[941] Inmitten einer düstern und über die Maßen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrechterhalten ist nichts Kleines von Kunststück: und doch, was wäre nötiger als Heiterkeit? Kein Ding gerät, an dem nicht der Übermut seinen Teil hat. Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft. – Eine Umwertung aller Werte, dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, daß es Schatten auf den wirft, der es setzt – ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzuschwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln. Jedes Mittel ist dazu recht, jeder »Fall« ein Glücksfall. Vor allem der Krieg. Der Krieg war immer die große Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister; selbst in der Verwundung liegt noch Heilkraft. Ein Spruch, dessen Herkunft ich der gelehrten Neugierde vorenthalte, war seit langem mein Wahlspruch:
increscunt animi, virescit volnere virtus.
Eine andre Genesung, unter Umständen mir noch erwünschter, ist Götzen aushorchen... Es gibt mehr Götzen als Realitäten in der Welt: das ist mein »böser Blick« für diese Welt, das ist auch mein »böses Ohr«... Hier einmal mit dem Hammer Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort jenen berühmten hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet – welches Entzücken für einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat – für mich alten Psychologen und Rattenfänger, vor dem gerade das, was still bleiben möchte, laut werden muß...
Auch diese Schrift – der Titel verrät es – ist vor allem eine Erholung, ein Sonnenfleck, ein Seitensprung in den Müßiggang eines Psychologen. Vielleicht auch ein neuer Krieg? Und werden neue Götzen ausgehorcht?... Diese kleine Schrift ist eine große Kriegserklärung; und was das Aushorchen von Götzen anbetrifft, so sind es diesmal keine Zeitgötzen, sondern ewige Götzen, an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird – es gibt überhaupt keine älteren, keine überzeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen... Auch keine[941] hohleren... Das hindert nicht, daß sie die geglaubtesten sind; auch sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Götze...
Turin, am 30. September 1888,
am Tage, da das erste Buch der Umwertung aller Werte zu Ende kam.
Friedrich Nietzsche[942]
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Götzen-Dämmerung
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