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[923] Literatur und Moralität sich erklärend. – Man kann an der griechischen Literatur zeigen, durch welche Kräfte der griechische Geist sich entfaltete, wie er in verschiedene Bahnen geriet und woran er schwach wurde. Alles das gibt ein Bild davon ab, wie es im Grunde auch mit der griechischen Moralität zugegangen ist und wie es mit jeder Moralität zugehen wird: wie sie erst Zwang war, erst Härte zeigte, dann allmählich milder wurde, wie endlich Lust an gewissen Handlungen, an gewissen Konventionen und Formen entstand, und daraus wieder ein Hang zur alleinigen Ausübung, zum Alleinbesitz derselben: wie die Bahn sich mit Wettbewerbenden füllt und überfüllt, wie Übersättigung eintritt, neue Gegenstände des Kampfes und Ehrgeizes aufgesucht, veraltete ins Leben erweckt werden, wie das Schauspiel sich wiederholt und die Zuschauer des Zuschauens überhaupt müde werden, weil nun der ganze Kreis durchlaufen scheint – – und dann kommt ein Stillestehen, ein Ausatmen: die Bäche verlieren sich im Sande. Es ist das Ende da, wenigstens ein Ende.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 923.
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Ausgewählte Ausgaben von
Menschliches, Allzumenschliches
TITLE: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.4, Bd.4, Nachbericht zur vierten Abteilung: Richard Wagner in Bayreuth; Menschliches, Allzumenschliches I-II; Nachgelassene Fragmente 1875-1879
Menschliches, Allzumenschliches, I und II. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister. Mit einem Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow (insel taschenbuch)
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