Zwischen Raubvögeln

[1249] Wer hier hinab will,

wie schnell

schluckt den die Tiefe!

– Aber du, Zarathustra,

liebst den Abgrund noch,

tust der Tanne es gleich? –


Die schlägt Wurzeln, wo

der Fels selbst schaudernd

zur Tiefe blickt –,

die zögert an Abgründen,

wo alles rings

hinunter will:

zwischen der Ungeduld

wilden Gerölls, stürzenden Bachs

geduldig duldend, hart, schweigsam,

einsam...


Einsam!

Wer wagte es auch,

hier zu Gast zu sein,

dir Gast zu sein?...

Ein Raubvogel vielleicht,

der hängt sich wohl

dem standhaften Dulder

schadenfroh ins Haar,

mit irrem Gelächter,

einem Raubvogel-Gelächter...


Wozu so standhaft?

– höhnt er grausam:[1249]

man muß Flügel haben, wenn man

den Abgrund liebt...

man muß nicht hängen bleiben,

wie du, Gehängter! –


O Zarathustra,

grausamster Nimrod!

Jüngst Jünger noch Gottes,

das Fangnetz aller Tugend,

der Pfeil des Bösen! –

Jetzt –

von dir selber erjagt,

deine eigene Beute,

in dich selber eingebohrt...


Jetzt –

einsam mit dir,

zwiesam im eignen Wissen,

zwischen hundert Spiegeln

vor dir selber falsch,

zwischen hundert Erinnerungen

ungewiß,

an jeder Wunde müd,

an jedem Froste kalt,

in eignen Stricken gewürgt,

Selbstkenner!

Selbsthenker!


Was bandest du dich

mit dem Strick deiner Weisheit?

Was locktest du dich

ins Paradies der alten Schlange?

Was schlichst du dich ein

in dich – in dich?...


Ein Kranker nun,

der an Schlangengift krank ist;[1250]

ein Gefangner nun,

der das härteste Los zog:

im eignen Schachte

gebückt arbeitend,

in dich selber eingehöhlt,

dich selber angrabend,

unbehilflich,

steif,

ein Leichnam –,

von hundert Lasten übertürmt,

von dir überlastet,

ein Wissender!

ein Selbsterkenner!

der weise Zarathustra!...


Du suchtest die schwerste Last:

da fandest du dich –,

du wirfst dich nicht ab von dir...


Lauernd,

kauernd,

einer, der schon nicht mehr aufrecht steht!

Du verwächst mir noch mit deinem Grabe,

verwachsener Geist!...


Und jüngst noch so stolz,

auf allen Stelzen deines Stolzes!

Jüngst noch der Einsiedler ohne Gott,

der Zweisiedler mit dem Teufel,

der scharlachne Prinz jedes Übermuts!...


Jetzt –

zwischen zwei Nichtse

eingekrümmt,

ein Fragezeichen,

ein müdes Rätsel –

ein Rätsel für Raubvögel...[1251]

– sie werden dich schon »lösen«,

sie hungern schon nach deiner »Lösung«,

sie flattern schon um dich, ihr Rätsel,

um dich, Gehenkter!...

O Zarathustra!...

Selbstkenner!...

Selbsthenker!...[1252]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1249-1253.
Lizenz:
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