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[934] Sebastian Bach. – Sofern man Bachs Musik nicht als vollkommener und gewitzigter Kenner des Kontrapunktes und aller Arten des fugierten Stiles hört, und demgemäß des eigentlichen artistischen Genusses entraten muß, wird es uns als Hörern seiner Musik zumute sein (um uns grandios mit Goethe auszudrücken), als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf. Das heißt: wir fühlen, daß hier etwas Großes im Werden ist, aber noch nicht ist: unsere große moderne Musik. Sie hat schon die Welt überwunden, dadurch, daß sie die Kirche, die Nationalitäten und den Kontrapunkt überwand. In Bach ist noch zu viel krude Christlichkeit, krudes Deutschtum, krude Scholastik; er steht an der Schwelle der europäischen (modernen) Musik, aber schaut sich von hier nach dem Mittelalter um.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 934.
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Menschliches, Allzumenschliches
TITLE: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.4, Bd.4, Nachbericht zur vierten Abteilung: Richard Wagner in Bayreuth; Menschliches, Allzumenschliches I-II; Nachgelassene Fragmente 1875-1879
Menschliches, Allzumenschliches, I und II. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister. Mit einem Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow (insel taschenbuch)
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