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[68] Epikur. – Ja, ich bin stolz darauf, den Charakter Epikurs anders zu empfinden als irgend jemand vielleicht, und bei allem, was ich von ihm höre und lese, das Glück des Nachmittags des Altertums zu genießen – ich sehe sein Auge auf ein weites, weißliches Meer blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während großes und kleines Getier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie dies Licht und jenes Auge selber. Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Leidender erfinden können, das Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr sattsehen kann: es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 68.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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