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[1066] Ein Vorschlag. – Wenn unser Ich, nach Pascal und dem Christentume, immer hassenswert ist, wie dürften wir es auch nur gestatten und annehmen, daß andere es liebten – sei es Gott oder Mensch! Es wäre wider allen guten Anstand, sich lieben zu lassen und dabei recht wohl zu wissen, daß man nur Haß verdiene, – um von anderen, abwehrenden Empfindungen zu schweigen. – »Aber dies ist eben das Reich der Gnade.« – So ist euch eure Nächstenliebe eine Gnade? Euer Mitleid eine Gnade? Nun, wenn euch dies möglich ist, so tut noch einen Schritt weiter: liebt euch selber aus Gnade, – dann habt ihr euren Gott gar nicht mehr nötig, und das ganze Drama von Sündenfall und Erlösung spielt sich in euch selber zu Ende!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1066.
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Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
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