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[1108] Warum das »Ich« verdoppeln! – Unsere eigenen Erlebnisse mit dem Auge ansehen, mit dem wir sie anzusehen pflegen, wenn es die Erlebnisse anderer sind, – dies beruhigt sehr und ist eine ratsame Medizin.[1108] Dagegen die Erlebnisse anderer so ansehen und aufnehmen, wie als ob sie die unseren wären – die Forderung einer Philosophie des Mitleidens –, dies würde uns zugrunde richten, und in sehr kurzer Zeit: man mache doch nur den Versuch damit und phantasiere nicht länger! Gewiß ist außerdem jene erste Maxime der Vernunft und dem guten Willen zur Vernünftigkeit gemäßer, denn wir urteilen über den Wert und Sinn eines Ereignisses objektiver, wenn es an anderen hervortritt und nicht an uns: zum Beispiel über den Wert eines Sterbefalls, eines Geldverlustes, einer Verleumdung. Mitleiden als Prinzip des Handelns mit der Forderung: leide so an dem Übel des andern, wie er selber leidet, brächte dagegen mit sich, daß der Ich-Gesichtspunkt, mit seiner Übertreibung und Ausschweifung, auch noch der Gesichtspunkt des andern, des Mitleidenden, werden müßte: so daß wir an unserem Ich und am Ich des andern zugleich zu leiden hätten und uns derart freiwillig mit einer doppelten Unvernunft beschwerten, anstatt die Last der eigenen so gering wie möglich zu machen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1108-1109.
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