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[582] Abendröte der Kunst. – Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und Gedächtnisfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältnis einer rührenden Erinnerung an die Freuden der Jugend. Vielleicht daß niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll erfaßt wurde wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche an einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Wehmut und Tränen darüber, daß immer mehr die ausländische Barbarei über ihre mitgebrachten Sitten triumphiere; niemals hat man wohl das Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher Wollust geschlürft als unter diesen absterbenden Hellenen. Den Künstler wird man bald als ein herrliches Überbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hing, Ehren erweisen, wie wir sie nicht gleich unseresgleichen gönnen. Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.[582]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 582-583.
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Menschliches, Allzumenschliches
TITLE: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.4, Bd.4, Nachbericht zur vierten Abteilung: Richard Wagner in Bayreuth; Menschliches, Allzumenschliches I-II; Nachgelassene Fragmente 1875-1879
Menschliches, Allzumenschliches, I und II. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister. Mit einem Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow (insel taschenbuch)
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