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[1174] Verstellung als Pflicht. – Am meisten ist die Güte durch die lange Verstellung, welche Güte zu scheinen suchte, entwickelt worden: überall, wo große Macht bestand, wurde die Notwendigkeit gerade dieser Art von Verstellung eingesehen – sie flößt Sicherheit und Vertrauen ein und verhundertfacht die wirkliche Summe der physischen Macht. Die Lüge ist, wenn nicht die Mutter, so doch die Amme der Güte. Die Ehrlichkeit ist ebenfalls am meisten durch die Anforderung eines Anscheins der Ehrlichkeit und Biederkeit großgezogen worden: in den erblichen Aristokratien. Aus der dauernden Übung einer Verstellung entsteht zuletzt Natur: die Verstellung hebt sich am Ende selber auf, und Organe und Instinkte sind die kaum erwarteten Früchte im Garten der Heuchelei.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1174.
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