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[1069] Das sittliche Wunder. – Das Christentum kennt im Sittlichen nur das Wunder: die plötzliche Veränderung aller Werturteile, das plötzliche Aufgeben aller Gewohnheiten, die plötzliche unwiderstehliche Neigung zu neuen Gegenständen und Personen. Es faßt dieses Phänomen als die Wirkung Gottes und nennt es den Akt der Wiedergeburt, es gibt ihm einen einzigen unvergleichlichen Wert, – alles, was sonst Sittlichkeit heißt und ohne Bezug zu jenem Wunder ist, wird dem Christen damit gleichgültig, ja vielleicht sogar, als Wohlgefühl, Stolzgefühl, ein Gegenstand der Furcht. Im Neuen Testament ist der Kanon der Tugend, des erfüllten Gesetzes aufgestellt: aber so, daß es der Kanon der unmöglichen Tugend ist: die sittlich noch strebenden Menschen sollen sich im Angesichte eines solchen Kanons ihrem Ziele immer ferner fühlen lernen, sie sollen an der Tugend verzweifeln und sich endlich dem Erbarmenden ans Herz werfen, – nur mit diesem Abschlusse konnte das sittliche Bemühen bei einem Christen noch als wertvoll gelten, vorausgesetzt also, daß es immer ein erfolgloses, unlustiges, melancholisches Bemühen bleibe; so konnte es noch dazu dienen, jene ekstatische Minute herbeizuführen, wo der Mensch den »Durchbruch der Gnade« und das sittliche Wunder erlebt: – aber notwendig ist dieses Ringen nach Sittlichkeit nicht, denn jenes Wunder überfällt nicht selten gerade den Sünder, wenn er gleichsam vom Aussatze der Sünde blüht; ja, es scheint selber der Sprung aus der tiefsten und gründlichsten Sündhaftigkeit in ihr Gegenteil etwas Leichteres und, als sinnfälliger Beweis des Wunders, auch etwas Wünschbareres zu sein. – Was übrigens ein solcher plötzlicher vernunftloser und unwiderstehlicher Umschlag, ein solcher Wechsel von tiefstem Elend und tiefstem Wohlgefühl physiologisch zu bedeuten habe (ob vielleicht eine maskierte Epilepsie?) – das mögen die Irrenärzte erwägen, welche ja dergleichen[1069] »Wunder« (zum Beispiel als Mordmanie, Manie des Selbstmordes) reichlich zu beobachten haben. Der verhältnismäßig »angenehmere Erfolg« im Falle des Christen macht keinen wesentlichen Unterschied. –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1069-1070.
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