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[189] Der Dummheit Schaden tun. – Gewiß hat der so hartnäckig und überzeugt gepredigte Glaube von der Verwerflichkeit des Egoismus im ganzen dem Egoismus Schaden getan (zugunsten, wie ich hundertmal wiederholen werde, der Herden-lnstinkte!) namentlich dadurch, daß er ihm das gute Gewissen nahm und in ihm die eigentliche Quelle alles Unglücks suchen hieß. »Deine Selbstsucht ist das Unheil deines Lebens« – so klang die Predigt jahrtausendelang: es tat, wie gesagt, der Selbstsucht Schaden und nahm ihr viel Geist, viel Heiterkeit, viel Erfindsamkeit, viel Schönheit; es verdummte und verhäßlichte und vergiftete die Selbstsucht! – Das philosophische Altertum lehrte dagegen eine andere Hauptquelle des Unheils: von Sokrates an wurden die Denker nicht müde zu predigen: »eure Gedankenlosigkeit und Dummheit, euer Dahinleben nach der Regel, eure Unterordnung unter die Meinung des Nachbars ist der Grund, weshalb ihr es so selten zum Glücke bringt – wir Denker sind als Denker die Glücklichsten.« Entscheiden wir hier nicht, ob diese Predigt gegen die Dummheit bessere Gründe für sich hatte als jene Predigt gegen die Selbstsucht; gewiß aber ist dies, daß sie der Dummheit das gute Gewissen nahm – diese Philosophen haben der Dummheit Schaden getan!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 189-190.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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