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[1040] Das Grübeln über Gebräuche. – Zahllose Vorschriften der Sitte, einem einmaligen seltsamen Vorkommnis flüchtig abgelesen, wurden sehr schnell unverständlich; es ließ sich ihre Absicht ebensowenig mit Sicherheit ausrechnen wie die Strafe, welche der Übertretung folgen werde; selbst über die Folge der Zeremonien blieb Zweifel; – aber indem man darüber hin und her riet, wuchs das Objekt eines solchen Grübelns an Wert, und gerade das Absurdeste eines Gebrauches ging zuletzt in die heiligste Heiligkeit über. Man denke nicht gering von der hier in Jahrtausenden aufgewendeten Kraft der Menschheit und am wenigsten von der Wirkung dieses Grübelns über Gebräuche! Wir sind hier auf der ungeheuren Übungsstätte des Intellektes angelangt, – nicht nur daß hier die Religionen ausgesponnen und fortgesponnen werden: hier ist die würdige, obschon schauerliche Vorwelt der Wissenschaft hier wuchs der Dichter, der Denker, der Arzt, der Gesetzgeber! Die Angst vor dem Unverständlichen, welches in zweideutiger Weise von uns Zeremonien forderte, ging allmählich in den Reiz des Schwerverständlichen über, und wo man nicht zu ergründen wußte, lernte man schaffen.
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Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1040-1041.
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Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
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