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[1093] Was ist denn der Nächste! – Was begreifen wir denn von unserm Nächsten als seine Grenzen, ich meine das, womit er sich auf und an uns gleichsam einzeichnet und eindrückt? Wir begreifen nichts von ihm als die Veränderungen an uns, deren Ursache er ist, – unser Wissen von ihm gleicht einem hohlen geformten Raume. Wir legen ihm die Empfindungen bei, die seine Handlungen in uns hervorrufen, und geben ihm so eine falsche, umgekehrte Positivität. Wir bilden ihn nach unsrer Kenntnis von uns, zu einem Satelliten unsres eigenen Systems: und wenn er uns leuchtet oder sich verfinstert, und wir von beidem die letzte Ursache sind, – so glauben wir doch das Gegenteil! Welt der Phantome, in der wir leben! Verkehrte, umgestülpte, leere, und doch voll und gerade geträumte Welt!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1093.
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