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[1090] Die unbekannte Welt des »Subjekts«. – Das, was den Menschen so schwer zu begreifen fällt, ist ihre Unwissenheit über sich selber, von den ältesten Zeiten bis jetzt! Nicht nur in bezug auf Gut und Böse, sondern in bezug auf viel Wesentlicheres! Noch immer lebt der uralte[1090] Wahn, daß man wisse, ganz genau wisse, wie das menschliche Handeln zustande komme, in jedem Falle. Nicht nur »Gott, der ins Herz sieht«, nicht nur der Täter, der seine Tat überlegt, – nein, auch jeder andere zweifelt nicht, das Wesentliche im Vorgange der Handlung jedes andern zu verstehen. »Ich weiß, was ich will, was ich getan habe, ich bin frei und verantwortlich dafür, ich mache den andern verantwortlich, ich kann alle sittlichen Möglichkeiten und alle inneren Bewegungen, die es vor einer Handlung gibt, beim Namen nennen; ihr mögt handeln, wie ihr wollt, – ich verstehe darin mich und euch alle!« – so dachte ehemals jeder, so denkt fast noch jeder. Sokrates und Plato, in diesem Stücke große Zweifler und bewunderungswürdige Neuerer, waren doch harmlos gläubig in betreff jenes verhängnisvollsten Vorurteils, jenes tiefsten Irrtums, daß »der richtigen Erkenntnis die richtige Handlung folgen müsse«, – sie waren in diesem Grundsatze immer noch die Erben des allgemeinen Wahnsinns und Dünkels: daß es ein Wissen um das Wesen einer Handlung gebe. »Es wäre ja schrecklich, wenn der Einsicht in das Wesen der rechten Tat nicht die rechte Tat folgte«, – dies ist die einzige Art, wie jene Großen diesen Gedanken zu beweisen für nötig hielten, das Gegenteil schien ihnen undenkbar und toll – und doch ist dies Gegenteil gerade die nackte, seit Ewigkeiten täglich und stündlich bewiesene Wirklichkeit! Ist es nicht gerade die »schreckliche« Wahrheit: daß, was man von einer Tat überhaupt wissen kann, niemals ausreicht, sie zu tun, daß die Brücke von der Erkenntnis zur Tat in keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist? Die Handlungen sind niemals das, als was sie uns erscheinen! Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, daß die äußeren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, – nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso! Die moralischen Handlungen sind in Wahrheit »etwas anderes« – mehr können wir nicht sagen: und alle Handlungen sind wesentlich unbekannt. Das Gegenteil war und ist der allgemeine Glaube: wir haben den ältesten Realismus gegen uns; bis jetzt dachte die Menschheit: »eine Handlung ist das, als was sie uns erscheint.« (Beim Wiederlesen dieser Worte kommt mir eine sehr ausdrückliche Stelle Schopenhauers ins Gedächtnis, welche ich anführen will, zum Beweise, daß auch er noch, und zwar ohne jeden Skrupel in diesem moralischen Realismus hängt und hängen geblieben ist: »wirklich ist[1091] jeder von uns ein kompetenter und vollkommen moralischer Richter, Gutes und Böses genau kennend, heilig, indem er das Gute liebt und das Böse verabscheut, – dies alles ist jeder, insofern nicht seine eigenen, sondern fremde Handlungen untersucht werden und er bloß zu billigen und zu mißbilligen hat, die Last der Ausführung aber von fremden Schultern getragen wird. Jeder kann demnach als Beichtiger ganz und gar die Stelle Gottes vertreten.«)

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1090-1092.
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Morgenröte
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Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
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