Der Fall Wagner

Ein Musikanten-Problem

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[1146] Um dieser Schrift gerecht zu werden, muß man am Schicksal der Musik wie an einer offenen Wunde leiden. – Woran ich leide, wenn ich am Schicksal der Musik leide? Daran, daß die Musik um ihren weltverklärenden, jasagenden Charakter gebracht worden ist, daß sie décadence-Musik und nicht mehr die Flöte des Dionysos ist... Gesetzt aber, daß man dergestalt die Sache der Musik wie seine eigene Sache, wie seine eigene Leidensgeschichte fühlt, so wird man diese Schrift voller Rücksichten und über die Maßen mild finden. In solchen Fällen heiter sein und sich gutmütig mit verspotten – ridendo dicere severum, wo das verum dicere jede Härte rechtfertigen würde – ist die Humanität selbst. Wer zweifelt eigentlich daran, daß ich, als der alte Artillerist, der ich bin, es in der Hand habe, gegen Wagner mein schweres Geschütz aufzufahren? – Ich hielt alles Entscheidende in dieser Sache bei mir zurück – ich habe Wagner geliebt. – Zuletzt liegt ein Angriff auf einen feineren »Unbekannten«, den nicht leicht ein anderer errät, im Sinn und Wege meiner Aufgabe – o ich habe noch ganz andere »Unbekannte« aufzudecken, als einen Cagliostro der Musik – noch mehr freilich ein Angriff auf die in geistigen Dingen immer träger und instinktärmer, immer ehrlicher werdende deutsche Nation, die mit einem beneidenswerten Appetit fortfährt, sich von Gegensätzen zu nähren und »den Glauben« so gut wie die Wissenschaftlichkeit, die »christliche Liebe« so gut wie den Antisemitismus, den Willen zur Macht (zum »Reich«) so gut wie das évangile des humbles ohne Verdauungsbeschwerden hinunterschluckt... Dieser Mangel an Partei zwischen Gegensätzen! Diese stomachische Neutralität und »Selbstlosigkeit«! Dieser gerechte Sinn des deutschen Gaumens, der allem gleiche Rechte gibt – der alles schmackhaft findet... Ohne allen Zweifel, die Deutschen sind Idealisten... Als ich das letzte Mal Deutschland besuchte, fand ich den deutschen Geschmack bemüht, Wagner und dem Trompeter von Säckingen gleiche Rechte zuzugestehn;[1146] ich selber war Zeuge, wie man in Leipzig, zu Ehren eines der echtesten und deutschesten Musiker, im alten Sinne des Wortes deutsch, keines bloßen Reichsdeutschen, des Meister Heinrich Schütz einen Liszt-Verein gründete, mit dem Zweck der Pflege und Verbreitung listiger Kirchenmusik... Ohne allen Zweifel, die Deutschen sind Idealisten...


2

Aber hier soll mich nichts hindern, grob zu werden und den Deutschen ein paar harte Wahrheiten zu sagen: wer tut es sonst? – Ich rede von ihrer Unzucht in historicis. Nicht nur, daß den deutschen Historikern der große Blick für den Gang, für die Werte der Kultur gänzlich abhanden gekommen ist, daß sie allesamt Hanswürste der Politik (oder der Kirche –) sind: dieser große Blick ist selbst von ihnen in Acht getan. Man muß vorerst »deutsch« sein, »Rasse« sein, dann kann man über alle Werte und Unwerte in historicis entscheiden – man setzt sie fest... »Deutsch« ist ein Argument, »Deutschland, Deutschland über alles« ein Prinzip, die Germanen sind die »sittliche Weltordnung« in der Geschichte; im Verhältnis zum Imperium romanum die Träger der Freiheit, im Verhältnis zum achtzehnten Jahrhundert die Wiederhersteller der Moral, des »kategorischen Imperativs«... Es gibt eine reichsdeutsche Geschichtsschreibung, es gibt, fürchte ich, selbst eine antisemitische, – es gibt eine Hof-Geschichtsschreibung und Herr von Treitschke schämt sich nicht... Jüngst machte ein Idioten-Urteil in historicis, ein Satz des zum Glück verblichenen ästhetischen Schwaben Vischer, die Runde durch die deutschen Zeitungen als eine »Wahrheit«, zu der jeder Deutsche ja sagen müsse: »Die Renaissance und die Reformation, beide zusammen machen erst ein Ganzes – die ästhetische Wiedergeburt und die sittliche Wiedergeburt.« – Bei solchen Sätzen geht es mit meiner Geduld zu Ende, und ich spüre Lust, ich fühle es selbst als Pflicht, den Deutschen einmal zu sagen, was sie alles schon auf dem Gewissen haben. Alle großen Kultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen!... Und immer aus dem gleichen Grunde, aus ihrer innerlichsten Feigheit vor der Realität, die auch die Feigheit vor der Wahrheit ist, aus ihrer bei ihnen Instinkt gewordenen Unwahrhaftigkeit, aus »Idealismus«... Die Deutschen haben Europa[1147] um die Ernte, um den Sinn der letzten großen Zeit, der Renaissance-Zeit, gebracht, in einem Augenblicke, wo eine höhere Ordnung der Werte, wo die vornehmen, die zum Leben jasagenden, die Zukunftverbürgenden Werte am Sitz der entgegengesetzten, der Niedergangs-Werte, zum Sieg gelangt waren – und bis in die Instinkte der dort Sitzenden hinein! Luther, dies Verhängnis von Mönch, hat die Kirche, und, was tausendmal schlimmer ist, das Christentum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag... Das Christentum, diese Religion gewordene Verneinung des Willens zum Leben!... Luther, ein unmöglicher Mönch, der, aus Gründen seiner »Unmöglichkeit«, die Kirche angriff und sie – folglich! – wieder herstellte... Die Katholiken hätten Gründe, Lutherfeste zu feiern, Lutherspiele zu dichten... Luther – und die »sittliche Wiedergeburt«! Zum Teufel mit aller Psychologie! – Ohne Zweifel, die Deutschen sind Idealisten. – Die Deutschen haben zweimal, als eben mit ungeheurer Tapferkeit und Selbstüberwindung eine rechtschaffne, eine unzweideutige, eine vollkommen wissenschaftliche Denkweise erreicht war, Schleichwege zum alten »Ideal«, Versöhnungen zwischen Wahrheit und »Ideal«, im Grunde Formeln für ein Recht auf Ablehnung der Wissenschaft, für ein Recht auf Lüge zu finden gewußt. Leibniz und Kant – diese zwei größten Hemmschuhe der intellektuellen Rechtschaffenheit Europas! – Die Deutschen haben endlich, als auf der Brücke zwischen zwei décadence-Jahrhunderten eine force majeure von Genie und Wille sichtbar wurde, stark genug, aus Europa eine Einheit, eine politische und wirtschaftliche Einheit, zum Zweck der Erdregierung zu schaffen, mit ihren »Freiheits-Kriegen« Europa um den Sinn, um das Wunder von Sinn in der Existenz Napoleons gebracht – sie haben damit alles, was kam, was heute da ist, auf dem Gewissen, diese kulturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es gibt, den Nationalismus, diese névrose nationale, an der Europa krank ist, diese Verewigung der Kleinstaaterei Europas, der kleinen Politik: sie haben Europa selbst um seinen Sinn, um seine Vernunft – sie haben es in eine Sackgasse gebracht. – Weiß jemand außer mir einen Weg aus dieser Sackgasse?... Eine Aufgabe, groß genug, die Völker wieder zu binden?...


3

[1148] – Und zuletzt, warum sollte ich meinem Verdacht nicht Worte geben? Die Deutschen werden auch in meinem Falle wieder alles versuchen, um aus einem ungeheuren Schicksal eine Maus zu gebären. Sie haben sich bis jetzt an mir kompromittiert, ich zweifle, daß sie es in der Zukunft besser machen. – Ah was es mich verlangt, hier ein schlechter Prophet zu sein!... Meine natürlichen Leser und Hörer sind jetzt schon Russen, Skandinavier und Franzosen – werden sie es immer mehr sein? – Die Deutschen sind in die Geschichte der Erkenntnis mit lauter zweideutigen Namen eingeschrieben, sie haben immer nur »unbewußte« Falschmünzer hervorgebracht (– Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel, Schleiermacher gebührt dies Wort so gut wie Kant und Leibniz; es sind alles bloße Schleiermacher –): sie sollen nie die Ehre haben, daß der erste rechtschaffne Geist in der Geschichte des Geistes, der Geist, in dem die Wahrheit zu Gericht kommt über die Falschmünzerei von vier Jahrtausenden, mit dem deutschen Geiste in eins gerechnet wird. Der »deutsche Geist« ist meine schlechte Luft: ich atme schwer in der Nähe dieser Instinkt gewordnen Unsauberkeit in psychologicis, die jedes Wort, jede Miene eines Deutschen verrät. Sie haben nie ein siebzehntes Jahrhundert harter Selbstprüfung durchgemacht wie die Franzosen – ein Larochefoucauld, ein Descartes sind hundertmal in Rechtschaffenheit den ersten Deutschen überlegen –, sie haben bis heute keinen Psychologen gehabt. Aber Psychologie ist beinahe der Maßstab der Reinlichkeit oder Unreinlichkeit einer Rasse... Und wenn man nicht einmal reinlich ist, wie sollte man Tiefe haben? Man kommt beim Deutschen, beinahe wie beim Weibe, niemals auf den Grund, er hat keinen: das ist alles. Aber damit ist man noch nicht einmal flach. – Das, was in Deutschland »tief« heißt, ist genau diese Instinkt-Unsauberkeit gegen sich, von der ich eben rede: man will über sich nicht im klaren sein. Dürfte ich das Wort »deutsch« nicht als internationale Münze für diese psychologische Verkommenheit in Vorschlag bringen? – In diesem Augenblick zum Beispiel nennt es der deutsche Kaiser seine »christliche Pflicht«, die Sklaven in Afrika zu befreien: unter uns andern Europäern hieße das dann einfach »deutsch«... Haben die Deutschen auch nur ein Buch hervorgebracht, das Tiefe[1149] hätte? Selbst der Begriff dafür, was tief an einem Buch ist, geht ihnen ab. Ich habe Gelehrte kennen gelernt, die Kant für tief hielten; am preußischen Hofe, fürchte ich, hält man Herrn von Treitschke für tief. Und wenn ich Stendhal gelegentlich als tiefen Psychologen rühme, ist es mir mit deutschen Universitätsprofessoren begegnet, daß sie mich den Namen buchstabieren ließen...


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– Und warum sollte ich nicht bis ans Ende gehn? Ich liebe es, reinen Tisch zu machen. Es gehört selbst zu meinem Ehrgeiz, als Verächter der Deutschen par excellence zu gelten. Mein Mißtrauen gegen den deutschen Charakter habe ich schon mit sechsundzwanzig Jahren ausgedrückt (dritte Unzeitgemäße S. 335) – die Deutschen sind für mich unmöglich. Wenn ich mir eine Art Mensch ausdenke, die allen meinen Instinkten zuwiderläuft, so wird immer ein Deutscher daraus. Das erste, woraufhin ich mir einen Menschen »nierenprüfe«, ist, ob er ein Gefühl für Distanz im Leibe hat, ob er überall Rang, Grad, Ordnung zwischen Mensch und Mensch sieht, ob er distinguiert: damit ist man gentilhomme; in jedem andren Fall gehört man rettungslos unter den weitherzigen, ach! so gutmütigen Begriff der canaille. Aber die Deutschen sind canaille – ach! sie sind so gutmütig... Man erniedrigt sich durch den Verkehr mit Deutschen: der Deutsche stellt gleich... Rechne ich meinen Verkehr mit einigen Künstlern, vor allem mit Richard Wagner ab, so habe ich keine gute Stunde mit Deutschen verlebt... Gesetzt, daß der tiefste Geist aller Jahrtausende unter Deutschen erschiene, irgendeine Retterin des Capitols würde wähnen, ihre sehr unschöne Seele käme zum mindesten ebenso in Betracht... Ich halte diese Rasse nicht aus, mit der man immer in schlechter Gesellschaft ist, die keine Finger für nuances hat – wehe mir! ich bin eine nuance –, die keinen esprit in den Füßen hat und nicht einmal gehen kann... Die Deutschen haben zuletzt gar keine Füße, sie haben bloß Beine... Den Deutschen geht jeder Begriff davon ab, wie gemein sie sind, aber das ist der Superlativ der Gemeinheit – sie schämen sich nicht einmal, bloß Deutsche zu sein... Sie reden über alles mit, sie halten sich selbst für entscheidend, ich fürchte, sie haben selbst über mich entschieden...[1150] Mein ganzes Leben ist der Beweis de rigueur für diese Sätze. Umsonst, daß ich in ihm nach einem Zeichen von Takt, von délicatesse gegen mich suche. Von Juden ja, noch nie von Deutschen. Meine Art will es, daß ich gegen jedermann mild und wohlwollend bin – ich habe ein Recht dazu, keine Unterschiede zu machen –: dies hindert nicht, daß ich die Augen offen habe. Ich nehme niemanden aus, am wenigsten meine Freunde, – ich hoffe zuletzt, daß dies meiner Humanität gegen sie keinen Abbruch getan hat! Es gibt fünf, sechs Dinge, aus denen ich mir immer eine Ehrensache gemacht habe. – Trotzdem bleibt wahr, daß ich fast jeden Brief, der mich seit Jahren erreicht, als einen Zynismus empfinde: es liegt mehr Zynismus im Wohlwollen gegen mich als in irgendwelchem Haß... Ich sage es jedem meiner Freunde ins Gesicht, daß er es nie der Mühe für wert hielt, irgendeine meiner Schriften zu studieren: ich errate aus den kleinsten Zeichen, daß sie nicht einmal wissen, was drin steht. Was gar meinen Zarathustra anbetrifft, wer von meinen Freunden hätte mehr darin gesehn als eine unerlaubte, zum Glück vollkommen gleichgültige Anmaßung?... Zehn Jahre: und niemand in Deutschland hat sich eine Gewissensschuld daraus gemacht, meinen Namen gegen das absurde Stillschweigen zu verteidigen, unter dem er vergraben lag: ein Ausländer, ein Däne war es, der zuerst dazu genug Feinheit des Instinkts und Mut hatte, der sich über meine angeblichen Freunde empörte... An welcher deutschen Universität wären heute Vorlesungen über meine Philosophie möglich, wie sie letztes Frühjahr der damit noch einmal mehr bewiesene Psycholog Dr. Georg Brandes in Kopenhagen gehalten hat? – Ich selber habe nie an alledem gelitten; das Notwendige verletzt mich nicht; amor fati ist meine innerste Natur. Dies schließt aber nicht aus, daß ich die Ironie liebe, sogar die welthistorische Ironie. Und so habe ich, zwei Jahre ungefähr vor dem zerschmetternden Blitzschlag der Umwertung, der die Erde in Konvulsionen versetzen wird, den »Fall Wagner« in die Welt geschickt: die Deutschen sollten sich noch einmal unsterblich an mir vergreifen und verewigen! es ist gerade noch Zeit dazu! – Ist das erreicht? – Zum Entzücken, meine Herren Germanen! Ich mache Ihnen mein Kompliment...[1151]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1146-1152.
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Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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