Die Geburt der Tragödie

1

[1108] Um gegen die »Geburt der Tragödie« (1872) gerecht zu sein, wird man einiges vergessen müssen. Sie hat mit dem gewirkt und selbst fasziniert, was an ihr verfehlt war – mit ihrer Nutzanwendung auf die Wagnerei, als ob dieselbe ein Aufgangs-Symptom sei. Diese Schrift war ebendamit im Leben Wagners ein Ereignis: von da an gab es erst große Hoffnungen bei dem Namen Wagner. Noch heute erinnert man mich daran, unter Umständen mitten aus dem Parsifal heraus: wie ich es eigentlich auf dem Gewissen habe, daß eine so hohe Meinung über den Kultur-Wert dieser Bewegung obenauf gekommen sei. – Ich fand die Schrift mehrmals zitiert als »die Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«: man hat nur Ohren für eine neue Formel der Kunst, der Absicht, der Aufgabe Wagners gehabt – darüber wurde überhört, was die Schrift im Grunde Wertvolles barg. »Griechentum und Pessimismus«: das wäre ein unzweideutigerer Titel gewesen: nämlich als erste Belehrung darüber, wie die Griechen fertig wurden mit dem Pessimismus – womit sie ihn überwanden... Die Tragödie gerade ist der Beweis dafür, daß die Griechen keine Pessimisten waren: Schopenhauer vergriff sich hier, wie er sich in allem vergriffen hat. – Mit einiger Neutralität in die Hand genommen, sieht die »Geburt der Tragödie« sehr unzeitgemäß aus: man würde sich nicht träumen lassen, daß sie unter den Donnern der Schlacht bei Wörth begonnen wurde. Ich habe diese Probleme vor den Mauern von Metz, in kalten September-Nächten, mitten im Dienste der Krankenpflege, durchgedacht; man könnte eher schon glauben, daß die Schrift fünfzig Jahre älter sei. Sie ist politisch indifferent – »undeutsch«, wird man heute sagen –, sie riecht anstößig Hegelisch, sie ist nur in einigen Formeln mit dem Leichenbitter-Parfüm Schopenhauers behaftet. Eine »Idee« – der Gegensatz dionysisch und apollinisch – ins Metaphysische übersetzt; die Geschichte selbst als die Entwicklung dieser »Idee«; in der Tragödie der Gegensatz zur Einheit aufgehoben; unter dieser Optik[1108] Dinge, die noch nie einander ins Gesicht gesehen hatten, plötzlich gegenübergestellt, aus einander beleuchtet und begriffen... die Oper zum Beispiel und die Revolution... Die zwei entscheidenden Neuerungen des Buchs sind einmal das Verständnis des dionysischen Phänomens bei den Griechen – es gibt dessen erste Psychologie, es sieht in ihm die eine Wurzel der ganzen griechischen Kunst –. Das andre ist das Verständnis des Sokratismus: Sokrates als Werkzeug der griechischen Auflösung, als typischer décadent zum ersten Male erkannt. »Vernünftigkeit« gegen Instinkt. Die »Vernünftigkeit« um jeden Preis als gefährliche, als leben-untergrabende Gewalt! – Tiefes feindseliges Schweigen über das Christentum im ganzen Buche. Es ist weder apollinisch, noch dionysisch; es negiert alle ästhetischen Werte – die einzigen Werte, die die »Geburt der Tragödie« anerkennt: es ist im tiefsten Sinne nihilistisch, während im dionysischen Symbol die äußerste Grenze der Bejahung erreicht ist. Einmal wird auf die christlichen Priester wie auf eine »tückische Art von Zwergen«, von »Unterirdischen« angespielt...


2

Dieser Anfang ist über alle Maßen merkwürdig. Ich hatte zu meiner innersten Erfahrung das einzige Gleichnis und Seitenstück, das die Geschichte hat, entdeckt – ich hatte ebendamit das wundervolle Phänomen des Dionysischen als der erste begriffen. Insgleichen war damit, daß ich Sokrates als décadent erkannte, ein völlig unzweideutiger Beweis dafür gegeben, wie wenig die Sicherheit meines psychologischen Griffs von seiten irgendeiner Moral-Idiosynkrasie Gefahr laufen werde – die Moral selbst als Décadence-Symptom ist eine Neuerung, eine Einzigkeit ersten Ranges in der Geschichte der Erkenntnis. Wie hoch war ich mit beidem über das erbärmliche Flachkopf-Geschwätz von Optimismus contra Pessimismus hinweggesprungen! – Ich sah zuerst den eigentlichen Gegensatz – den entartenden Instinkt, der sich gegen das Leben mit unterirdischer Rachsucht wendet (– Christentum, die Philosophie Schopenhauers, in gewissem Sinne schon die Philosophie Platos, der ganze Idealismus als typische Formen) und eine aus der Fülle, der Überfülle geborne Formel der höchsten Bejahung, ein Jasagen ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst, zur Schuld selbst, zu allem Fragwürdigen[1109] und Fremden des Daseins selbst... Dieses letzte, freudigste, überschwänglich-übermütigste Ja zum Leben ist nicht nur die höchste Einsicht, es ist auch die tiefste, die von Wahrheit und Wissenschaft am strengsten bestätigte und aufrechterhaltene. Es ist nichts, was ist, abzurechnen, es ist nichts entbehrlich – die von den Christen und andren Nihilisten abgelehnten Seiten des Daseins sind sogar von unendlich höherer Ordnung in der Rangordnung der Werte als das, was der décadence-Instinkt gutheißen, gut heißen durfte. Dies zu begreifen, dazu gehört Mut und, als dessen Bedingung, ein Überschuß von Kraft: denn genau so weit als der Mut sich vorwärtswagen darf, genau nach dem Maß von Kraft nähert man sich der Wahrheit. Die Erkenntnis, das Jasagen zur Realität, ist für den Starken eine ebensolche Notwendigkeit, als für den Schwachen, unter der Inspiration der Schwäche, die Feigheit und Flucht vor der Realität – das »Ideal«... Es steht ihnen nicht frei, zu erkennen: die décadents haben die Lüge nötig – sie ist eine ihrer Erhaltungs-Bedingungen. – Wer das Wort »dionysisch« nicht nur begreift, sondern sich in dem Wort »dionysisch« begreift, hat keine Widerlegung Platos oder des Christentums oder Schopenhauers nötig – er riecht die Verwesung...


3

Inwiefern ich ebendamit den Begriff »tragisch«, die endliche Erkenntnis darüber, was die Psychologie der Tragödie ist, gefunden habe, habe ich zuletzt noch in der Götzen-Dämmerung (II 1032) zum Ausdruck gebracht. »Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen; der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend – das nannte ich dionysisch, das verstand ich als Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters. Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch eine vehemente Entladung zu reinigen – so mißverstand es Aristoteles –: sondern um, über Schrecken und Mitleiden hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schließt...« In diesem Sinne habe ich das Recht, mich selber als den ersten tragischen Philosophen zu verstehn – daß heißt den äußersten Gegensatz und Antipoden eines pessimistischen Philosophen.[1110] Vor mir gibt es diese Umsetzung des dionysischen in ein philosophisches Pathos nicht: es fehlt die tragische Weisheit – ich habe vergebens nach Anzeichen davon selbst bei den großen Griechen der Philosophie, denen der zwei Jahrhunderte vor Sokrates, gesucht. Ein Zweifel blieb mir zurück bei Heraklit, in dessen Nähe überhaupt mir wärmer, mir wohler zumute wird als irgendwo sonst. Die Bejahung des Vergehens und Vernichtens, das Entscheidende in einer dionysischen Philosophie, das Jasagen zu Gegensatz und Krieg, das Werden, mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs »Sein« – darin muß ich unter allen Umständen das mir Verwandteste anerkennen, was bisher gedacht worden ist. Die Lehre von der »ewigen Wiederkunft«, das heißt vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustras könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. Zum mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon. –


4

Aus dieser Schrift redet eine ungeheure Hoffnung. Zuletzt fehlt mir jeder Grund, die Hoffnung auf eine dionysische Zukunft der Musik zurückzunehmen. Werfen wir einen Blick ein Jahrhundert voraus, setzen wir den Fall, daß mein Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung gelingt. Jene neue Partei des Lebens, welche die größte aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung aller Entartenden und Parasitischen, wird jenes Zuviel von Leben auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand wieder erwachsen muß. Ich verspreche ein tragisches Zeitalter: die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewußtsein der härtesten, aber notwendigsten Kriege hinter sich hat, ohne daran zu leiden... Ein Psychologe dürfte noch hinzufügen, daß was ich in jungen Jahren bei Wagnerscher Musik gehört habe, nichts überhaupt mit Wagner zu tun hat; daß wenn ich die dionysische Musik beschrieb, ich das beschrieb, was ich gehört hatte – daß ich instinktiv alles in den neuen Geist übersetzen und transfigurieren mußte, den ich in mir trug. Der[1111] Beweis dafür, so stark als nur ein Beweis sein kann, ist meine Schrift »Wagner in Bayreuth«: an allen psychologisch entscheidenden Stellen ist nur von mir die Rede – man darf rücksichtslos meinen Namen oder das Wort »Zarathustra« hinstellen, wo der Text das Wort Wagner gibt. Das ganze Bild des dithyrambischen Künstlers ist das Bild des präexistenten Dichters des Zarathustra, mit abgründlicher Tiefe hingezeichnet und ohne einen Augenblick die Wagnersche Realität auch nur zu berühren. Wagner selbst hatte einen Begriff davon; er erkannte sich in der Schrift nicht wieder. – Insgleichen hatte sich »der Gedanke von Bayreuth« in etwas verwandelt, das den Kennern meines Zarathustra kein Rätsel-Begriff sein wird: in jenen großen Mittag, wo sich die Auserwähltesten zur größten aller Aufgaben weihen – wer weiß? Die Vision eines Festes, das ich noch erleben werde... Das Pathos der ersten Seiten ist welthistorisch; der Blick, von dem auf der siebenten Seite die Rede ist, ist der eigentliche Zarathustra-Blick; Wagner, Bayreuth, die ganze kleine deutsche Erbärmlichkeit ist eine Wolke, in der eine unendliche Fata Morgana der Zukunft sich spiegelt. Selbst psychologisch sind alle entscheidenden Züge meiner eignen Natur in die Wagners eingetragen – das Nebeneinander der lichtesten und verhängnisvollsten Kräfte, der Wille zur Macht, wie ihn nie ein Mensch besessen hat, die rücksichtslose Tapferkeit im Geistigen, die unbegrenzte Kraft zu lernen, ohne daß der Wille zur Tat damit erdrückt würde. Es ist alles an dieser Schrift vorherverkündend: die Nähe der Wiederkunft des griechischen Geistes, die Notwendigkeit von Gegen-Alexandern, welche den gordischen Knoten der griechischen Kultur wieder binden, nachdem er gelöst war... Man höre den welthistorischen Akzent, mit dem (I 34f.) der Begriff »tragische Gesinnung« eingeführt wird: es sind lauter welthistorische Akzente in dieser Schrift. Dies ist die fremdartigste »Objektivität«, die es geben kann: die absolute Gewißheit darüber, was ich bin, projizierte sich auf irgendeine zufällige Realität – die Wahrheit über mich redete aus einer schauervollen Tiefe. Auf Seite 55 wird der Stil des Zarathustra mit einschneidender Sicherheit beschrieben und vorweggenommen; und niemals wird man einen großartigeren Ausdruck für das Ereignis Zarathustra, den Akt einer ungeheuren Reinigung und Weihung der Menschheit, finden, als er in den Seiten 41 bis 44 gefunden ist. –[1112]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1108-1113.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Ecce Homo
Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Ecce homo: Wie man wird, was man ist.
Der Antichrist / Ecce Homo / Dionysos- Dithyramben.
Ecce Homo, Jubiläumsausgabe
Ecce homo

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Barfüßele

Barfüßele

Die Geschwister Amrei und Dami, Kinder eines armen Holzfällers, wachsen nach dem Tode der Eltern in getrennten Häusern eines Schwarzwalddorfes auf. Amrei wächst zu einem lebensfrohen und tüchtigen Mädchen heran, während Dami in Selbstmitleid vergeht und schließlich nach Amerika auswandert. Auf einer Hochzeit lernt Amrei einen reichen Bauernsohn kennen, dessen Frau sie schließlich wird und so ihren Bruder aus Amerika zurück auf den Hof holen kann. Die idyllische Dorfgeschichte ist sofort mit Erscheinen 1857 ein großer Erfolg. Der Roman erlebt über 40 Auflagen und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon