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[64] Veränderter Geschmack. – Die Veränderung des allgemeinen Geschmacks ist wichtiger als die der Meinungen; Meinungen mit allen Beweisen, Widerlegungen und der ganzen intellektuellen Maskerade sind nur Symptome des veränderten Geschmacks und ganz gewiß gerade das nicht, wofür man sie noch so häufig anspricht, dessen Ursachen. Wie verändert sich der allgemeine Geschmack? Dadurch, daß Einzelne, Mächtige, Einflußreiche ohne Schamgefühl ihr hoc est ridiculum, hoc est absurdum, also das Urteil ihres Geschmacks und Ekels,[64] aussprechen und tyrannisch durchsetzen – sie legen damit vielen einen Zwang auf, aus dem allmählich eine Gewöhnung noch mehrerer und zuletzt ein Bedürfnis aller wird. Daß diese einzelnen aber anders empfinden und »schmecken«, das hat gewöhnlich seinen Grund in einer Absonderlichkeit ihrer Lebensweise, Ernährung, Verdauung, vielleicht in einem Mehr oder Weniger der anorganischen Salze in ihrem Blute und Gehirne, kurz in der Physis: sie haben aber den Mut, sich zu ihrer Physis zu bekennen und deren Forderungen noch in ihren feinsten Tönen Gehör zu schenken: ihre ästhetischen und moralischen Urteile sind solche »feinste Töne« der Physis.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 64-65.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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