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[103] Die Anhänger Schopenhauers. – Was man bei der Berührung von Kultur-Völkern und Barbaren zu sehen bekommt: daß regelmäßig[103] die niedrigere Kultur von der höheren zuerst deren Laster, Schwächen und Ausschweifungen annimmt, von da aus einen Reiz auf sich ausgeübt fühlt und endlich vermittelst der angeeigneten Laster und Schwächen etwas von der wert haltigen Kraft der höheren Kultur mit auf sich überströmen läßt – das kann man auch in der Nähe und ohne Reisen zu Barbaren-Völkern mit ansehen, freilich etwas verfeinert und vergeistigt und nicht so leicht mit Händen zu greifen. Was pflegen doch die Anhänger Schopenhauers in Deutschland von ihrem Meister zuerst anzunehmen? – als welche, im Vergleich zu dessen überlegener Kultur, sich barbarenhaft genug vorkommen müssen, um auch durch ihn zuerst barbarenhaft fasziniert und verführt zu werden. Ist es sein harter Tatsachen-Sinn, sein guter Wille zu Helligkeit und Vernunft, der ihn oft so englisch und so wenig deutsch erscheinen läßt? Oder die Stärke seines intellektuellen Gewissens, das einen lebenslangen Widerspruch zwischen Sein und Wollen aushielt und ihn dazu zwang, sich auch in seinen Schriften beständig und fast in jedem Punkte zu widersprechen? Oder seine Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christlichen Gottes? – denn hierin war er reinlich wie kein deutscher Philosoph bisher, so daß er »als Voltairianer« lebte und starb. Oder seine unsterblichen Lehren von der Intellektualität der Anschauung, von der Apriorität des Kausalitätsgesetzes, von der Werkzeug-Natur des Intellekts und der Unfreiheit des Willens? Nein, dies alles bezaubert nicht und wird nicht als bezaubernd gefühlt: aber die mystischen Verlegenheiten und Ausflüchte Schopenhauers, an jenen Stellen, wo der Tatsachen-Denker sich vom eitlen Triebe, der Enträtseler der Welt zu sein, verführen und verderben ließ, die unbeweisbare Lehre von Einem Willen (»alle Ursachen sind nur Gelegenheitsursachen der Erscheinung des Willens zu dieser Zeit, an diesem Orte«, »der Wille zum Leben ist in jedem Wesen, auch dem geringsten, ganz und ungeteilt vorhanden, so vollständig, wie in allen, die je waren, sind und sein werden, zusammengenommen«), die Leugnung des Individuums (»alle Löwen sind im Grunde nur ein Löwe«, »die Vielheit der Individuen ist ein Schein«; sowie auch die Entwicklung nur ein Schein ist: – er nennt den Gedanken de Lamarcks »einen genialen, absurden Irrtum«), die Schwärmerei vom Genie (»in der ästhetischen Anschauung ist das Individuum nicht mehr Individuum, sondern reines, willenloses,[104] schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis«; »das Subjekt, indem es in dem angeschauten Gegenstande ganz aufgeht, ist dieser Gegenstand selbst geworden«), der Unsinn vom Mitleide und der in ihm ermöglichten Durchbrechung des principii individuationis als der Quelle aller Moralität, hinzugerechnet solche Behauptungen: »das Sterben ist eigentlich der Zweck des Daseins«, »es läßt sich a priori nicht geradezu die Möglichkeit ableugnen, daß eine magische Wirkung nicht auch sollte von einem bereits Gestorbenen ausgehen können«: diese und ähnliche Ausschweifungen und Laster des Philosophen werden immer am ersten angenommen und zur Sache des Glaubens gemacht – Laster und Ausschweifungen sind nämlich immer am leichtesten nachzuahmen und wollen keine lange Vorübung. Doch reden wir von dem berühmtesten der lebenden Schopenhauerianer, von Richard Wagner. – Ihm ist es ergangen, wie es schon manchem Künstler ergangen ist: er vergriff sich in der Deutung der Gestalten, die er schuf, und verkannte die unausgesprochene Philosophie seiner eigensten Kunst. Richard Wagner hat sich bis in die Mitte seines Lebens durch Hegel irreführen lassen; er tat dasselbe noch einmal, als er später Schopenhauers Lehre aus seinen Gestalten herauslas und mit »Wille«, »Genie« und »Mitleid« sich selber zu formulieren begann. Trotzdem wird es wahr bleiben: nichts geht gerade so sehr wider den Geist Schopenhauers als das eigentlich

Wagnerische an den Helden Wagners – ich meine, die Unschuld der höchsten Selbstsucht, der Glaube an die große Leidenschaft als an das Gute an sich, mit einem Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. »Das alles riecht eher noch nach Spinoza als nach mir« – würde vielleicht Schopenhauer sagen. So gute Gründe also Wagner hätte, sich gerade nach anderen Philosophen umzusehen als nach Schopenhauer: die Bezauberung, der er in betreff dieses Denkers unterlegen ist, hat ihn nicht nur gegen alle andern Philosophen, sondern sogar gegen die Wissenschaft selber blind gemacht; immer mehr will seine ganze Kunst sich als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerischen Philosophie geben und immer ausdrücklicher verzichtet sie auf den höheren Ehrgeiz, Seitenstück und Ergänzung der menschlichen Erkenntnis und Wissenschaft zu werden. Und nicht nur reizt ihn dazu der ganze geheimnisvolle Prunk dieser Philosophie, welche auch einen Cagliostro gereizt haben[105] würde: auch die einzelnen Gebärden und die Affekte der Philosophen waren stets Verführer! Schopenhauerisch ist zum Beispiel Wagners Ereiferung über die Verderbnis der deutschen Sprache; und wenn man hierin die Nachahmung gutheißen sollte, so darf doch auch nicht verschwiegen werden, daß Wagners Stil selber nicht wenig an all den Geschwüren und Geschwülsten krankt, deren Anblick Schopenhauer so wütend machte, und daß in Hinsicht auf die deutsch schreibenden Wagnerianer die Wagnerei sich so gefährlich zu erweisen beginnt, als nur irgendeine Hegelei sich erwiesen hat. Schopenhauerisch ist Wagners Haß gegen die Juden, denen er selbst in ihrer größten Tat nicht gerecht zu werden vermag: die Juden sind ja die Erfinder des Christentums! Schopenhauerisch ist der Versuch Wagners, das Christentum als ein verwehtes Korn des Buddhismus aufzufassen und für Europa, unter zeitweiliger Annäherung an katholisch-christliche Formeln und Empfindungen, ein buddhistisches Zeitalter vorzubereiten. Schopenhauerisch ist Wagners Predigt zugunsten der Barmherzigkeit im Verkehre mit Tieren; Schopenhauers Vorgänger hierin war bekanntlich Voltaire, der vielleicht auch schon, gleich seinen Nachfolgern, seinen Haß gegen gewisse Dinge und Menschen als Barmherzigkeit gegen Tiere zu verkleiden wußte. Wenigstens ist Wagners Haß gegen die Wissenschaft, der aus seiner Predigt spricht, gewiß nicht vom Geiste der Mildherzigkeit und Güte eingegeben – noch auch, wie es sich von selber versteht, vom Geiste überhaupt. – Zuletzt ist wenig an der Philosophie eines Künstlers gelegen, falls sie eben nur eine nachträgliche Philosophie ist und seiner Kunst selber keinen Schaden tut. Man kann sich nicht genug davor hüten, einem Künstler um einer gelegentlichen, vielleicht sehr unglücklichen und anmaßlichen Maskerade willen gram zu werden; vergessen wir doch nicht, daß die lieben Künstler samt und sonders ein wenig Schauspieler sind und sein müssen und ohne Schauspielerei es schwerlich auf die Länge aushielten. Bleiben wir Wagner in dem treu, was an ihm wahr und ursprünglich ist – und namentlich dadurch, daß wir, seine Jünger, uns selber in dem treu bleiben, was an uns wahr und ursprünglich ist. Lassen wir ihm seine intellektuellen Launen und Krämpfe, erwägen wir vielmehr in Billigkeit, welche seltsamen Nahrungen und Notdürfte eine Kunst, wie die seine, haben darf, um leben und wachsen zu können! Es liegt nichts daran, daß er[106] als Denker so oft unrecht hat; Gerechtigkeit und Geduld sind nicht seine Sache. Genug, daß sein Leben vor sich selber recht hat und recht behält – dieses Leben, welches jedem von uns zuruft: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach – sondern dir! Sondern dir!« Auch unser Leben soll vor uns selber recht behalten! Auch wir sollen frei und furchtlos, in unschuldiger Selbstigkeit aus uns selber wachsen und blühen! Und so klingen mir, bei der Betrachtung eines solchen Menschen, auch heute noch, wie ehedem, diese Sätze ans Ohr: »daß Leidenschaft besser ist als Stoizismus und Heuchelei, daß Ehrlichsein, selbst im Bösen, besser ist,

als sich selber an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren, daß der freie Mensch sowohl gut als böse sein kann, daß aber der unfreie Mensch eine Schande der Natur ist und an keinem himmlischen noch irdischen Troste Anteil hat; endlich, daß jeder, der frei werden will, es durch sich selber werden muß, und daß niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schoß fällt«. (Richard Wagner in Bayreuth: I 431.)

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 103-107.
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