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[1144] Die Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung. – Man überschlage den Beitrag, den die Deutschen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit ihrer geistigen Arbeit der allgemeinen Kultur gebracht haben, und nehme erstens die deutschen Philosophen: sie sind auf die erste und älteste Stufe der Spekulation zurückgegangen, denn sie fanden in Begriffen ihr Genüge, anstatt in Erklärungen, gleich den Denkern träumerischer Zeitalter, – eine vorwissenschaftliche Art der Philosophie wurde durch sie wieder lebendig gemacht. Zweitens die deutschen Historiker und Romantiker: ihre allgemeine Bemühung ging dahin, ältere, primitive Empfindungen und namentlich das Christentum, die Volksseele, Volkssage, Volkssprache, die Mittelalterlichkeit, die orientalische Asketik, das Indertum zu Ehren zu bringen. Drittens die Naturforscher: sie kämpften gegen Newtons und Voltaires Geist und suchten, gleich Goethe und Schopenhauer, den Gedanken einer[1144] vergöttlichten oder verteufelten Natur und ihrer durchgängigen ethischen und symbolischen Bedeutsamkeit wieder aufrecht zu stellen. Der ganze große Hang der Deutschen ging gegen die Aufklärung und gegen die Revolution der Gesellschaft, welche mit grobem Mißverständnis als deren Folge galt: die Pietät gegen alles noch Bestehende suchte sich in Pietät gegen alles, was bestanden hat, umzusetzen, nur damit Herz und Geist wieder einmal voll würden und keinen Raum mehr für zukünftige und neuernde Ziele hätten. Der Kultus des Gefühls wurde aufgerichtet an Stelle des Kultus der Vernunft, und die deutschen Musiker, als die Künstler des Unsichtbaren, Schwärmerischen, Märchenhaften, Sehnsüchtigen, bauten an dem neuen Tempel erfolgreicher als alle Künstler des Wortes und der Gedanken. Bringen wir in Anrechnung, daß unzähliges Gute im einzelnen gesagt und erforscht worden ist und manches seitdem billiger beurteilt wird als jemals: so bleibt doch übrig, vom Ganzen zu sagen, daß es keine geringe allgemeine Gefahr war, unter dem Anscheine der voll- und endgültigsten Erkenntnis des Vergangenen die Erkenntnis überhaupt unter das Gefühl hinabzudrücken und – um mit Kant zu reden, der so seine eigene Aufgabe bestimmte – »dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Grenzen wies«. Atmen wir wieder freie Luft: die Stunde dieser Gefahr ist vorübergegangen! Und seltsam: gerade die Geister, welche von den Deutschen so beredt beschworen wurden, sind auf die Dauer den Absichten ihrer Beschwörer am schädlichsten geworden, – die Historie, das Verständnis des Ursprungs und der Entwicklung, die Mitempfindung für das Vergangne, die neu erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntnis, nachdem sie alle eine Zeitlang hilfreiche Gesellen des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes schienen, haben eines Tages eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien eben jener Aufklärung, wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen – unbekümmert darum, daß es eine »große Revolution« und wiederum eine »große Reaktion« gegen dieselbe gegeben hat, ja daß es beides noch gibt: es sind doch nur Wellenspiele, im Vergleiche mit der wahrhaft großen Flut, in welcher wir treiben und treiben wollen!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1144-1145.
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