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[1125] Die unbedingten Huldigungen. – Wenn ich an den gelesensten deutschen Philosophen, an den gehörtesten deutschen Musiker und an den angesehensten deutschen Staatsmann denke: so muß ich mir eingestehen: es wird den Deutschen, diesem Volke der unbedingten Gefühle, jetzt recht sauer gemacht, und zwar von ihren eigenen großen Männern. Es gibt da dreimal ein prachtvolles Schauspiel zu sehen: jedesmal einen Strom, in seinem eignen, selbstgegrabenen Strombette, und so mächtig bewegt, daß es öfter scheinen könnte, als wollte er den Berg hinaufströmen. Und dennoch, wie weit man seine Verehrung auch treiben möge: wer möchte nicht gern andrer Meinung sein als Schopenhauer, im ganzen und großen! – Und wer könnte jetzt einer Meinung mit Richard Wagner sein, im ganzen und im kleinen? so wahr es auch sein mag, was jemand gesagt hat, daß überall, wo er Anstoß nimmt und wo er Anstoß gibt, ein Problem vergraben liegt, – genug, er selber bringt es nicht an das Licht. – Und endlich, wie viele möchten von ganzem Herzen mit Bismarck einer Meinung sein, wenn er selber nur mit sich einer Meinung wäre oder auch nur Miene machte, es fürderhin zu sein! Zwar: ohne Grundsätze, aber mit Grundtrieben, ein beweglicher Geist im Dienste starker Grundtriebe, und eben deshalb ohne Grundsätze – das sollte an einem Staatsmanne nichts Auffälliges haben, vielmehr als das Rechte und Naturgemäße gelten; aber leider war es bisher so durchaus nicht deutsch! ebenso wenig als Lärm um Musik und Mißklang und Mißmut um den Musiker, ebenso wenig als die neue und außerordentliche Stellung, welche Schopenhauer wählte: nämlich weder über den Dingen, noch auf den Knien vor den Dingen[1125] – beides hätte noch deutsch heißen können –, sondern gegen die Dinge! Unglaublich! Und unangenehm! Sich in eine Reihe mit den Dingen stellen und doch als ihr Gegner, zu guter Letzt gar als der Gegner seiner selber! – was kann der unbedingte Verehrer mit einem solchen Vorbilde anfangen! Und was überhaupt mit drei solchen Vorbildern, die untereinander selber nicht Frieden halten wollen! Da ist Schopenhauer ein Gegner der Musik Wagners, und Wagner ein Gegner der Politik Bismarcks, und Bismarck ein Gegner aller Wagnerei und Schopenhauerei! Was bleibt da zu tun! Wohin sich mit seinem Durste nach der »Huldigung in Bausch und Bogen« flüchten! Könnte man sich vielleicht aus der Musik des Musikers einige hundert Takte guter Musik auslesen, die sich einem ans Herz legen und denen man sich gern ans Herz legt, weil sie ein Herz haben, – könnte man mit diesem kleinen Raub beiseite gehen und den ganzen Rest – vergessen! Und ein eben solches Abkommen in Hinsicht des Philosophen und des Staatsmannes ausfindig machen – auslesen, sich ans Herz legen und namentlich den Rest vergessen! Ja, wenn nur das Vergessen nicht so schwer wäre! Da gab es einen sehr stolzen Menschen, der durchaus nur von sich selber etwas annehmen wollte, Gutes und Schlimmes: als er aber das Vergessen nötig hatte, konnte er es sich selber nicht geben, sondern mußte dreimal die Geister beschwören; sie kamen, sie hörten sein Verlangen, und zuletzt sagten sie: »nur dies gerade steht nicht in unserer Macht!« Sollten die Deutschen sich die Erfahrung Manfreds nicht zunutze machen? Warum erst noch die Geister beschwören! Es ist unnütz, man vergißt nicht, wenn man vergessen will. Und wie groß wäre »der Rest«, den man hier, von diesen drei Größen der Zeit, vergessen müßte, um fürderhin ihr Verehrer in Bausch und Bogen sein zu können! Da ist es doch rätlicher, die gute Gelegenheit zu benutzen und etwas Neues zu versuchen: nämlich in der Redlichkeit gegen sich selber zuzunehmen und aus einem Volke des gläubigen Nachsprechens und der bitterbösen, blinden Feindseligkeit ein Volk der bedingten Zustimmung und der wohlwollenden Gegnerschaft zu werden; zunächst aber zu lernen, daß unbedingte Huldigungen vor Personen etwas Lächerliches sind, daß hierin umlernen auch für Deutsche nicht unrühmlich ist, und daß es einen tiefen, beherzigenswerten Spruch gibt: »Ce qui importe, ce ne sont point les personnes: mais les choses.«[1126] Dieser Spruch ist wie der, welcher ihn sprach, groß, brav, einfach und schweigsam – ganz wie Carnot, der Soldat und der Republikaner. – Aber darf man jetzt so von einem Franzosen zu Deutschen sprechen, noch dazu von einem Republikaner? Vielleicht nicht; ja vielleicht darf man nicht einmal daran erinnern, was Niebuhr seinerzeit den Deutschen sagen durfte: niemand habe ihm so sehr den Eindruck der wahren Größe gegeben als Carnot.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1125-1127.
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