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[1148] Zur Pflege der Gesundheit. – Man hat kaum angefangen, über die Physiologie der Verbrecher nachzudenken, und doch steht man schon vor der unabweislichen Einsicht, daß zwischen Verbrechern und Geisteskranken kein wesentlicher Unterschied besteht: vorausgesetzt daß man glaubt, die übliche moralische Denkweise sei die Denkweise der geistigen Gesundheit. Kein Glaube aber wird jetzt so gut noch geglaubt wie dieser, und so scheue man sich nicht, seine Konsequenz zu ziehen und den Verbrecher wie einen Geisteskranken zu behandeln: vor allem nicht mit hochmütiger Barmherzigkeit, sondern mit ärztlicher Klugheit, ärztlichem guten Willen. Es tut ihm Luftwechsel, andere Gesellschaft, zeitweiliges Verschwinden, vielleicht Alleinsein und eine neue Beschäftigung not – gut! Vielleicht findet er es selber in seinem Vorteil, eine Zeit hindurch in einem Gewahrsam zu leben, um so Schutz gegen sich selber und einen lästigen tyrannischen Trieb zu finden, – gut! Man soll ihm die Möglichkeit und die Mittel des Geheiltwerdens (der Ausrottung, Umbildung, Sublimierung jenes Triebes) ganz klar vorlegen, auch, im schlimmen Falle, die Unwahrscheinlichkeit desselben; man soll dem unheilbaren Verbrecher, der sich selber zum Greuel geworden ist, die Gelegenheit zum Selbstmord anbieten. Dies als äußerstes Mittel der Erleichterung vorbehalten, soll man nichts verabsäumen, um vor allem dem Verbrecher den guten Mut und die Freiheit des Gemütes wiederzugeben; man soll Gewissensbisse wie eine Sache der Unreinlichkeit ihm von der Seele wischen und ihm Fingerzeige geben, wie er den Schaden, welchen er vielleicht an dem einen geübt, durch eine Wohltat am andern, ja vielleicht an der Gesamtheit ausgleichen und überbieten könne. Alles in äußerster Schonung! Und namentlich in Anonymität oder unter neuen Namen und mit häufigerem Ortswechsel, damit die Unbescholtenheit des Rufes und sein künftiges Leben so wenig wie möglich dabei Gefahr laufe. Jetzt zwar will immer noch der, welchem ein Schaden zugefügt ist, ganz abgesehen davon, wie dieser Schaden etwa gut zu machen ist, seine Rache haben und wendet sich ihrethalben an die Gerichte – und dies hält einstweilen unsere abscheulichen Strafordnungen noch aufrecht, samt ihrer Krämerwaage und dem Aufwiegenwollen der Schuld[1149] durch die Strafe: aber dürften wir nicht hierüber hinaus kommen können? Wie erleichtert wäre das allgemeine Gefühl des Lebens, wenn man mit dem Glauben an die Schuld auch vom alten Instinkt der Rache sich losmachte und es selbst als eine feine Klugheit der Glücklichen betrachtete, mit dem Christentum den Segen über seine Feinde zu sprechen und denen wohlzutun, die uns beleidigt haben! Schaffen wir den Begriff der Sünde aus der Welt – und schicken wir ihm den Begriff der Strafe bald hinterdrein! Mögen diese verbannten Unholde irgendwo anders fürderhin, als unter Menschen, leben, wenn sie durchaus leben wollen und nicht am eigenen Ekel zugrunde gehen! – Inzwischen erwäge man, daß die Einbuße, welche die Gesellschaft und die Einzelnen durch die Verbrecher erleiden, der Einbuße ganz gleichartig ist, welche sie von den Kranken erleiden: die Kranken verbreiten Sorge, Mißmut, produzieren nicht, zehrenden Ertrag anderer auf, brauchen Wärter, Ärzte, Unterhaltung und leben von der Zeit und den Kräften der Gesunden. Trotzdem würde man jetzt den als unmenschlich bezeichnen, welcher dafür an den Kranken Rache nehmen wollte. Ehedem freilich tat man dies; in rohen Zuständen der Kultur und jetzt noch bei manchen wilden Völkern, wird der Kranke in der Tat als Verbrecher behandelt, als die Gefahr der Gemeinde und als Wohnsitz irgendeines dämonischen Wesens, welches sich ihm infolge einer Schuld einverleibt hat, – da heißt es: jeder Kranke ist ein Schuldiger! Und wir – sollten wir noch nicht reif für die entgegengesetzte Anschauung sein? sollten wir noch nicht sagen dürfen: jeder »Schuldige« ist ein Kranker? – Nein, die Stunde dafür ist noch nicht gekommen. Noch fehlen vor allem die Ärzte, für welche das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück ihrer Heilkunst und Heilwissenschaft umgewandelt haben muß; noch fehlt allgemein jenes hungrige Interesse an diesen Dingen, das vielleicht einmal dem Sturm und Drang jener alten religiösen Erregungen nicht unähnlich erscheinen wird; noch sind die Kirchen nicht im Besitz der Pfleger der Gesundheit; noch gehört die Lehre von dem Leibe und von der Diät nicht zu den Verpflichtungen aller niederen und höheren Schulen; noch gibt es keine stillen Vereine solcher, welche sich untereinander verpflichtet haben, auf die Hilfe der Gerichte und auf Strafe und Rache an ihren Übeltätern zu verzichten; noch hat kein Denker den[1150] Mut gehabt, die Gesundheit einer Gesellschaft und der Einzelnen darnach zu bemessen, wie viel Parasiten sie ertragen kann, und noch fand sich kein Staatengründer, welcher die Pflugschar im Geiste jener freigebigen und mildherzigen Rede führte: »willst du das Land bauen, so baue mit dem Pfluge: da geneußt dein der Vogel und der Wolf, der hinter deinem Pfluge geht, – es geneußt dein alle Kreatur

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1148-1151.
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Morgenröte: Gedanken über die moralischen Vorurteile (insel taschenbuch)