Wohin Wagner gehört

[1049] Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffiniertesten Kultur Europas und die hohe Schule des Geschmacks: aber man muß dies »Frankreich des Geschmacks« zu finden wissen. Die »Norddeutsche Zeitung« zum Beispiel, oder wer in ihr sein Mundstück hat, sieht in den Franzosen »Barbaren« – ich für meine Person suche den schwarzen Erdteil, wo man »die Sklaven« befreien sollte, in der Nähe der Norddeutschen... Wer zu jenem Frankreich gehört, hält sich gut verborgen: es mag eine kleine Zahl sein, in denen es leibt und lebt, dazu vielleicht Menschen, welche nicht auf den kräftigsten Beinen stehn, zum Teil Fatalisten, Verdüsterte, Kranke, zum Teil Verzärtelte und Verkünstelte, solche, welche den Ehrgeiz haben, künstlich zu sein – aber sie haben alles Hohe und Zarte, was jetzt in der Welt noch übrig ist, in ihrem Besitz. In diesem Frankreich des Geistes, welches auch das Frankreich des Pessimismus ist, ist heute schon Schopenhauer mehr zu Hause als er es je in Deutschland war; sein Hauptwerk zweimal bereits übersetzt, das zweitemal ausgezeichnet, so daß ich es jetzt vorziehe, Schopenhauer französisch zu lesen (– er war ein Zufall unter Deutschen, wie ich ein solcher Zufall bin – die Deutschen haben keine Finger für uns, sie haben überhaupt keine Finger, sie haben bloß Tatzen). Gar nicht zu reden von Heinrich Heine – l'adorable Heine sagt man in Paris –, der den tieferen und seelenvolleren Lyrikern Frankreichs längst in Fleisch und Blut übergegangen ist. Was wüßte deutsches Hornvieh mit den délicatesses einer solchen Natur anzufangen! – Was endlich Richard Wagner angeht: so greift man mit Händen, nicht vielleicht mit Fäusten, daß Paris der eigentliche Boden für Wagner ist: je mehr sich die französische Musik nach den Bedürfnissen der »âme moderne«, gestaltet, um so mehr wird sie wagnerisieren – sie tut es schon jetzt genug. – Man darf sich hierüber nicht durch Wagner selber irreführen lassen – es war eine wirkliche Schlechtigkeit Wagners, Paris 1871 in seiner Agonie zu verhöhnen... In Deutschland ist Wagner[1049] trotzdem bloß ein Mißverständnis: wer wäre unfähiger, etwas von Wagner zu verstehn, als zum Beispiel der junge Kaiser? – Die Tatsache bleibt für jeden Kenner der europäischen Kultur-Bewegung nichtsdestoweniger gewiß, daß die französische Romantik und Richard Wagner aufs engste zueinander gehören. Allesamt beherrscht von der Literatur bis in ihre Augen und Ohren – die ersten Künstler Europas von weltliterarischer Bildung –, meistens sogar selber Schreibende, Dichtende, Vermittler und Vermischer der Sinne und Künste, allesamt Fanatiker des Ausdrucks, große Entdecker im Reiche des Erhabenen, auch des Häßlichen und Gräßlichen, noch größere Entdecker im Effekte, in der Schaustellung, in der Kunst der Schauläden, allesamt Talente weit über ihr Genie hinaus –, Virtuosen durch und durch, mit unheimlichen Zugängen zu allem, was verführt, lockt, zwingt, umwirft, geborne Feinde der Logik und der geraden Linie, begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, allen Opiaten der Sinne und des Verstandes. Im ganzen eine verwegen-wagende, prachtvoll-gewaltsame, hochfliegende und hoch emporreißende Art von Künstlern, welche ihrem Jahrhundert – es ist das Jahrhundert der Masse – den Begriff »Künstler« erst zu lehren hatte. Aber krank...[1050]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1049-1051.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Nietzsche contra Wagner
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.6, Bd.3, Der Fall Wagner; Götzen-Dämmerung; Der Antichrist; Ecce Homo; Dionysos-Dithyramben; Nietzsche contra Wagner (August 1888 - Anfang 1889)
Sämtliche Werke / Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner: Kritische Studienausgabe
(Richard Wagner in Bayreuth / Der Fall Wagner / Nietzsche contra Wagner
Richard Wagner in Bayreuth. Der Fall Wagner. Nietzsche contra Wagner
Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.