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[1080] Einige Thesen. – Dem Individuum, sofern es sein Glück will, soll man keine Vorschriften über den Weg zum Glück geben: denn das individuelle Glück quillt aus eigenen, jedermann unbekannten Gesetzen, es kann mit Vorschriften von außen her nur verhindert, gehemmt werden. – Die Vorschriften, welche man »moralisch« nennt, sind in Wahrheit gegen die Individuen gerichtet und wollen durchaus nicht deren Glück. Ebensowenig beziehn sich diese Vorschriften auf das »Glück und die Wohlfahrt der Menschheit«, – mit welchen Worten strenge Begriffe zu verbinden überhaupt nicht möglich ist, geschweige daß man sie als Leitsterne auf dem dunklen Ozean moralischer Bestrebungen gebrauchen könnte. – Es ist nicht wahr, daß die Moralität, wie das Vorurteil will, der Entwicklung der Vernunft günstiger sei als die Unmoralität. – Es ist nicht wahr, daß das unbewußte Ziel in der Entwicklung jedes bewußten Wesens (Tier, Mensch, Menschheit usw.) sein »höchstes Glück« sei: vielmehr gibt es auf allen Stufen der Entwicklung ein besonderes und unvergleichbares, weder höheres noch niederes, sondern eben eigentümliches Glück zu erlangen. Entwicklung will nicht Glück, sondern Entwicklung und weiter nichts. – Nur wenn die Menschheit ein allgemein anerkanntes Ziel hätte, könnte man vorschlagen »so und so soll gehandelt werden«: einstweilen gibt es kein solches Ziel. Also soll man die Forderungen der Moral nicht in Beziehung zur Menschheit setzen, es ist dies Unvernunft und Spielerei. – Der Menschheit ein Ziel anempfehlen ist etwas ganz anderes: dann ist[1080] das Ziel als etwas gedacht, das in unserem Belieben ist; gesetzt, es beliebte der Menschheit so wie vorgeschlagen wird, so könnte sie sich darauf hin auch ein Moralgesetz geben, ebenfalls aus ihrem Belieben heraus. Aber bisher sollte das Moralgesetz über dem Belieben stehen: man wollte dies Gesetz sich nicht eigentlich geben, sondern es irgendwoher nehmen oder irgendwo es auffinden oder irgendwoher es sich befehlen lassen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1080-1081.
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Morgenröte
Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Morgenröte: Gedanken über die moralischen Vorurteile (insel taschenbuch)