Die Sonne sinkt

1

[1254] Nicht lange durstest du noch,

verbranntes Herz!

Verheißung ist in der Luft,

aus unbekannten Mündern bläst mich's an,

– die große Kühle kommt...


Meine Sonne stand heiß über mir im Mittage:

seid mir gegrüßt, daß ihr kommt,

ihr plötzlichen Winde,

ihr kühlen Geister des Nachmittags!


Die Luft geht fremd und rein.

Schielt nicht mit schiefem

Verführerblick

die Nacht mich an?...

Bleib stark, mein tapfres Herz!

Frag nicht: warum? –


2

Tag meines Lebens!

die Sonne sinkt.

Schon steht die glatte

Flut vergüldet.

Warm atmet der Fels:

schlief wohl zu Mittag

das Glück auf ihm seinen Mittagsschlaf? –

In grünen Lichtern

spielt Glück noch der braune Abgrund herauf.
[1254]

Tag meines Lebens!

gen Abend gehts!

Schon glüht dein Auge

halbgebrochen,

schon quillt deines Taus

Tränengeträufel,

schon läuft still über weiße Meere

deiner Liebe Purpur,

deine letzte zögernde Seligkeit.


3

Heiterkeit, güldene, komm!

du des Todes

heimlichster, süßester Vorgenuß!

– Lief ich zu rasch meines Wegs?

Jetzt erst, wo der Fuß müde ward,

holt dein Blick mich noch ein,

holt dein Glück mich noch ein.


Rings nur Welle und Spiel.

Was je schwer war,

sank in blaue Vergessenheit –

müßig steht nun mein Kahn.

Sturm und Fahrt – wie verlernt er das!

Wunsch und Hoffen ertrank,

glatt liegt Seele und Meer.


Siebente Einsamkeit!

Nie empfand ich

näher mir süße Sicherheit,

wärmer der Sonne Blick.

– Glüht nicht das Eis meiner Gipfel noch?

Silbern, leicht, ein Fisch

schwimmt nun mein Nachen hinaus.[1255]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1254-1256.
Lizenz:
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