammen, unsichtbar zwar für das gewöhnliche Menschenauge, doch dem verständlich, der, wie Heraklit, dem beschaulichen Gotte ähnlich ist. Vor seinem Feuerblick bleibt kein Tropfen von Ungerechtigkeit in der um ihn ausgegoßnen Welt zurück; und selbst jener kardinale Anstoß, wie das reine Feuer in so unreine Formen einziehen könne, wird von ihm durch ein erhabnes Gleichnis überwunden. Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören ohne jede moralische Zurechnung in ewig gleicher Unschuld hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Äon mit sich. Sich verwandelnd in Wasser und Erde, türmt er wie ein Kind Sandhaufen am Meere, türmt auf und zertrümmert: von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von neuem an. Ein Augenblick der Sättigung: dann ergreift ihn von neuem das Bedürfnis, wie den Künstler zum Schaffen das Bedürfnis zwingt. Nicht Frevelmut, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre Welten ins Leben. Das Kind wirft einmal das Spielzeug weg: bald aber fängt es wieder an in unschuldiger Laune. Sobald es aber baut, knüpft, fügt und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen.[376]

So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Notwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen.

Wer wird nun von einer solchen Philosophie noch eine Ethik mit den nötigen Imperativen »Du sollst« verlangen oder gar einen solchen Mangel dem Heraklit zum Vorwurf machen! Der Mensch ist bis in seine letzte Faser hinein Notwendigkeit und ganz und gar »unfrei« – wenn man unter Freiheit den närrischen Anspruch, seine essentia nach Willkür wie ein Kleid wechseln zu können, versteht, einen Anspruch, den jede ernste Philosophie bisher mit dem gebührenden Hohne zurückgewiesen hat. Daß so wenig Menschen mit Bewußtsein in dem Logos und in Gemäßheit des alles überschauenden Künstlerauges leben, das rührt daher, daß ihre Seelen naß sind und daß der Menschen Augen und Ohren, überhaupt ihr Intellekt ein schlechter Zeuge ist, wenn »feuchter Schlamm ihre Seelen einnimmt«. Warum das so ist, wird nicht gefragt, ebensowenig, warum Feuer zu Wasser und Erde wird. Heraklit hat ja keinen Grund, nachweisen zu müssen (wie ihn Leibniz hatte), daß diese Welt sogar die allerbeste sei, es genügt ihm, daß sie das schöne unschuldige Spiel des Äon ist. Der Mensch gilt ihm sogar im allgemeinen als ein unvernünftiges Wesen: womit nicht streitet, daß sich in allem seinem Wesen das Gesetz der allwaltenden Vernunft erfüllt. Er nimmt gar nicht eine besonders bevorzugte Stellung in der Natur ein, deren höchste Erscheinung das Feuer, zum Beispiel als Gestirn, ist, aber nicht der einfältige Mensch. Hat dieser am Feuer einen Anteil durch die Notwendigkeit erhalten, so ist er etwas vernünftiger; soweit er aus Wasser und Erde besteht, steht es schlimm mit seiner Vernunft. Eine Verpflichtung, daß er den Logos erkennen müsse, weil er Mensch sei, existiert nicht. Warum gibt es aber Wasser, warum gibt es Erde? Dies ist für Heraklit ein viel ernsteres Problem, als zu fragen, warum die Menschen so dumm und schlecht seien. In dem höchsten und in dem verkehrtesten Menschen offenbart sich die gleiche immanente Gesetzmäßigkeit und Gerechtigkeit. Wenn man aber Heraklit die Frage vorrücken wollte: warum ist das Feuer nicht[377] immer Feuer, warum ist es jetzt Wasser, jetzt Erde?, so würde er eben nur antworten: »Es ist ein Spiel, nehmt's nicht zu pathetisch und vor allem nicht moralisch!« Heraklit beschreibt nur die vorhandne Welt und hat an ihr das beschauliche Wohlgefallen, mit dem der Künstler auf sein werdendes Werk schaut. Düster, schwermütig, tränenreich, finster, schwarzgallig, pessimistisch und überhaupt hassenswürdig finden ihn nur die, welche mit seiner Naturbeschreibung des Menschen nicht zufrieden zu sein Ursache haben. Diese aber würde er samt ihren Antipathien und Sympathien, ihrem Haß und ihrer Liebe für gleichgültig halten und ihnen etwa mit solchen Belehrungen dienen: »Die Hunde bellen jeden an, den sie nicht kennen«, oder: »Dem Esel ist Spreu lieber als Gold.«

Von solchen Unzufriednen rühren auch die zahlreichen Klagen über die Dunkelheit des heraklitischen Stils her: wahrscheinlich hat nie ein Mensch heller und leuchtender geschrieben. Freilich sehr kurz, und deshalb allerdings für die lesenden Schnelläufer dunkel. Wie aber ein Philosoph undeutlich, mit Absicht, schreiben sollte – was man Heraklit nachzusagen pflegt –, ist völlig unerklärlich: falls er nicht Grund hat, Gedanken zu verbergen, oder Schelm genug ist, seine Gedankenlosigkeit unter Worten zu verstecken. Muß man doch sogar, wie Schopenhauer sagt, in Angelegenheiten des gewöhnlichen praktischen Lebens sorgfältig, durch Deutlichkeit, möglichen Mißverständnissen vorbeugen; wie denn sollte man im schwierigsten, abstrusesten, kaum erreichbaren Gegenstande des Denkens, den Aufgaben der Philosophie, sich unbestimmt, ja rätselhaft ausdrücken dürfen? Was aber die Kürze anbetrifft, so gibt Jean Paul eine gute Lehre. »Im ganzen ist es recht, wenn alles Große – von vielem Sinn für einen seltnen Sinn – nur kurz und (daher) dunkel ausgesprochen wird, damit der kahle Geist es lieber für Unsinn erkläre, als in seinen Leersinn übersetze. Denn die gemeinen Geister haben eine häßliche Geschicklichkeit, im tiefsten und reichsten Spruch nichts zu sehen als ihre eigne alltägliche Meinung.« Übrigens und trotzdem ist Heraklit den »kahlen Geistern« nicht entgangen; bereits die Stoiker haben ihn ins Flache umgedeutet und seine ästhetische Grundperzeption vom Spiel der Welt zu der gemeinen Rücksicht auf Zweckmäßigkeiten der Welt, und zwar für die Vorteile der Menschen, herabgezogen: so daß aus seiner[378] Physik, in jenen Köpfen, ein kruder Optimismus mit der fortwährenden Aufforderung an Hinz und Kunz zum plaudite amici geworden ist.


8

Heraklit war stolz: und wenn es bei einem Philosophen zum Stolz kommt, dann gibt es einen großen Stolz. Sein Wirken weist ihn nie auf ein »Publikum«, auf den Beifall der Massen und den zujauchzenden Chorus der Zeitgenossen hin. Einsam die Straße zu ziehn gehört zum Wesen des Philosophen. Seine Begabung ist die seltenste, in einem gewissen Sinne unnatürlichste, dabei selbst gegen die gleichartigen Begabungen ausschließend und feindselig. Die Mauer seiner Selbstgenugsamkeit muß von Diamant sein, wenn sie nicht zerstört und zerbrochen werden soll, denn alles ist gegen ihn in Bewegung. Seine Reise zur Unsterblichkeit ist beschwerlicher und behinderter als jede andre; und doch kann niemand sicherer glauben als gerade der Philosoph, auf ihr zum Ziele zu kommen – weil er gar nicht weiß, wo er stehen soll, wenn nicht auf den weitausgebreiteten Fittichen aller Zeiten; denn die Nichtachtung des Gegenwärtigen und Augenblicklichen liegt im Wesen der großen philosophischen Natur. Er hat die Wahrheit: mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es der Wahrheit entfliehn können. Es ist wichtig, von solchen Menschen zu erfahren, daß sie einmal gelebt haben. Nie würde man sich zum Beispiel den Stolz des Heraklit als eine müßige Möglichkeit imaginieren können. An sich scheint jedes Streben nach Erkenntnis, seinem Wesen nach, ewig unbefriedigt und unbefriedigend. Deshalb wird niemand, wenn er nicht durch die Historie belehrt ist, an eine so königliche Selbstachtung und Überzeugtheit, der einzige beglückte Freier der Wahrheit zu sein, glauben mögen. Solche Menschen leben in ihrem eignen Sonnensystem; darin muß man sie aufsuchen. Auch ein Pythagoras, ein Empedokles behandelten sich selbst mit einer übermenschlichen Schätzung, ja mit fast religiöser Scheu; aber das Band des Mitleidens, an die große Überzeugung von der Seelenwanderung und der Einheit alles Lebendigen geknüpft, führte sie wieder zu den anderen Menschen, zu deren Heil und Errettung hin. Von dem Gefühl der Einsamkeit aber, das den ephesischen Einsiedler des Artemis-Tempels[379] durchdrang, kann man nur in der wildesten Gebirgsöde erstarrend etwas ahnen. Kein übermächtiges Gefühl mitleidiger Erregungen, kein Begehren, helfen, heilen und retten zu wollen, strömt von ihm aus. Er ist ein Gestirn ohne Atmosphäre. Sein Auge, lodernd nach innen gerichtet, blickt erstorben und eisig, wie zum Scheine nur, nach außen. Rings um ihn, unmittelbar an die Feste seines Stolzes, schlagen die Wellen des Wahns und der Verkehrtheit: mit Ekel wendet er sich davon ab. Aber auch die Menschen mitfühlender Brust weichen einer solchen wie aus Erz gegoßnen Larve aus; in einem abgelegnen Heiligtum, unter Götterbildern, neben kalter, ruhig-erhabener Architektur mag so ein Wesen begreiflicher erscheinen. Unter Menschen war Heraklit als Mensch unglaublich; und wenn er wohl gesehen wurde, wie er auf das Spiel lärmender Kinder achtgab, so hat er jedenfalls dabei bedacht, was nie ein Mensch bei solcher Gelegenheit bedacht hat: das Spiel des großen Weltenkindes Zeus. Er brauchte die Menschen nicht, auch nicht für seine Erkenntnisse; an allem, was man etwa von ihnen erfragen konnte und was die anderen Weisen vor ihm zu erfragen bemüht gewesen waren, lag ihm nicht. Er sprach mit Geringschätzung von solchen fragenden, sammelnden, kurz »historischen« Menschen. »Mich selbst suchte und erforschte ich«, sagte er von sich, mit einem Worte, durch das man das Erforschen eines Orakels bezeichnet: als ob er der wahre Erfüller und Vollender der delphischen Satzung »erkenne dich selbst« sei und niemand sonst.

Was er aber aus diesem Orakel heraushörte, das hielt er für unsterbliche und ewig deutenswerte Weisheit, von unbegrenzter Wirkung in die Ferne nach dem Vorbild der prophetischen Reden der Sibylle. Es ist genug für die späteste Menschheit: mag sie es nur wie Orakelsprüche sich deuten lassen, was er wie der delphische Gott »weder aussagt noch verbirgt«. Ob es gleich von ihm »ohne Lächeln, Putz und Salbenduft«, vielmehr wie mit »schäumendem Munde« verkündet wird, es muß zu den tausenden Jahren der Zukunft dringen. Denn die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit: obschon er ihrer nicht bedarf. Was geht ihn sein Ruhm an? Der Ruhm bei »immer fortfließenden Sterblichen!«, wie er höhnisch ausruft. Sein Ruhm geht die Menschen etwas an, nicht ihn, die Unsterblichkeit der Menschheit braucht ihn, nicht er die Unsterblichkeit des Menschen[380] Heraklit. Das, was er schaute, die Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Notwendigkeit, muß von jetzt ab ewig geschaut werden: er hat von diesem größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen.


9

Während in jedem Worte Heraklits der Stolz und die Majestät der Wahrheit, aber der in Intuitionen erfaßten, nicht der an der Strickleiter der Logik erkletterten Wahrheit sich ausspricht, während er in sibyllenhafter Verzückung schaut, aber nicht späht, erkennt, aber nicht rechnet: ist ihm in seinem Zeitgenossen Parmenides ein Gegenbild an die Seite gestellt, ebenfalls mit dem Typus eines Propheten der Wahrheit, aber gleichsam aus Eis und nicht aus Feuer geformt, und kaltes, stechendes Licht um sich ausgießend.

Parmenides hat, wahrscheinlich erst in seinem höheren Alter, einmal einen Moment der allerreinsten, durch jede Wirklichkeit ungetrübten und völlig blutlosen Abstraktion gehabt; dieser Moment – ungriechisch wie kein andrer in den zwei Jahrhunderten des tragischen Zeitalters –, dessen Erzeugnis die Lehre vom Sein ist, wurde für sein eigenes Leben zum Grenzstein, der es in zwei Perioden trennte: zugleich aber zerteilt derselbe Moment das vorsokratische Denken in zwei Hälften, deren erste die anaximandrische, deren zweite geradezu die parmenideische genannt werden mag. Die erste ältere Periode im eignen Philosophieren des Parmenides trägt ebenfalls noch die Signatur Anaximanders; sie brachte ein durchgeführtes philosophisch–physikalisches System als Antwort auf die Fragen Anaximanders hervor. Als ihn später jener eisige Abstraktions-Schauder erfaßte und der einfachste vom Sein und Nichtsein redende Satz von ihm hingestellt wurde, da war unter den vielen, durch ihn der Vernichtung zugeworfnen älteren Lehren auch sein eignes System. Doch scheint er nicht alle väterliche Pietät gegen das kräftige und wohlgestaltete Kind seiner Jugend verloren zu haben, und er half sich, deshalb zu sagen: »Zwar gibt es nur einen richtigen Weg; wenn man aber einmal auf einen andern sich begeben will, so ist meine ältere Ansicht ihrer Güte und Konsequenz nach allein im Recht.« Mit dieser Wendung sich schützend, hat er seinem früheren physikalischen System einen würdigen[381] und ausgedehnten Raum selbst in jenem großen Gedicht über die Natur gegönnt, das eigentlich die neue Einsicht als den einzigen Wegweiser zur Wahrheit proklamieren sollte. Es ist diese väterliche Rücksicht, selbst wenn durch sie ein Irrtum eingeschlichen sein sollte, ein Rest von menschlicher Empfindung bei einer durch logische Starrheit ganz petrifizierten und fast in eine Denkmaschine verwandelten Natur.

Parmenides, dessen persönlicher Umgang mit Anaximander mir nicht unglaublich scheint, dessen Ausgehen von Anaximanders Lehre nicht nur glaublich, sondern evident ist, hatte dasselbe Mißtrauen gegen die vollkommene Trennung einer Welt, die nur ist, und einer Welt, die nur wird, welches auch Heraklit erfaßt und zur Leugnung des Seins überhaupt geführt hatte. Beide suchten einen Ausweg aus jenem Gegenüber und Auseinander einer doppelten Weltordnung. Jener Sprung ins Unbestimmte, Unbestimmbare, durch den Anaximander ein für allemal dem Reiche des Werdens und seinen empirisch gegebenen Qualitäten entflohen war, wurde so selbständig gearteten Köpfen, wie denen Heraklits und Parmenides', nicht leicht; sie suchten erst zu gehen, soweit sie konnten, und behielten sich den Sprung für jene Stelle vor, wo der Fuß nicht mehr Halt findet und man springen muß, um nicht zu fallen. Beide schauten wiederholt eben jene Welt an, die Anaximander so melancholisch verurteilt und als Ort des Frevels und zugleich als Bußstätte für die Ungerechtigkeit des Werdens erklärt hatte. In ihrem Anschauen entdeckte Heraklit, wie wir bereits wissen, welche wunderbare Ordnung, Regelmäßigkeit und Sicherheit in jedem Werden sich offenbart: daraus schloß er, daß das Werden selbst nichts Frevelhaftes und Ungerechtes sein könne. Einen ganz verschiednen Blick tat Parmenides; er verglich die Qualitäten miteinander und glaubte zu finden, daß sie nicht alle gleichartig seien, sondern in zwei Rubriken eingeordnet werden müßten. Verglich er zum Beispiel Licht und Dunkel, so war die zweite Qualität ersichtlich nur die Negation der ersten; und so unterschied er positive und negative Qualitäten, ernsthaft bemüht, jenen Grundgegensatz im ganzen Reiche der Natur wiederzufinden und zu verzeichnen. Seine Methode hierbei war folgende: er nahm ein paar Gegensätze, zum Beispiel leicht und schwer, dünn und dicht, tätig und leidend, und hielt sie an jenen vorbildlichen Gegensatz von Licht und Dunkel: was dem Lichten entsprach,[382] war die positive, was dem Dunklen, die negative Eigenschaft. Nahm er etwa das Schwere und das Leichte, so fiel das Leichte auf die Seite des Lichten, das Schwere auf die Seite des Dunklen: und so galt ihm das Schwere nur als die Negation des Leichten, das Leichte aber als eine positive Eigenschaft. Schon aus dieser Methode ergibt sich eine trotzende, gegen die Einflüsterungen der Sinne verschlossene Befähigung zur abstrakt-logischen Prozedur. Das Schwere scheint sich ja recht eindringlich den Sinnen als positive Qualität darzubieten; das hielt Parmenides nicht ab, es zu einer Negation zu stempeln. Ebenso bezeichnete er die Erde im Gegensatz zum Feuer, das Kalte im Gegensatz zum Warmen, das Dichte im Gegensatz zum Dünnen, das Weibliche im Gegensatz zum Männlichen, das Leidende im Gegensatz zum Tätigen nur als Negationen: so daß vor seinem Blicke sich unsre empirische Welt in zwei getrennte Sphären schied, in die der positiven Eigenschaften – mit einem lichten, feurigen, warmen, leichten, dünnen, tätig-männlichen Charakter – und in die der negativen Eigenschaften. Letztere drücken eigentlich nur den Mangel, die Abwesenheit der anderen, positiven aus; er beschrieb also die Sphäre, in der die positiven Eigenschaften fehlen, als dunkel, erdig, kalt, schwer, dicht und überhaupt als weiblich-passiven Charakters. Statt der Ausdrücke »positiv« und »negativ« gebrauchte er den festen Terminus »seiend« und »nicht-seiend« und war damit zu dem Lehrsatz gekommen, daß, im Widerspruch mit Anaximander, diese unsre Welt selbst etwas Seiendes enthalte: freilich auch etwas Nichtseiendes. Das Seiende soll man nicht außerhalb der Welt und gleichsam über unserem Horizonte suchen; sondern vor uns und überall, in jedem Werden, ist etwas Seiendes enthalten und in Tätigkeit.

Dabei blieb für ihn aber die Aufgabe übrig, die genauere Antwort auf die Frage zu geben: »Was ist das Werden?« – und hier war der Moment, wo er springen mußte, um nicht zu fallen, obwohl vielleicht für solche Naturen, wie die des Parmenides, selbst jedes Springen als Fallen gilt. Genug, wir geraten in den Nebel, in die Mystik von qualitates occultae, und sogar etwas in die Mythologie. Parmenides schaut, wie Heraklit, das allgemeine Werden und Nichtverharren an und kann sich ein Vergehen nur so deuten, daß das Nichtseiende an ihm schuld sein muß. Denn wie sollte das Seiende die Schuld des Vergehens[383] tragen! Ebenso aber muß das Entstehen durch Mithilfe des Nichtseienden zustande kommen: denn das Seiende ist immer da und könnte, von sich aus, nicht erst entstehen und kein Entstehen erklären. Also ist sowohl das Entstehen als das Vergehen durch die negativen Eigenschaften herbeigeführt. Daß aber das Entstehende einen Inhalt hat und daß das Vergehende einen Inhalt verliert, setzt voraus, daß die positiven Eigenschaften – das heißt doch eben jener Inhalt – ebenfalls bei beiden Prozessen beteiligt sind. Kurz, es ergibt sich der Lehrsatz: »Zum Werden ist sowohl das Seiende als das Nichtseiende nötig; wenn sie zusammenwirken, so ergibt sich ein Werden.« Aber wie kommt das Positive und das Negative aneinander? Sollten sie sich nicht, im Gegenteil, ewig fliehen, als Gegensätze, und dadurch jedes Werden unmöglich machen? Hier appelliert Parmenides an eine qualitas occulta, an einen mystischen Hang des Entgegengesetzten, sich zu nähern und sich anzuziehen, und er versinnlicht jenen Gegensatz durch den Namen der Aphrodite und durch das empirisch bekannte Verhältnis des Männlichen und des Weiblichen zueinander. Die Macht der Aphrodite ist es, die das Entgegengesetzte, das Seiende mit dem Nichtseienden, zusammenkuppelt. Eine Begierde führt die sich widerstreitenden und sich hassenden Elemente zusammen: das Resultat ist ein Werden. Wenn die Begierde gesättigt ist, treibt der Haß und der innere Widerstreit das Seiende und das Nichtseiende wieder auseinander – und dann sagt der Mensch: »Das Ding vergeht.« –


10

Aber niemand vergreift sich ungestraft an so furchtbaren Abstraktionen, wie das »Seiende« und das »Nichtseiende« sind; das Blut erstarrt allmählich, wenn man sie berührt. Es gab einen Tag, an dem Parmenides einen seltsamen Einfall hatte, der allen seinen früheren Kombinationen den Wert zu nehmen schien, so daß er Lust hatte, sie wie einen Beutel mit alten abgenutzten Münzen beiseite zu werfen. Gewöhnlich nimmt man an, daß auch ein äußerer Eindruck und nicht nur die von innen her treibende Konsequenz solcher Begriffe wie »seiend« und »nichtseiend« bei der Erfindung jenes Tages mit tätig gewesen sei, die Bekanntschaft mit der Theologie des alten, viel[384] umhergetriebenen Rhapsoden, des Sängers einer mystischen Naturvergötterung, des Kolophoniers Xenophanes. Ein außerordentliches Leben hindurch lebte Xenophanes als wandernder Dichter und wurde durch seine Reisen ein viel belehrter und viel belehrender Mann, der zu fragen und zu erzählen wußte; weshalb Heraklit ihn unter die Polyhistoren und überhaupt unter die »historischen« Naturen in dem erwähnten Sinne rechnete. Woher und wann ihm der mystische Zug ins Eine und ewig Ruhende gekommen ist, wird niemand nachrechnen können; vielleicht ist es erst die Konzeption des endlich seßhaft gewordnen greisen Mannes, dem nach der Bewegtheit seiner Irrfahrten und nach dem rastlosen Lernen und Erforschen das Höchste und Größte in der Vision einer göttlichen Ruhe, in dem Beharren aller Dinge innerhalb eines pantheistischen Urfriedens vor die Seele tritt. Im übrigen scheint es mir rein zufällig, daß gerade am gleichen Orte, in Elea, zwei Männer eine Zeitlang zusammen lebten, von denen jeder eine Einheitskonzeption im Kopfe trug: sie bilden keine Schule und haben nichts gemeinsam, was etwa der eine von dem andern hätte lernen und dann weiterlehren können. Denn der Ursprung jener Einheitskonzeption ist bei dem einen ein ganz andrer, ja entgegengesetzter als bei dem andern; und wenn einer die Lehre des andern überhaupt kennengelernt hat, so mußte er sie sich, um sie nur zu verstehen, erst in seine eigne Sprache übertragen. Bei dieser Übertragung ging aber jedenfalls gerade das Spezifische der andern Lehre verloren. Wenn Parmenides zur Einheit des Seienden rein durch eine vermeintliche logische Konsequenz kam und sie aus dem Begriff Sein und Nichtsein herausspann, ist Xenophanes ein religiöser Mystiker und gehört mit jener mystischen Einheit recht eigentlich in das sechste Jahrhundert. War er auch keine so umwälzende Persönlichkeit wie Pythagoras, so hat er doch, auf seinen Wanderungen, den gleichen Zug und Trieb, die Menschen zu bessern, zu reinigen, zu heilen. Er ist der ethische Lehrer, aber noch auf der Stufe des Rhapsoden; in späterer Zeit wäre er ein Sophist gewesen. In der kühnen Mißbilligung der bestehenden Sitten und Schätzungen hat er in Griechenland nicht seinesgleichen; dazu zog er sich keineswegs, wie Heraklit und Plato, in die Einsamkeit zurück, sondern stellte sich eben vor jenes Publikum hin, dessen jauchzende Bewunderung für Homer, dessen leidenschaftlichen Hang[385] nach den Ehren der gymnastischen Festspiele, dessen Anbetung menschlich geformter Steine er mit Zorn und Hohn, und doch nicht als zankender Thersites, geißelte. Die Freiheit des Individuums ist mit ihm auf der Höhe; und in diesem fast grenzenlosen Heraustreten aus allen Konventionen ist er näher mit Parmenides verwandt als durch jene letzte göttliche Einheit, die er einmal in einem jenes Jahrhunderts würdigen Zustande der Vision geschaut hat und die mit dem einen Sein des Parmenides kaum den Ausdruck und das Wort, aber gewiß nicht den Ursprung gemein hat.

Ein entgegengesetzter Zustand war es vielmehr, in dem Parmenides die Lehre vom Sein fand. An jenem Tage und in diesem Zustande prüfte er seine beiden zusammenwirkenden Gegensätze, deren Begierde und Haß die Welt und das Werden konstituiert, das Seiende und das Nichtseiende, die positiven und die negativen Eigenschaften – und er blieb plötzlich bei dem Begriffe der negativen Eigenschaft, des Nichtseienden, mißtrauisch hängen. Kann denn etwas, was nicht ist, eine Eigenschaft sein? Oder prinzipieller gefragt: kann denn etwas, was nicht ist, sein? Die einzige Form der Erkenntnis aber, der wir sofort ein unbedingtes Vertrauen schenken und deren Leugnung dem Wahnsinne gleichkommt, ist die Tautologie A = A. Aber eben diese tautologische Erkenntnis rief unerbittlich ihm zu: was nicht ist, ist nicht! Was ist, ist! Plötzlich fühlte er eine ungeheure logische Sünde auf seinem Leben lasten; hatte er doch ohne Bedenken immer angenommen, daß es negative Eigenschaften, überhaupt Nichtseiendes gäbe, daß also, formelhaft ausgedrückt A = nicht A sei: was doch nur die volle Perversität des Denkens aufstellen könne. Zwar urteilt, wie er sich besann, die ganze große Menge der Menschen mit der gleichen Perversität: er selbst hat nur am allgemeinen Verbrechen gegen die Logik teilgenommen. Aber derselbe Augenblick, der ihn dieses Verbrechens zeiht, umleuchtet ihn mit der Glorie einer Entdeckung, er hat ein Prinzip, den Schlüssel zum Weltgeheimnis, abseits von allem Menschenwahne, gefunden, er steigt jetzt, an der festen und furchtbaren Hand der tautologischen Wahrheit über das Sein, hinab in den Abgrund der Dinge.

Auf dem Wege dahin begegnet er Heraklit – ein unglückliches Zusammentreffen! Ihm, dem an der strengsten Scheidung von Sein und Nichtsein alles gelegen war, mußte gerade jetzt das Antinomien-Spiel[386] Heraklits tief verhaßt sein: ein Satz wie der: »Wir sind und sind zugleich nicht«, »Sein und Nichtsein ist zugleich dasselbe und wieder nicht dasselbe«, ein Satz, durch den alles das wieder trübe und unentwirrbar wurde, was er eben aufgehellt und entwirrt hatte, reizte ihn zur Wut: »Weg mit den Menschen«, schrie er, »die zwei Köpfe zu haben scheinen und doch nichts wissen! Ist doch bei ihnen alles im Fluß auch ihr Denken! Sie staunen dumpf die Dinge an, müssen aber sowohl taub als blind sein, um so die Gegensätze durcheinanderzumischen!« Der Unverstand der Masse, durch spielerische Antinomien glorifiziert und als Spitze aller Erkenntnis gepriesen, war ihm ein schmerzliches und unbegreifliches Erlebnis.

Nun tauchte er in das kalte Bad seiner furchtbaren Abstraktionen. Das, was wahrhaft ist, muß in ewiger Gegenwart sein, von ihm kann nicht gesagt werden, »es war«, »es wird sein«. Das Seiende kann nicht geworden sein: denn woraus hätte es werden können? Aus dem Nichtseienden? Aber das ist nicht und kann nichts hervorbringen. Aus dem Seienden? Dies würde nichts anderes als sich selbst erzeugen. Ebenso steht es mit dem Vergehn; es ist ebenso unmöglich wie das Werten, wie jede Veränderung, wie jeder Zuwachs, jede Abnahme. Überhaupt gilt der Satz: Alles, von dem gesagt werden kann, »es ist gewesen« oder »es wird sein«, ist nicht, vom Seienden aber kann nie gesagt werden, »es ist nicht«. Das Seiende ist unteilbar, denn wo ist die zweite Macht, die es teilen sollte? Es ist unbeweglich, denn wohin sollte es sich bewegen? Es kann weder unendlich groß noch unendlich klein sein, denn es ist vollendet und eine vollendet gegebene Unendlichkeit ist ein Widerspruch. So schwebt es, begrenzt, vollendet, unbeweglich, überall im Gleichgewicht, in jedem Punkte gleich vollkommen, wie eine Kugel, aber nicht in einem Raume: denn sonst wäre dieser Raum ein zweites Seiendes. Es kann aber nicht mehrere Seiende geben, denn um sie zu trennen, müßte etwas da sein, das nicht seiend wäre: eine Annahme, die sich selbst aufhebt. So gibt es nur die ewige Einheit.

Wenn jetzt aber Parmenides seinen Blick zurückwandte zur Welt des Werdens, deren Existenz er früher durch so sinnreiche Kombinationen zu begreifen gesucht hatte, so zürnte er seinem Auge, daß es das Werden überhaupt sehe, seinem Ohre, daß es dasselbe höre. »Folgt nur nicht dem blöden Auge«, so lautet jetzt sein Imperativ, »nicht dem[387] schallenden Gehöre oder der Zunge, sondern prüft allein mit des Gedankens Kraft!« Damit vollzog er die überaus wichtige, wenn auch noch so unzulängliche und in ihren Folgen verhängnisvolle erste Kritik des Erkenntnisapparats: dadurch, daß er die Sinne und die Befähigung, Abstraktionen zu denken, also die Vernunft jäh auseinanderriß, als ob es zwei durchaus getrennte Vermögen seien, hat er den Intellekt selbst zertrümmert und zu jener gänzlich irrtümlichen Scheidung von »Geist« und »Körper« aufgemuntert, die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt. Alle Sinneswahrnehmungen, urteilt Parmenides, geben nur Täuschungen; und ihre Haupttäuschung ist eben, daß sie vorspiegeln, auch das Nichtseiende sei, auch das Werden habe ein Sein. Alle jene Vielheit und Buntheit der erfahrungsmäßig bekannten Welt, der Wechsel ihrer Qualitäten, die Ordnung in ihrem Auf und Nieder, wird erbarmungslos als ein bloßer Schein und Wahn beiseite geworfen; von dorther ist nichts zu lernen, also ist jede Mühe verschwendet, die man sich mit dieser erlogenen, durch und durch nichtigen und durch die Sinne gleichsam erschwindelten Welt gibt. Wer so im ganzen urteilt, wie dies Parmenides tat, hört damit auf, ein Naturforscher im einzelnen zu sein; seine Teilnahme für die Phänomene dorrt ab, es bildet sich selbst ein Haß, diesen ewigen Trug der Sinne nicht loswerden zu können. Nur in den verblaßtesten, abgezogensten Allgemeinheiten, in den leeren Hülsen der unbestimmtesten Worte soll jetzt die Wahrheit, wie in einem Gehäuse aus Spinnefäden, wohnen: und neben einer solchen »Wahrheit« sitzt nun der Philosoph, ebenfalls blutlos wie eine Abstraktion und rings in Formeln eingesponnen. Die Spinne will doch das Blut ihrer Opfer; aber der parmenideische Philosoph haßt gerade das Blut seiner Opfer, das Blut der von ihm geopferten Empirie.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 353-388.
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