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[594] Die Früchte nach der Jahreszeit. – Jede bessere Zukunft, welche man der Menschheit anwünscht, ist notwendigerweise auch in manchem Betracht eine schlechtere Zukunft: denn es ist Schwärmerei zu glauben, daß eine höhere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzüge früherer Stufen in sich vereinigen werde und zum Beispiel auch die höchste Gestaltung der Kunst erzeugen müsse. Vielmehr hat jede Jahreszeit ihre Vorzüge und Reize für sich und schließt die der anderen aus. Das, was aus der Religion und in ihrer Nachbarschaft gewachsen ist, kann nicht wieder wachsen, wenn diese zerstört ist; höchstens können verirrte, spätkommende Absenker zur Täuschung darüber verleiten, ebenso wie die zeitweilig ausbrechende Erinnerung an die alte Kunst: ein Zustand, der wohl das Gefühl des Verlustes, der Entbehrung verrät, aber kein Beweis für die Kraft ist, aus der eine neue Kunst geboren werden könnte.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 594.
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Menschliches, Allzumenschliches
TITLE: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.4, Bd.4, Nachbericht zur vierten Abteilung: Richard Wagner in Bayreuth; Menschliches, Allzumenschliches I-II; Nachgelassene Fragmente 1875-1879
Menschliches, Allzumenschliches, I und II. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister. Mit einem Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow (insel taschenbuch)
Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister (insel taschenbuch)