221

[684] Es kommt vor, sagte ein moralistischer Pedant und Kleinigkeitskrämer, daß ich einen uneigennützigen Menschen ehre und auszeichne: nicht aber, weil er uneigennützig ist, sondern weil er mir ein Recht darauf zu haben scheint, einem andern Menschen auf seine eignen Unkosten zu nützen. Genug, es fragt sich immer, wer er ist und wer jener ist. An einem zum Beispiele, der zum Befehlen bestimmt und gemacht wäre, würde Selbst-Verleugnung und bescheidenes Zurücktreten nicht eine Tugend, sondern die Vergeudung einer Tugend sein: so scheint es mir. Jede unegoistische Moral, welche sich unbedingt nimmt und an jedermann wendet, sündigt nicht nur gegen den Geschmack: sie ist eine Aufreizung zu Unterlassungs-Sünden, eine Verführung mehr unter der Maske der Menschenfreundlichkeit – und gerade eine Verführung und Schädigung der Höheren, Selteneren, Bevorrechteten. Man muß die Moralen zwingen, sich zuallererst vor der Rangordnung zu beugen, man muß ihnen ihre Anmaßung ins Gewissen schieben – bis sie endlich miteinander darüber ins Klare kommen, daß es unmoralisch ist zu sagen: »was dem einen recht ist, ist dem andern billig«. – Also mein moralistischer Pedant und bonhomme: verdiente er es wohl, daß man ihn auslachte, als er die Moralen dergestalt zur Moralität ermahnte? Aber man soll nicht zu viel Recht haben, wenn man die Lacher auf seiner Seite haben will; ein Körnchen Unrecht gehört sogar zum guten Geschmack.


222

Wo heute Mitleiden gepredigt wird – und, recht gehört, wird jetzt keine andre Religion mehr gepredigt – möge der Psycholog seine Ohren aufmachen: durch alle Eitelkeit, durch allen Lärm hindurch, der diesen Predigern (wie allen Predigern) zu eigen ist, wird er einen heiseren, stöhnenden, echten Laut von Selbst- Verachtung hören. Sie gehört zu jener Verdüsterung und Verhäßlichung Europas, welche jetzt ein Jahrhundert lang im Wachsen ist (und deren erste Symptome schon in einem nachdenklichen Briefe Galianis an Madame d'Epinay urkundlich verzeichnet sind): wenn sie nicht deren Ursache ist! Der[685] Mensch der »modernen Ideen«, dieser stolze Affe, ist unbändig mit sich selbst unzufrieden: dies steht fest. Er leidet: und seine Eitelkeit will, daß er nur »mit leidet«...


223

Der europäische Mischmensch – ein leidlich häßlicher Plebejer, alles in allem – braucht schlechterdings ein Kostüm: er hat die Historie nötig als die Vorratskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei daß ihm keines recht auf den Leib paßt – er wechselt und wechselt. Man sehe sich das neunzehnte Jahrhundert auf diese schnellen Vorlieben und Wechsel der Stil-Maskeraden an; auch auf die Augenblicke der Verzweiflung darüber, daß uns »nichts steht« –. Unnütz, sich romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder barokko oder »national« vorzuführen, in moribus et artibus: es »kleidet nicht«! Aber der »Geist«, insbesondre der »historische Geist« ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vorteil: immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht, umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem studiert – wir sind das erste studierte Zeitalter in puncto der »Kostüme«, ich meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet, wie noch keine Zeit es war, zum Karneval großen Stils, zum geistigsten Fasching-Gelächter und Übermut, zur transzendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. Vielleicht, daß wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes – vielleicht daß, wenn auch nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!


224

Der historische Sinn (oder die Fähigkeit, die Rangordnung von Wertschätzungen schnell zu erraten, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat, der »divinatorische Instinkt« für die Beziehungen dieser Wertschätzungen, für das Verhältnis der Autorität der Werte zur Autorität der wirkenden Kräfte): dieser historische Sinn,[686] auf welchen wir Europäer als auf unsre Besonderheit Anspruch machen, ist uns im Gefolge der bezaubernden und tollen Halbbarbarei gekommen, in welche Europa durch die demokratische Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden ist – erst das neunzehnte Jahrhundert kennt diesen Sinn, als seinen sechsten Sinn. Die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise, von Kulturen, die früher hart nebeneinander, übereinander lagen, strömt dank jener Mischung in uns »moderne Seelen« aus, unsre Instinkte laufen nunmehr überallhin zurück, wir selbst sind eine Art Chaos –: schließlich ersieht sich »der Geist«, wie gesagt, seinen Vorteil dabei. Durch unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Kulturen und zu jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und insofern der beträchtlichste Teil der menschlichen Kultur bisher eben Halbbarbarei war, bedeutet »historischer Sinn« beinahe den Sinn und Instinkt für alles, den Geschmack und die Zunge für alles: womit er sich sofort als ein unvornehmer Sinn ausweist. Wir genießen zum Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser glücklichster Vorsprung, daß wir Homer zu schmecken verstehn, welchen die Menschen einer vornehmen Kultur (etwa die Franzosen des siebzehnten Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen wissen und wußten – welchen zu genießen sie sich kaum erlaubten. Das sehr bestimmte Ja und Nein ihres Gaumens, ihr leicht bereiter Ekel, ihre zögernde Zurückhaltung in bezug auf alles Fremdartige, ihre Scheu vor dem Ungeschmack selbst der lebhaften Neugierde, und überhaupt jener schlechte Wille jeder vornehmen und selbstgenügsamen Kultur, sich eine neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen, eine Bewunderung des Fremden einzugestehn: alles dies stellt und stimmt sie ungünstig selbst gegen die besten Dinge der Welt, welche nicht ihr Eigentum sind oder ihre Beute werden könnten – und kein Sinn ist solchen Menschen unverständlicher als gerade der historische Sinn und seine unterwürfige Plebejer-Neugierde. Nicht anders steht es mit Shakespeare, dieser erstaunlichen spanisch-maurisch-sächsischen Geschmacks-Synthesis, über welchen sich ein Altathener aus der Freundschaft des Äschylos halbtot gelacht[687] oder geärgert haben würde: aber wir – nehmen gerade diese wilde Buntheit, dies Durcheinander des Zartesten, Gröbsten und Künstlichsten, mit einer geheimen Vertraulichkeit und Herzlichkeit an, wir genießen ihn als das gerade uns aufgesparte Raffinement der Kunst und lassen uns dabei von den widrigen Dämpfen und der Nähe des englischen Pöbels, in welcher Shakespeares Kunst und Geschmack lebt, so wenig stören als etwa auf der Chiaja Neapels: wo wir mit allen unsren Sinnen, bezaubert und willig, unsres Wegs gehn, wie sehr auch die Kloaken der Pöbel-Quartiere in der Luft sind. Wir Menschen des »historischen Sinns«: wir haben als solche unsre Tugenden, es ist nicht zu bestreiten – wir sind anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer, voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig, sehr entgegenkommend – wir sind mit alledem vielleicht nicht sehr »geschmackvoll«. Gestehen wir es uns schließlich zu: was uns Menschen des »historischen Sinns« am schwersten zu fassen, zu fühlen, nachzuschmecken, nachzulieben ist, was uns im Grunde voreingenommen und fast feindlich findet, das ist gerade das Vollkommne und Letzthin-Reife in jeder Kultur und Kunst, das eigentlich Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick glatten Meers

und halkyonischer Selbstgenugsamkeit, das Goldne und Kalte, welches alle Dinge zeigen, die sich vollendet haben. Vielleicht steht unsre große Tugend des historischen Sinns in einem notwendigen Gegensatz zum guten Geschmacke, mindestens zum allerbesten Geschmacke, und wir vermögen gerade die kleinen kurzen und höchsten Glücksfälle und Verklärungen des menschlichen Lebens, wie sie hier und da einmal aufglänzen, nur schlecht, nur zögernd, nur mit Zwang in uns nachzubilden: jene Augenblicke und Wunder, wo eine große Kraft freiwillig vor dem Maßlosen und Unbegrenzten stehn blieb –, wo ein Überfluß von feiner Lust in der plötzlichen Bändigung und Versteinerung, im Feststehn und Sich-fest-stellen auf einem noch zitternden Boden genossen wurde. Das Maß ist uns fremd, gestehn wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemeßnen. Gleich dem Reiter auf vorwärtsschnaubendem Rosse lassen wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wie Halbbarbaren – und sind erst dort in unsrer Seligkeit, wo wir auch am meisten – in Gefahr sind.


225

[688] Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus: alle diese Denkweisen, welche nach Lust und Leid, das heißt nach Begleitzuständen und Nebensachen den Wert der Dinge messen, sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivitäten, auf welche ein jeder, der sich gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewußt ist nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird. Mitleiden mit euch! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint: das ist nicht Mitleiden mit der sozialen »Not«, mit der »Gesellschaft« und ihren Kranken und Verunglückten, mit Lasterhaften und Zerbrochnen von Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen; das ist noch weniger Mitleiden mit murrenden, gedrückten, aufrührerischen Sklaven-Schichten, welche nach Herrschaft – sie nennen's »Freiheit« – trachten. Unser Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden – wir sehen, wie der Mensch sich verkleinert, wie ihr ihn verkleinert! – und es gibt Augenblicke, wo wir gerade eurem Mitleiden mit einer unbeschreiblichen Beängstigung zusehn, wo wir uns gegen dies Mitleiden wehren – wo wir euren Ernst gefährlicher als irgendwelche Leichtfertigkeit finden. Ihr wollt womöglich – und es gibt kein tolleres »womöglich« – das Leiden abschaffen; und wir? – es scheint gerade, wir wollen es lieber noch höher und schlimmer haben, als je es war! Wohlbefinden, wie ihr es versteht – das ist ja kein Ziel, das scheint uns ein Ende! Ein Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich macht – der seinen Untergang wünschen macht! Die Zucht des Leidens, des großen Leidens – wißt ihr nicht, daß nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick des großen Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimnis, Maske, Geist, List, Größe geschenkt worden ist – ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des großen Leidens geschenkt worden? Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluß, Lehm, Kot, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter[689] Tag – versteht ihr diesen Gegensatz? Und daß euer Mitleid dem »Geschöpf im Menschen« gilt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglüht, geläutert werden muß – dem, was notwendig leiden muß und leiden soll? Und unser Mitleid – begreift ihr's nicht, wem unser umgekehrtes Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid wehrt, als gegen die schlimmste aller Verzärtelungen und Schwächen? – Mitleid also gegen Mitleid! – Aber, nochmals gesagt, es gibt höhere Probleme als alle Lust- und Leid- und Mitleid-Probleme; und jede Philosophie, die nur auf diese hinausläuft, ist eine Naivität. –


226

Wir Immoralisten! – Diese Welt, die uns angeht, in der wir zu fürchten und zu lieben haben, diese beinahe unsichtbare unhörbare Welt feinen Befehlens, feinen Gehorchens, eine Welt des »Beinahe« in jedem Betrachte, häklig, verfänglich, spitzig, zärtlich: ja, sie ist gut verteidigt gegen plumpe Zuschauer und vertrauliche Neugierde! Wir sind in ein strenges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen und können da nicht heraus –, darin eben sind wir »Menschen der Pflicht«, auch wir! Bisweilen, es ist wahr, tanzen wir wohl in unsern »Ketten« und zwischen unsern »Schwertern«; öfter, es ist nicht minder wahr, knirschen wir darunter und sind ungeduldig über all die heimliche Härte unsres Geschicks. Aber wir mögen tun, was wir wollen: die Tölpel und der Augenschein sagen gegen uns »das sind Menschen ohne Pflicht« – wir haben immer die Tölpel und den Augenschein gegen uns!


227

Redlichkeit – gesetzt, daß dies unsre Tugend ist, von der wir nicht loskönnen, wir freien Geister – nun, wir wollen mit aller Bosheit und Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in unsrer Tugend, die allein uns übrigblieb, zu »vervollkommnen«: mag ihr Glanz einmal wie ein vergoldetes blaues spöttisches Abendlicht über dieser alternden Kultur und ihrem dumpfen düstern Ernst liegenbleiben! Und wenn dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird und seufzt und die Glieder streckt und uns zu hart findet und es besser, leichter,[690] zärtlicher haben möchte, gleich einem angenehmen Laster: bleiben wir hart, wir letzten Stoiker! und schicken wir ihr zu Hilfe, was wir nur an Teufelei in uns haben – unsern Ekel am Plumpen und Ungefähren, unser »nitimur in vetitum«, unsern Abenteurer-Mut, unsre gewitzte und verwöhnte Neugierde, unsern feinsten verkapptesten geistigsten Willen zur Macht und Welt-Überwindung, der begehrlich um alle Reiche der Zukunft schweift und schwärmt – kommen wir unserm »Gotte« mit allen unsern »Teufeln« zuhilfe! Es ist wahrscheinlich, daß man uns darob verkennt und verwechselt: was liegt daran! Man wird sagen: »ihre ›Redlichkeit‹ – das ist ihre Teufelei, und gar nichts mehr!« was liegt daran! Und selbst wenn man Recht hätte! Waren nicht alle Götter bisher dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel? Und was wissen wir zuletzt von uns? Und wie der Geist heißen will, der uns führt (es ist eine Sache der Namen)? Und wie viele Geister wir bergen? Unsre Redlichkeit, wir freien Geister – sorgen wir dafür, daß sie nicht unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit werde! Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend; »dumm bis zur Heiligkeit« sagt man in Rußland, – sorgen wir dafür, daß wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu Heiligen und Langweiligen werden! Ist das Leben nicht hundertmal zu kurz, sich in ihm – zu langweilen? Man müßte schon ans ewige Leben glauben, um...


228

Man vergebe mir die Entdeckung, daß alle Moral-Philosophie bisher langweilig war und zu den Schlafmitteln gehörte – und daß »die Tugend« durch nichts mehr in meinen Augen beeinträchtigt worden ist als durch diese Langweiligkeit ihrer Fürsprecher; womit ich noch nicht deren allgemeine Nützlichkeit verkannt haben möchte. Es liegt viel daran, daß so wenig Menschen als möglich über Moral nachdenken – es liegt folglich sehr viel daran, daß die Moral nicht etwa eines Tages interessant werde! Aber man sei unbesorgt! Es steht auch heute noch so, wie es immer stand: ich sehe niemanden in Europa, der einen Begriff davon hätte (oder gäbe), daß das Nachdenken über Moral gefährlich, verfänglich, verführerisch getrieben werden könnte – daß [691] Verhängnis darin liegen könnte! Man sehe sich zum Beispiel die unermüdlichen unvermeidlichen englischen Utilitarier an, wie sie plump und ehrenwert in den Fußtapfen Benthams daherwandeln, dahinwandeln (ein homerisches Gleichnis sagt es deutlicher), so wie er selbst schon in den Fußtapfen des ehrenwerten Helvétius wandelte (nein, das war kein gefährlicher Mensch, dieser Helvétius, ce sénateur Pococurante, mit Galiani zu reden –). Kein neuer Gedanke, nichts von feinerer Wendung und Faltung eines alten Gedankens, nicht einmal eine wirkliche Historie des früher Gedachten: eine unmögliche Literatur im ganzen, gesetzt, daß man sie nicht mir einiger Bosheit sich einzusäuern versteht. Es hat sich nämlich auch in diese Moralisten (welche man durchaus mit Nebengedanken lesen muß, falls man sie lesen muß –) jenes alte englische Laster eingeschlichen, das cant heißt und moralische Tartüfferie ist, diesmal unter die neue Form der Wissenschaftlichkeit versteckt; es fehlt auch nicht an geheimer Abwehr von Gewissensbissen, an denen billiger weise eine Rasse von ehemaligen Puritanern bei aller wissenschaftlichen Befassung mit Moral leiden wird. (Ist ein Moralist nicht das Gegenstück eines Puritaners? Nämlich als ein Denker, der die Moral als fragwürdig, fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt? Sollte Moralisieren nicht – unmoralisch sein?) Zuletzt wollen sie alle, daß die englische Moralität recht bekomme: insofern gerade damit der Menschheit, oder dem »allgemeinen Nutzen« oder »dem Glück der Meisten«, nein! dem Glücke Englands am besten gedient wird; sie möchten mit allen Kräften sich beweisen, daß das Streben nach englischem Glück, ich meine nach comfort und fashion (und, an höchster Stelle, einem Sitz im Parlament), zugleich auch der rechte Pfad der Tugend sei, ja daß, so viel Tugend es bisher in der Welt gegeben hat, es eben in einem solchen Streben bestanden habe. Keins von allen diesen schwerfälligen, im Gewissen beunruhigten Herdentieren (die die Sache des Egoismus als Sache der allgemeinen Wohlfahrt zu führen unternehmen –) will etwas davon wissen und riechen, daß die »allgemeine Wohlfahrt« kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie faßbarer Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist – daß, was dem einen billig ist, durchaus noch nicht dem andern billig sein kann, daß die Forderung einer Moral für alle die Beeinträchtigung gerade der höheren Menschen ist, kurz, daß es eine Rangordnung zwischen Mensch und[692] Mensch, folglich auch zwischen Moral und Moral gibt. Es ist eine bescheidene und gründlich mittelmäßige Art Mensch, diese utilitarischen Engländer, und, wie gesagt: insofern sie langweilig sind, kann man nicht hoch genug von ihrer Utilität denken. Man sollte sie noch ermutigen: wie es, zum Teil, mit nachfolgenden Reimen versucht worden ist.


Heil euch, brave Karrenschieber,

Stets »je länger, desto lieber«,

Steifer stets an Kopf und Knie,

Unbegeistert, ungespäßig,

Unverwüstlich-mittelmäßig

Sans génie et sans esprit!


229

Es bleibt in jenen späten Zeitaltern, die auf Menschlichkeit stolz sein dürfen, so viel Furcht, so viel Aberglaube der Furcht vor dem »wilden grausamen Tiere« zurück, über welches Herr geworden zu sein eben den Stolz jener menschlicheren Zeitalter ausmacht, daß selbst handgreifliche Wahrheiten wie auf Verabredung jahrhundertelang unausgesprochen bleiben, weil sie den Anschein haben, jenem wilden, endlich abgetöteten Tiere wieder zum Leben zu verhelfen. Ich wage vielleicht etwas, wenn ich eine solche Wahrheit mir entschlüpfen lasse: mögen andre sie wieder einfangen und ihr so viel »Milch der frommen Denkungsart« zu trinken geben, bis sie still und vergessen in ihrer alten Ecke liegt. – Man soll über die Grausamkeit umlernen und die Augen aufmachen; man soll endlich Ungeduld lernen, damit nicht länger solche unbescheidne dicke Irrtümer tugendhaft und dreist herumwandeln, wie sie zum Beispiel in betreff der Tragödie von alten und neuen Philosophen aufgefüttert worden sind. Fast alles, was wir »höhere Kultur« nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit – dies ist mein Satz; jenes »wilde Tier« ist gar nicht abgetötet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur – vergöttlicht. Was die schmerzliche Wollust der Tragödie ausmacht, ist Grausamkeit; was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar in allem Erhabnen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schaudern der[693] Metaphysik, angenehm wirkt, bekommt seine Süßigkeit allein von der eingemischten Ingredienz der Grausamkeit. Was der Römer in der Arena, der Christ in den Entzückungen des Kreuzes, der Spanier angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, der Japanese von heute, der sich zur Tragödie drängt, der Pariser Vorstadt-Arbeiter, der ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat, die Wagnerianerin, welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich »ergehen läßt« – was diese alle genießen und mit geheimnisvoller Brunst in sich hineinzutrinken trachten, das sind die Würztränke der großen Circe »Grausamkeit«. Dabei muß man freilich die tölpelhafte Psychologie von ehedem davonjagen, welche von der Grausamkeit nur zu lehren wußte, daß sie beim Anblicke fremden Leides entstünde: es gibt einen reichlichen, überreichlichen Genuß auch am eignen Leiden, am eignen Sich-leiden-machen – und wo nur der Mensch zur Selbst-Verleugnung im religiösen Sinne oder zur Selbst-Verstümmlung, wie bei Phöniziern und Asketen, oder überhaupt zur Entsinnlichung, Entfleischung, Zerknirschung, zum puritanischen Bußkrampfe, zur Gewissens-Vivisektion und zum Pascalschen sacrifizio dell' intelletto sich überreden läßt, da wird er heimlich durch seine Grausamkeit gelockt und vorwärtsgedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der gegen sich selbst gewendeten Grausamkeit. Zuletzt erwäge man, daß selbst der Erkennende, indem er seinen Geist zwingt, wider den Hang des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche seines Herzens zu erkennen – nämlich Nein zu sagen, wo er bejahen, lieben, anbeten möchte –, als Künstler und Verklärer der Grausamkeit waltet; schon jedes Tief- und Gründlich-Nehmen ist eine Vergewaltigung, ein Wehe-tun-Wollen am Grundwillen des Geistes, welcher unablässig zum Scheine und zu den Oberflächen hin will – schon in jedem Erkennenwollen ist ein Tropfen Grausamkeit.


230

Vielleicht versteht man nicht ohne weiteres, was ich hier von einem »Grundwillen des Geistes« gesagt habe: man gestatte mir eine Erläuterung. – Das befehlerische Etwas, das vom Volke der »Geist« genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen: es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden,[694] bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin dieselben, wie sie die Physiologen für alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen, das Mannigfaltige zu vereinfachen, das gänzlich Widersprechende zu übersehen oder wegzustoßen: ebenso wie er bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück »Außenwelt« willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zurechtfälscht. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer »Erfahrungen«, auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen – auf Wachstum also; bestimmter noch, auf das Gefühl des Wachstums, auf das Gefühl der vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar entgegengesetzter Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender Entschluß zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschließung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-herankommen-lassen, eine Art Verteidigungs-Zustand gegen vieles Wißbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschließenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gut-heißen der Unwissenheit: wie dies alles nötig ist je nach dem Grade seiner aneignenden Kraft, seiner »Verdauungskraft«, im Bilde geredet – und wirklich gleicht »der Geist« am meisten noch einem Magen. Insgleichen gehört hierher der gelegentliche Wille des Geistes, sich täuschen zu lassen, vielleicht mit einer mutwilligen Ahnung davon, daß es so und so nicht steht, daß man es so und so eben nur gelten läßt, eine Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender Selbstgenuß an der willkürlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels, am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrößerten, Verkleinerten, Verschobenen, Verschönerten, ein Selbstgenuß an der Willkürlichkeit aller dieser Machtäußerungen. Endlich gehört hierher jene nicht unbedenkliche Bereitwilligkeit des Geistes, andre Geister zu täuschen und sich vor ihnen zu verstellen, jener beständige Druck und Drang einer schaffenden, bildenden, wandelfähigen Kraft: der Geist genießt darin seine Masken-Vielfältigkeit und Verschlagenheit, er genießt auch das Gefühl seiner Sicherheit darin – gerade durch seine Proteuskünste ist er ja am besten verteidigt und versteckt! – Diesem Willen zum Schein, zur Vereinfachung,[695] zur Maske, zum Mantel, kurz zur Oberfläche – denn jede Oberfläche ist ein Mantel – wirkt jener sublime Hang des Erkennenden entgegen, der die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und nehmen will: als eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks, welche jeder tapfere Denker bei sich anerkennen wird, gesetzt daß er, wie sich gebührt, sein Auge für sich selbst lange genug gehärtet und gespitzt hat und an strenge Zucht, auch an strenge Worte gewöhnt ist. Er wird sagen »es ist etwas Grausames im Hange meines Geistes« – mögen die Tugendhaften und Liebenswürdigen es ihm auszureden suchen! In der Tat, es klänge artiger, wenn man uns, statt der Grausamkeit, etwa eine »ausschweifende Redlichkeit« nachsagte, nachraunte, nachrühmte – uns freien, sehr freien Geistern – und so klingt vielleicht wirklich einmal unser – Nachruhm? Einstweilen – denn es hat Zeit bis dahin – möchten wir selbst wohl am wenigsten geneigt sein, uns mit dergleichen moralischen Wort-Flittern und -Fransen aufzuputzen: unsre ganze bisherige Arbeit verleidet uns gerade diesen Geschmack und seine muntere Üppigkeit. Es sind schöne glitzernde klirrende festliche Worte: Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung für

die Erkenntnis, Heroismus des Wahrhaftigen – es ist etwas daran, das einem den Stolz schwellen macht. Aber wir Einsiedler und Murmeltiere, wir haben uns längst in aller Heimlichkeit eines Einsiedler-Gewissens überredet, daß auch dieser würdige Wort-Prunk zu dem alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewußten menschlichen Eitelkeit gehört, und daß auch unter solcher schmeichlerischen Farbe und Übermalung der schreckliche Grundtext homo natura wieder herauserkannt werden muß. Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden; machen, daß der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen Natur steht, mit unerschrocknen Ödipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: »du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Herkunft!« – das mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine Aufgabe – wer[696] wollte das leugnen! Warum wir sie wählten, diese tolle Aufgabe? Oder anders gefragt: »warum überhaupt Erkenntnis?« – Jedermann wird uns danach fragen. Und wir, solchermaßen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male selbst schon ebenso gefragt haben, wir fanden und finden keine bessere Antwort...

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 684-697.
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