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[167] Hohe Stimmungen. – Mir scheint es, daß die meisten Menschen an hohe Stimmungen überhaupt nicht glauben, es sei denn für Augenblicke, höchstens Viertelstunden, – jene wenigen ausgenommen, welche eine längere Dauer des hohen Gefühls aus Erfahrung kennen. Aber gar der Mensch eines hohen Gefühls, die Verkörperung einer einzigen großen Stimmung sein – das ist bisher nur ein Traum und eine entzückende Möglichkeit gewesen: die Geschichte gibt uns noch kein sicheres Beispiel davon. Trotzdem könnte sie einmal auch solche[167] Menschen gebären – dann, wenn eine Menge günstiger Vorbedingungen geschaffen und festgestellt worden sind, die jetzt auch der glücklichste Zufall nicht zusammenzuwürfeln vermag. Vielleicht wäre diesen zukünftigen Seelen eben das der gewöhnliche Zustand, was bisher als die mit Schauder empfundene Ausnahme hier und da einmal in unseren Seelen eintrat: eine fortwährende Bewegung zwischen Hoch und Tief und das Gefühl von Hoch und Tief, ein beständiges Wie-auf-Treppen-steigen und zugleich Wie-auf-Wolken-ruhen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 167-168.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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