Von der Armut des Reichsten

[1264] Zehn Jahre dahin –,

kein Tropfen erreichte mich,

kein feuchter Wind, kein Tau der Liebe

– ein regenloses Land...

Nun bitte ich meine Weisheit,

nicht geizig zu werden in dieser Dürre:

ströme selber über, träufle selber Tau,

sei selber Regen der vergilbten Wildnis!


Einst hieß ich die Wolken

fortgehn von meinen Bergen, –

einst sprach ich »mehr Licht, ihr Dunklen!«

Heut locke ich sie, daß sie kommen:

macht Dunkel um mich mit euren Eutern!

– ich will euch melken,

ihr Kühe der Höhe!

Milchwarme Weisheit, süßen Tau der Liebe

ströme ich über das Land.


Fort, fort, ihr Wahrheiten,

die ihr düster blickt!

Nicht will ich auf meinen Bergen

herbe ungeduldige Wahrheiten sehn.

Vom Lächeln vergüldet

nahe mir heut die Wahrheit,

von der Sonne gesüßt, von der Liebe gebräunt, –

eine reife Wahrheit breche ich allein vom Baum.


Heut strecke ich die Hand aus

nach den Locken des Zufalls,[1264]

klug genug, den Zufall

einem Kinde gleich zu führen, zu überlisten.

Heut will ich gastfreundlich sein

gegen Unwillkommnes,

gegen das Schicksal selbst will ich nicht stachlicht sein,

– Zarathustra ist kein Igel.


Meine Seele,

unersättlich mit ihrer Zunge,

an alle guten und schlimmen Dinge hat sie schon geleckt,

in jede Tiefe tauchte sie hinab.

Aber immer gleich dem Korke,

immer schwimmt sie wieder obenauf,

sie gaukelt wie Öl über braune Meere:

dieser Seele halber heißt man mich den Glücklichen.


Wer sind mir Vater und Mutter?

Ist nicht mir Vater Prinz Überfluß

und Mutter das stille Lachen?

Erzeugte nicht dieser beiden Ehebund

mich Rätseltier,

mich Lichtunhold,

mich Verschwender aller Weisheit, Zarathustra?


Krank heute vor Zärtlichkeit,

ein Tauwind,

sitzt Zarathustra wartend, wartend auf seinen Bergen, –

im eignen Safte

süß geworden und gekocht,

unterhalb seines Gipfels,

unterhalb seines Eises,

müde und selig,

ein Schaffender an seinem, siebenten Tag.


– Still

Eine Wahrheit wandelt über mir

einer Wolke gleich, –[1265]

mit unsichtbaren Blitzen trifft sie mich.

Auf breiten langsamen Treppen

steigt ihr Glück zu mir:

komm, komm, geliebte Wahrheit!


– Still!

Meine Wahrheit ists! –

Aus zögernden Augen,

aus samtenen Schaudern

trifft mich ihr Blick,

lieblich, bös, ein Mädchenblick...

Sie erriet meines Glückes Grund,

sie erriet mich – ha! was sinnt sie aus? –

Purpurn lauert ein Drache

im Abgrunde ihres Mädchenblicks.


– Still! Meine Wahrheit redet! –


Wehe dir, Zarathustra!


Du siehst aus, wie einer,

der Gold verschluckt hat:

man wird dir noch den Bauch aufschlitzen!...


Zu reich bist du,

du Verderber vieler!

Zu viele machst du neidisch,

zu viele machst du arm...

Mir selber wirft dein Licht Schatten –,

es fröstelt mich: geh weg, du Reicher,

geh, Zarathustra, weg aus deiner Sonne!...


Du möchtest schenken, wegschenken deinen Überfluß,

aber du selber bist der Überflüssigste!

Sei klug, du Reicher!

Verschenke dich selber erst, o Zarathustra![1266]

Zehn Jahre dahin –,

und kein Tropfen erreichte dich?

kein feuchter Wind? kein Tau der Liebe?

Aber wer sollte dich auch lieben,

du Überreicher?

Dein Glück macht rings trocken,

macht arm an Liebe

– ein regenloses Land...


Niemand dankt dir mehr.

Du aber dankst jedem,

der von dir nimmt:

daran erkenne ich dich,

du Überreicher,

du Ärmster aller Reichen!


Du opferst dich, dich quält dein Reichtum –,

du gibst dich ab,

du schonst dich nicht, du liebst dich nicht:

die große Qual zwingt dich allezeit,

die Qual übervoller Scheuern, übervollen Herzens –

aber niemand dankt dir mehr...


Du mußt ärmer werden,

weiser Unweiser!

willst du geliebt sein.

Man liebt nur die Leidenden,

man gibt Liebe nur dem Hungernden:

verschenke dich selbst erst, o Zarathustra!


– Ich bin deine Wahrheit...

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2.
Lizenz:
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