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[69] Von der Unterdrückung der Leidenschaften. – Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leidenschaften verbietet, wie als etwas den »Gemeinen«, den gröberen, bürgerlichen, bäuerlichen Naturen zu Überlassendes – also nicht die Leidenschaften selber unterdrücken will, sondern nur ihre Sprache und Gebärde: so erreicht man nichtsdestoweniger eben das mit, was man nicht will: die Unterdrückung der Leidenschaften selber, mindestens ihre Schwächung und Veränderung – wie dies zum belehrendsten Beispiele der Hof Ludwigs des Vierzehnten und alles, was von ihm abhängig war, erlebt hat. Das Zeitalter darauf, erzogen in der Unterdrückung des Ausdrucks, hatte die Leidenschaften selber nicht mehr und ein anmutiges, flaches, spielendes Wesen an ihrer Stelle – ein Zeitalter, das mit der Unfähigkeit behaftet war, unartig zu sein: so daß selbst eine Beleidigung nicht anders als mit verbindlichen Worten angenommen und zurückgegeben wurde. Vielleicht gibt unsere Gegenwart das merkwürdigste Gegenstück dazu ab: ich sehe überall, im Leben und auf dem Theater und nicht am wenigsten in allem, was geschrieben wird, das Wohlbehagen an allen gröberen Ausbrüchen und Gebärden der Leidenschaft: es wird jetzt eine gewisse Konvention der Leidenschaftlichkeit verlangt – nur nicht die Leidenschaft selber! Trotzdem wird man sie damit[69] zuletzt erreichen, und unsre Nachkommen werden eine echte Wildheit haben und nicht nur eine Wildheit und Ungebärdigkeit der Formen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 69-70.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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