92

[1072] Am Sterbebette des Christentums. – Die wirklich aktiven Menschen sind jetzt innerlich ohne Christentum, und die mäßigeren und betrachtsameren Menschen des geistigen Mittelstandes besitzen nur noch ein zurechtgemachtes, nämlich ein wunderlich vereinfachtes Christentum. Ein Gott, der in seiner Liebe alles so fügt wie es uns schließlich am besten sein wird, ein Gott, der uns unsere Tugend wie unser Glück gibt und nimmt, so daß es im ganzen immer recht und gut zugeht und kein Grund bleibt, das Leben schwer zu nehmen oder gar zu verklagen, kurz, die Resignation und Bescheidenheit zur Gottheit erhoben, – das ist das Beste und Lebendigste, was vom Christentum[1072] noch übriggeblieben ist. Aber man sollte doch merken, daß damit das Christentum in einen sanften Moralismus übergetreten ist: nicht sowohl »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« sind übrig geblieben, als Wohlwollen und anständige Gesinnung und der Glaube, daß auch im ganzen All Wohlwollen und anständige Gesinnung herrschen werden: es ist die Euthanasie des Christentums.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1072-1073.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Morgenröte
Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Morgenröte: Gedanken über die moralischen Vorurteile (insel taschenbuch)