[965] Alle Passionen haben eine Zeit, wo sie bloß verhängnisvoll sind, wo sie mit der Schwere der Dummheit ihr Opfer hinunterziehn – und eine spätere, sehr viel spätere, wo sie sich mit dem Geist verheiraten, sich »vergeistigen«. Ehemals machte man, wegen der Dummheit in der Passion, der Passion selbst den Krieg: man verschwor sich zu deren Vernichtung – alle alten Moral-Untiere sind einmütig darüber »il faut tuer les passions«. Die berühmteste Formel dafür steht im Neuen Testament, in jener Bergpredigt, wo, anbei gesagt, die Dinge durchaus nicht aus der Höhe betrachtet werden. Es wird daselbst zum Beispiel mit Nutzanwendung auf die Geschlechtlichkeit gesagt »wenn dich dein Auge ärgert, so reiße es aus«: zum Glück handelt kein Christ nach dieser Vorschrift. Die Leidenschaften und Begierden vernichten, bloß um ihrer Dummheit und den unangenehmen Folgen ihrer Dummheit vorzubeugen, erscheint uns heute selbst bloß als eine akute Form der Dummheit. Wir bewundern die Zahnärzte nicht mehr, welche die Zähne ausreißen, damit sie nicht mehr weh tun... Mit einiger Billigkeit werde andrerseits zugestanden, daß auf dem Boden, aus dem das Christentum gewachsen ist, der Begriff »Vergeistigung der Passion« gar nicht konzipiert werden konnte. Die erste Kirche kämpfte ja, wie bekannt, gegen die »Intelligenten« zugunsten der »Armen des Geistes«: wie dürfte man von ihr einen intelligenten Krieg gegen die Passion erwarten? – Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in jedem Sinne: ihre Praktik, ihre »Kur« ist der Kastratismus. Sie fragt nie: »wie vergeistigt, verschönt, vergöttlicht man eine Begierde?« – sie hat zu allen Zeiten den Nachdruck der Disziplin auf die Ausrottung (der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschsucht, der Habsucht, der Rachsucht) gelegt. – Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heißt das Leben an der Wurzel angreifen: die Praxis der Kirche ist lebensfeindlich...
[965] Dasselbe Mittel, Verschneidung, Ausrottung, wird instinktiv im Kampfe mit einer Begierde von denen gewählt, welche zu willensschwach, zu degeneriert sind, um sich ein Maß in ihr auflegen zu können: von jenen Naturen, die la Trappe nötig haben, im Gleichnis gesprochen (und ohne Gleichnis–), irgendeine endgültige Feindschafts-Erklärung, eine Kluft zwischen sich und einer Passion. Die radikalen Mittel sind nur den Degenerierten unentbehrlich; die Schwäche des Willens, bestimmter geredet die Unfähigkeit, auf einen Reiz nicht zu reagieren, ist selbst bloß eine andre Form der Degenereszenz. Die radikale Feindschaft, die Todfeindschaft gegen die Sinnlichkeit bleibt ein nachdenkliches Symptom: man ist damit zu Vermutungen über den Gesamt-Zustand eines dergestalt Exzessiven berechtigt. – Jene Feindschaft, jener Haß kommt übrigens erst auf seine Spitze, wenn solche Naturen selbst zur Radikal-Kur, zur Absage von ihrem »Teufel« nicht mehr Festigkeit genug haben. Man überschaue die ganze Geschichte der Priester und Philosophen, der Künstler hinzugenommen: das Giftigste gegen die Sinne ist nicht von den Impotenten gesagt, auch nicht von den Asketen, sondern von den unmöglichen Asketen, von solchen, die es nötig gehabt hätten, Asketen zu sein...
Die Vergeistigung der Sinnlichkeit heißt Liebe: sie ist ein großer Triumph über das Christentum. Ein andrer Triumph ist unsre Vergeistigung der Feindschaft. Sie besteht darin, daß man tief den Wert begreift, den es hat, Feinde zu haben: kurz, daß man umgekehrt tut und schließt, als man ehedem tat und schloß. Die Kirche wollte zu allen Zeiten die Vernichtung ihrer Feinde: wir, wir Immoralisten und Antichristen, sehen unsern Vorteil darin, daß die Kirche besteht... Auch im Politischen ist die Feindschaft jetzt geistiger geworden – viel klüger, viel nachdenklicher, viel schonender. Fast jede Partei begreift ihr Selbsterhaltungs-Interesse darin, daß die Gegenpartei nicht von Kräften kommt; dasselbe gilt von der großen Politik. Eine neue Schöpfung zumal, etwa das neue Reich, hat Feinde nötiger als Freunde: im Gegensatz[966] erst fühlt es sich notwendig, im Gegensatz wird es erst notwendig... Nicht anders verhalten wir uns gegen den »inneren Feind«: auch da haben wir die Feindschaft vergeistigt, auch da haben wir ihren Wert begriffen. Man ist nur fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein; man bleibt nur jung unter der Voraussetzung, daß die Seele nicht sich streckt, nicht nach Frieden begehrt... Nichts ist uns fremder geworden als jene Wünschbarkeit von ehedem, die vom »Frieden der Seele«, die christliche Wünschbarkeit; nichts macht uns weniger Neid als die Moral-Kuh und das fette Glück des guten Gewissens. Man hat auf das große Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet... In vielen Fällen freilich ist der »Frieden der Seele« bloß ein Mißverständnis – etwas anderes, das sich nur nicht ehrlicher zu benennen weiß. Ohne Umschweif und Vorurteil ein paar Fälle. »Frieden der Seele« kann zum Beispiel die sanfte Ausstrahlung einer reichen Animalität ins Moralische (oder Religiöse) sein. Oder der Anfang der Müdigkeit, der erste Schatten, den der Abend, jede Art Abend wirft. Oder ein Zeichen davon, daß die Luft feucht ist, daß Südwinde herankommen. Oder die Dankbarkeit wider Wissen für eine glückliche Verdauung (»Menschenliebe« mitunter genannt). Oder das Stille-werden des Genesenden, dem alle Dinge neu schmecken und der wartet... Oder der Zustand, der einer starken Befriedigung unsrer herrschenden Leidenschaft folgt, das Wohlgefühl einer seltnen Sattheit. Oder die Altersschwäche unsres Willens, unsrer Begehrungen, unsrer Laster. Oder die Faulheit, von der Eitelkeit überredet, sich moralisch aufzuputzen. Oder der Eintritt einer Gewißheit, selbst furchtbaren Gewißheit, nach einer langen Spannung und Marterung durch die Ungewißheit. Oder der Ausdruck der Reife und Meisterschaft mitten im Tun, Schaffen, Wirken, Wollen, das ruhige Atmen, die erreichte »Freiheit des Willens«... Götzen-Dämmerung: wer weiß? vielleicht auch nur eine Art »Frieden der Seele«...
– Ich bringe ein Prinzip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral, das heißt jede gesunde Moral, ist von einem Instinkte des Lebens beherrscht – irgendein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten[967] Kanon von »Soll« und »Soll nicht« erfüllt, irgendeine Hemmung und Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit beiseite geschafft. Die widernatürliche Moral, das heißt fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt gerade gegen die Instinkte des Lebens – sie ist eine bald heimliche, bald laute und freche Verurteilung dieser Instinkte. Indem sie sagt »Gott sieht das Herz an«, sagt sie nein zu den untersten und obersten Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Feind des Lebens... Der Heilige, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Kastrat... Das Leben ist zu Ende, wo das »Reich Gottes« anfängt...
Gesetzt, daß man das Frevelhafte einer solchen Auflehnung gegen das Leben begriffen hat, wie sie in der christlichen Moral beinahe sakrosankt geworden ist, so hat man damit, zum Glück, auch etwas andres begriffen: das Nutzlose, Scheinbare, Absurde, Lügnerische einer solchen Auflehnung. Eine Verurteilung des Lebens von seiten des Lebenden bleibt zuletzt doch nur das Symptom einer bestimmten Art von Leben: die Frage, ob mit Recht, ob mit Unrecht, ist gar nicht damit aufgeworfen. Man müßte eine Stellung außerhalb des Lebens haben, und andrerseits es so gut kennen, wie einer, wie viele, wie alle, die es gelebt haben, um das Problem vom Wert des Lebens überhaupt anrühren zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, daß dies Problem ein für uns unzugängliches Problem ist. Wenn wir von Werten reden, reden wir unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das Leben selbst zwingt uns, Werte anzusetzen, das Leben selbst wertet durch uns, wenn wir Werte ansetzen... Daraus folgt, daß auch jene Widernatur von Moral, welche Gott als Gegenbegriff und Verurteilung des Lebens faßt, nur ein Werturteil des Lebens ist – welches Lebens? welcher Art von Leben? – Aber ich gab schon die Antwort: des niedergehenden, des geschwächten, des müden, des verurteilten Lebens. Moral, wie sie bisher verstanden worden ist – wie sie zuletzt noch von Schopenhauer formuliert wurde als »Verneinung des Willens zum Leben« – ist der décadence-Instinkt selbst, der aus sich einen Imperativ macht: sie sagt: »geh zugrunde!« – sie ist das Urteil Verurteilter...
[968] Erwägen wir endlich noch, welche Naivität es überhaupt ist, zu sagen »so und so sollte der Mensch sein!« Die Wirklichkeit zeigt uns einen entzückenden Reichtum der Typen, die Üppigkeit eines verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels: und irgendein armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu: »nein! der Mensch sollte anders sein«?... Er weiß es sogar, wie er sein sollte, dieser Schlucker und Mucker; er malt sich an die Wand und sagt dazu »ecce homo!«... Aber selbst wenn der Moralist sich bloß an den einzelnen wendet und zu ihm sagt: »so und so solltest du sein!« hört er nicht auf, sich lächerlich zu machen. Der einzelne ist ein Stück Fatum von vorne und von hinten, ein Gesetz mehr, eine Notwendigkeit mehr für alles, was kommt und sein wird. Zu ihm sagen »ändere dich« heißt verlangen, daß alles sich ändert, sogar rückwärts noch... Und wirklich, es gab konsequente Moralisten, sie wollten den Menschen anders, nämlich tugendhaft, sie wollten ihn nach ihrem Bilde, nämlich als Mucker: dazu verneinten sie die Welt! Keine kleine Tollheit! Keine bescheidne Art der Unbescheidenheit!... Die Moral, insofern sie verurteilt, an sich, nicht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des Lebens, ist ein spezifischer Irrtum, mit dem man kein Mitleiden haben soll, eine Degenerierten-Idiosynkrasie, die unsäglich viel Schaden gestiftet hat!... Wir anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser Herz weit gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, Gutheißen. Wir verneinen nicht leicht, wir suchen unsre Ehre darin, Bejahende zu sein. Immer mehr ist uns das Auge für jene Ökonomie aufgegangen, welche alles das noch braucht und auszunützen weiß, was der heilige Aberwitz des Priesters, der kranken Vernunft im Priester verwirft, für jene Ökonomie im Gesetz des Lebens, die selbst aus der widerlichen Spezies des Muckers, des Priesters, des Tugendhaften ihren Vorteil zieht – welchen Vorteil? – Aber wir selbst, wir Immoralisten sind hier die Antwort...[969]
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