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[48] Aus der Ferne. – Dieser Berg macht die ganze Gegend, die er beherrscht, auf alle Weise reizend und bedeutungsvoll: nachdem wir dies uns zum hundertsten Male gesagt haben, sind wir so unvernünftig und so dankbar gegen ihn gestimmt, daß wir glauben, er, der Geber dieses Reizes, müsse selber das Reizvollste der Gegend sein – und so[48] steigen wir auf ihn hinauf und sind enttäuscht. Plötzlich ist er selber, und die ganze Landschaft um uns, unter uns, wie entzaubert; wir hatten vergessen, daß manche Größe, wie manche Güte, nur auf eine gewisse Distanz hin gesehn werden will, und durchaus von unten, nicht von oben – so allein wirkt sie. Vielleicht kennst du Menschen in deiner Nähe, die sich selber nur aus einer gewissen Ferne ansehen dürfen, um sich überhaupt erträglich oder anziehend und kraftgebend zu finden; die Selbsterkenntnis ist ihnen zu widerraten.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 48-49.
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Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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