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[1059] Das »Nach-dem-Tode«. – Das Christentum fand die Vorstellung von Höllenstrafen im ganzen römischen Reiche vor: über ihr haben die zahlreichen geheimen Kulte mit besonderem Wohlgefallen gebrütet, als über dem fruchtbarsten Ei ihrer Macht. Epikur hatte für seinesgleichen nichts Größeres zu tun geglaubt, als die Wurzeln dieses Glaubens[1059] auszureißen: sein Triumph, der am schönsten im Munde des düsteren und doch hellgewordenen Jüngers seiner Lehre, des Römers Lukretius, ausklingt, kam zu früh, – das Christentum nahm den bereits verwelkenden Glauben an die unterirdischen Schrecknisse in seinen besonderen Schutz, und tat klug daran! Wie hätte es ohne diesen kühnen Griff ins volle Heidentum den Sieg über die Popularität der Mithras- und Isiskulte davontragen können! So brachte es die Furchtsamen auf seine Seite, – die stärksten Anhänger eines neuen Glaubens! Die Juden, als ein Volk, welches am Leben hing und hängt, gleich den Griechen und mehr als die Griechen, hatten jene Vorstellungen wenig angebaut: der endgültige Tod als die Strafe des Sünders, und niemals wieder auferstehen als äußerste Drohung, – das wirkte schon stark genug auf diese sonderbaren Menschen, welche ihren Leib nicht loswerden wollten, sondern ihn, mit ihrem verfeinerten Ägyptizismus, in alle Ewigkeit zu retten hofften. (Ein jüdischer Märtyrer, von dem im zweiten Buche der Makkabäer zu lesen ist, denkt nicht daran, auf seine herausgerissenen Eingeweide Verzicht zu leisten: bei der Auferstehung will er sie haben, – so ist es jüdisch!) Den ersten Christen lag der Gedanke an ewige Qualen ganz fern, sie dachten »vom Tode« erlöst zu sein und erwarteten von Tag zu Tag eine Verwandlung, und nicht mehr ein Sterben. (Wie seltsam muß der erste Todesfall unter diesen Wartenden gewirkt haben! Wie mischten sich da Verwunderung, Frohlocken, Zweifel, Scham, Inbrunst! – wahrlich ein Vorwurf für große Künstler!) Paulus wußte nichts Besseres seinem Erlöser nachzusagen, als daß er den Zugang zur Unsterblichkeit für jedermann eröffnet habe, – er glaubt noch nicht an die Auferstehung der Unerlösten, ja infolge seiner Lehre vom unerfüllbaren Gesetze und vom Tode als Folge der Sünde argwöhnt er, im Grunde sei bisher niemand (oder sehr wenige, und dann aus Gnade und ohne Verdienst) unsterblich geworden; jetzt erst beginne die Unsterblichkeit ihre Tore aufzutun, – und zuletzt seien auch für sie sehr wenige auserwählt: wie der Hochmut des Auserwählten nicht unterlassen kann hinzuzufügen. – Anderwärts, wo der Trieb nach Leben nicht gleich groß war, wie unter Juden und Judenchristen, und die Aussicht auf Unsterblichkeit nicht ohne weiteres wertvoller erschien als die Aussicht auf einen endgültigen Tod, wurde jener heidnische und doch auch nicht ganz unjüdische[1060] Zusatz von der Hölle ein erwünschtes Werkzeug in der Hand der Missionäre: es erhob sich die neue Lehre, daß auch der Sünder und Unerlöste unsterblich sei, die Lehre vom Ewig-Verdammten, und sie war mächtiger als der nunmehr ganz verbleichende Gedanke vom endgültigen Tode. Erst die Wissenschaft hat ihn sich wieder zurückerobern müssen, und zwar indem sie zugleich jede andere Vorstellung vom Tode und jedes jenseitige Leben ablehnte. Wir sind um ein Interesse ärmer geworden: das »Nach-dem-Tode« geht uns nichts mehr an! – eine unsägliche Wohltat, welche nur noch zu jung ist, um als solche weit- und breithin empfunden zu werden. – Und von neuem triumphiert Epikur!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1059-1061.
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