Vorwort

[351] Bei fernstehenden Menschen genügt es uns, ihre Ziele zu wissen, um sie im ganzen zu billigen oder zu verwerfen. Bei näherstehenden urteilen wir nach den Mitteln, mit denen sie ihre Ziele fördern: oft mißbilligen wir ihre Ziele, lieben sie aber wegen der Mittel und der Art ihres Wollens. Nun sind philosophische Systeme nur für ihre Gründer ganz wahr: für alle späteren Philosophen gewöhnlich ein großer Fehler, für die schwächeren Köpfe eine Summe von Fehlern und Wahrheiten, als höchstes Ziel jedenfalls aber ein Irrtum, insofern verwerflich. Deshalb mißbilligen viele Menschen jeden Philosophen, weil sein Ziel nicht das ihre ist; es sind die fernerstehenden. Wer dagegen an großen Menschen überhaupt seine Freude hat, hat auch seine Freude an solchen Systemen, seien sie auch ganz irrtümlich: sie haben doch einen Punkt an sich, der ganz unwiderleglich ist, eine persönliche Stimmung, Farbe; man kann sie benutzen, um das Bild des Philosophen zu gewinnen: wie man vom Gewächs an einem Orte auf den Boden schließen kann. Die Art zu leben und die menschlichen Dinge anzusehn ist jedenfalls einmal dagewesen und also möglich: das »System« ist das Gewächs dieses Bodens oder wenigstens ein Teil dieses Systems – –

Ich erzähle die Geschichte jener Philosophen vereinfacht: ich will nur den Punkt aus jedem System herausheben, der ein Stück Persönlichkeit ist und zu jenem Unwiderleglichen, Undiskutierbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat: es ist ein Anfang, um jene Naturen durch Vergleichung wiederzugewinnen und nachzuschaffen und die Polyphonie der griechischen Natur endlich einmal wiedererklingen zu lassen: die Aufgabe ist, das ans Licht zu bringen, was wir immer lieben und verehren müssen und was uns durch keine spätere Erkenntnis geraubt werden kann: der große Mensch.[351]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 351-352.
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Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
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