Das Problem des Sokrates
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[951] Über das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurteilt: es taugt nichts... Immer und überall hat man aus ihrem Munde denselben Klang gehört – einen Klang voll Zweifel, voll Schwermut, voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben. Selbst Sokrates sagte, als er starb: »leben – das heißt lange krank sein: ich bin dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig«. Selbst Sokrates hatte es satt. – Was beweist das? Worauf weist das? – Ehemals hätte man gesagt (– oh, man hat es gesagt und laut genug und unsre Pessimisten voran!): »Hier muß jedenfalls etwas wahr sein! Der consensus sapientium beweist die Wahrheit.« – Werden wir heute noch so reden? dürfen wir das? »Hier muß jedenfalls etwas krank sein« – geben wir zur Antwort: diese Weisesten aller Zeiten, man sollte sie sich erst aus der Nähe ansehn! Waren sie vielleicht allesamt auf den Beinen nicht mehr fest? spät? wackelig? décadents? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden als Rabe, den ein kleiner Geruch von Aas begeistert?...


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Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, daß die großen Weisen Niedergangs-Typen sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurteil entgegensteht: ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch (»Geburt der Tragödie« 1872). Jener consensus sapientium – das begriff ich immer besser – beweist am wenigsten, daß sie recht mit dem hatten, worüber sie übereinstimmten: er beweist vielmehr, daß sie selbst, diese Weisesten, irgendworin physiologisch übereinstimmten, um auf gleiche Weise negativ zum Leben zu stehn – stehn zu müssen. Urteile, Werturteile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Wert als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht – an sich sind solche Urteile Dummheiten. Man muß[951] durchaus seine Finger danach ausstrecken und den Versuch machen, diese erstaunliche finesse zu fassen, daß der Wert des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von einem Toten nicht, aus einem andren Grunde. – Von seiten eines Philosophen im Wert des Lebens ein Problem sehn, bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit. – Wie? und alle diese großen Weisen – sie wären nicht nur décadents, sie wären nicht einmal weise gewesen? – Aber ich komme auf das Problem des Sokrates zurück.


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Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niedersten Volk: Sokrates war Pöbel. Man weiß, man sieht es selbst noch, wie häßlich er war. Aber Häßlichkeit, an sich ein Einwand, ist unter Griechen beinahe eine Widerlegung. War Sokrates überhaupt ein Grieche? Die Häßlichkeit ist häufig genug der Ausdruck einer gekreuzten, durch Kreuzung gehemmten Entwicklung. Im andern Falle erscheint sie als niedergehende Entwicklung. Die Anthropologen unter den Kriminalisten sagen uns, daß der typische Verbrecher häßlich ist: monstrum in fronte, monstrum in animo. Aber der Verbrecher ist ein décadent. War Sokrates ein typischer Verbrecher? – Zum mindesten widerspräche dem jenes berühmte Physiognomen-Urteil nicht, das den Freunden des Sokrates so anstößig klang. Ein Ausländer, der sich auf Gesichter verstand, sagte, als er durch Athen kam, dem Sokrates ins Gesicht, er sei ein monstrum – er berge alle schlimmen Laster und Begierden in sich. Und Sokrates antwortete bloß: »Sie kennen mich, mein Herr!« –


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Auf décadence bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandne Wüstheit und Anarchie in den Instinkten: eben dahin deutet auch die Superfötation des Logischen und jene Rhachitiker-Bosheit, die ihn auszeichnet. Vergessen wir auch jene Gehörs-Halluzinationen nicht, die als »Dämonion des Sokrates«, ins Religiöse interpretiert worden sind. Alles ist übertrieben, buffo, Karikatur an ihm, alles ist zugleich versteckt,[952] hintergedanklich, unterirdisch. – Ich suche zu begreifen, aus welcher Idiosynkrasie jene sokratische Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück stammt: jene bizarrste Gleichsetzung, die es gibt und die insonderheit alle Instinkte des älteren Hellenen gegen sich hat.


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Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zugunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor allem wird damit ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloß. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch mißtraute man allem solchen Präsentieren seiner Gründe. Honette Dinge tragen, wie honette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen muß, ist wenig wert. Überall, wo noch die Autorität zur guten Sitte gehört, wo man nicht »begründet«, sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst: man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst. – Sokrates war der Hanswurst, der sich ernstnehmen machte: was geschah da eigentlich? –


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Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man weiß, daß man Mißtrauen mit ihr erregt, daß sie wenig überredet. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt: die Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird, beweist das. Sie kann nur Notwehr sein, in den Händen solcher, die keine andern Waffen mehr haben. Man muß sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker; Reineke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch? –


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– Ist die Ironie des Sokrates ein Ausdruck von Revolte? von Pöbel-Ressentiment? genießt er als Unterdrückter seine eigne Ferozität in den[953] Messerstichen des Syllogismus? rächt er sich an den Vornehmen, die er fasziniert? – Man hat, als Dialektiker, ein schonungsloses Werkzeug in der Hand; man kann mit ihm den Tyrannen machen; man stellt bloß, indem man siegt. Der Dialektiker überläßt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wütend, er macht zugleich hilflos. Der Dialektiker depotenziert den Intellekt seines Gegners. – Wie? ist Dialektik nur eine Form der Rache bei Sokrates?


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Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates abstoßen konnte: es bleibt um so mehr zu erklären, daß er faszinierte. – Daß er eine neue Art Agon entdeckte, daß er der erste Fechtmeister davon für die vornehmen Kreise Athens war, ist das eine. Er faszinierte, indem er an den agonalen Trieb der Hellenen rührte – er brachte eine Variante in den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen. Sokrates war auch ein großer Erotiker.


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Aber Sokrates erriet noch mehr. Er sah hinter seine vornehmen Athener; er begriff, daß sein Fall, seine Idiosynkrasie von Fall bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von Degenereszenz bereitete sich überall im Stillen vor: das alte Athen ging zu Ende. – Und Sokrates verstand, daß alle Welt ihn nötig hatte – sein Mittel, seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung... Überall waren die Instinkte in Anarchie; überall war man fünf Schritt weit vom Exzeß: das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr. »Die Triebe wollen den Tyrannen machen; man muß einen Gegentyrannen erfinden, der stärker ist«... Als jener Physiognomiker dem Sokrates enthüllt hatte, wer er war, eine Höhle aller schlimmen Begierden, ließ der große Ironiker noch ein Wort verlauten, das den Schlüssel zu ihm gibt. »Dies ist wahr«, sagte er, »aber ich wurde über alle Herr.« Wie wurde Sokrates über sich Herr? – Sein Fall war im Grunde nur der extreme Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die allgemeine Not zu werden anfing: daß niemand mehr über sich Herr war, daß[954] die Instinkte sich gegeneinander wendeten. Er faszinierte als dieser extreme Fall – seine furchteinflößende Häßlichkeit sprach ihn für jedes Auge aus: er faszinierte, wie sich von selbst versteht, noch stärker als Antwort, als Lösung, als Anschein der Kur dieses Falls. –


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Wenn man nötig hat, aus der Vernunft einen Tyrannen zu machen, wie Sokrates es tat, so muß die Gefahr nicht klein sein, daß etwas andres den Tyrannen macht. Die Vernünftigkeit wurde damals erraten als Retterin; es stand weder Sokrates noch seinen »Kranken« frei, vernünftig zu sein – es war de rigueur, es war ihr letztes Mittel. Der Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken auf die Vernünftigkeit wirft, verrät eine Notlage: man war in Gefahr, man hatte nur eine Wahl: entweder zugrunde zu gehn oder – absurd-vernünftig zu sein... Der Moralismus der griechischen Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt: ebenso ihre Schätzung der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heißt bloß: man muß es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz herstellen – das Tageslicht der Vernunft. Man muß klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, ans Unbewußte führt hinab...


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Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates faszinierte: er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nötig, noch den Irrtum aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die »Vernünftigkeit um jeden Preis« lag? – Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, daß sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht außerhalb ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence – sie verändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein Mißverständnis; die ganze Besserungs-Moral, auch die christliche, war ein Mißverständnis... Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewußt,[955] ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andre Krankheit – und durchaus kein Rückweg zur »Tugend«, zur »Gesundheit«, zum Glück... Die Instinkte bekämpfen müssen – das ist die Formel für décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt. –


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– Hat er das selbst noch begriffen, dieser Klügste aller Selbst-Überlister? Sagte er sich das zuletzt, in der Weisheit seines Mutes zum Tode?... Sokrates wollte sterben – nicht Athen, er gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher... »Sokrates ist kein Arzt«, sprach er leise zu sich: »der Tod allein ist hier Arzt... Sokrates selbst war nur lange krank...«[956]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 951-957.
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