Neuntes Kapitel.

[94] 1. Nun die Hingabe des Stieres66.[94]

2. Sie ist durch das Rindopfer erklärt.

3. (Sie geschieht) beim Vollmonde des Monats Kârtika oder unter dem Gestirne Revatî im Monate Âçvina.[95]

4. Nachdem er in der Mitte der Küche ein gut brennendes Feuer gemacht und die Opferbutter geweihet, bringt er mit den Sprüchen: »Hier ist Lust«67 sechs Spenden.

5. Mit dem Verse: »Pûshan geh unsern Kühen nach, Pûshan leihe den Rossen Schutz, Pûshan gewähre Nahrung uns. Svâhâ!«68 opfert er von der für Pûshan bereiteten Speise.69

6. Nach Hersagung der Sprüche an Rudra70, nachdem sie einen einfarbigen oder zweifarbigen Stier, oder einen der die Heerde schützt oder den die Heerde schützt, oder der roth, mit allen Gliedern versehen, der Sohn einer Kuh ist, welche lebende Kälber hat und milchreich ist, welcher der schönste ist in der Heerde, – nachdem sie diesen geschmückt haben, und auch vier beste junge Kühe in der Heerde geschmückt haben, sollen sie sie loslassen mit dem Verse: »Diesen jungen gebe ich euch zum Gatten71; mit ihm, dem[96] lieben, wandelt scherzend. Fluchet uns nicht72, ihr von Natur reiche; mögen wir an Reichthums Mehrung und Labetrank uns freuen.«

7. Den in der Mitte stehenden Stier redet er an mit den Sprüchen, welche von den Worten: »Freude bringend« bis zu Ende des Abschnittes stehen.73

8. Nachdem er von der Milch aller Kühe eine Milchspeise gekocht, speise er die Brâhmaṇas.

9. Einige schlachten auch noch ein Thier.74

10. Das Verfahren dabei ist durch das Spiess-Rindopfer erklärt.

66

Ueber die Bedeutung dieser Handlung wage ich eine Vermuthung. Jede Ortschaft, Dorf oder Stadt, hatte ein gemeinschaftliches Weideland, eine Almende, Common (Mn. 8, 237 Kull. Yâjn. 2, 166. 167. Colebrooke, Dig. 3, 4, XX: the common pasture for kine). Für die gesammte Rinderheerde des Ortes scheint Ein Zuchtstier gehalten worden zu sein. Aus dein Kalpa Sûtra zu TS. 3, 3, 9 sehen wir, dass der Zuchtstier, wenn er alt geworden, durch einen jungen ersetzt und geopfert werden musste. Ich vermuthe nun, dass der Ausdruck vṛĭshotsarga, »Hingabe eines Stieres«, grade diese Ueberweisung eines jungen Zuchtstieres an die Ortsgemeinde bezeichnet. Dafür spricht zunächst der Umstand, dass die Ueberweisung in der TS. mit eben demselben Verse geschieht, welcher in unserem Sûtra (§. 6) vorgeschrieben ist. Ferner die Benennung der Handlung. Das Wort utsarga bedeutet die Hingabe einer Sache mit Aufgebung des Eigenthumsrechts. Wenn die Hingabe an eine andere Person geschieht, welcher das Eigenthumsrecht übertragen wird, so ist dies eine Schenkung. Wird aber die hingegebene Sache zu einem allgemeinen, öffentlichen Zwecke bestimmt, so ist es eine Stiftung, Fundation. So lautet z.B. der Titel des zwölften Tractates von Raghunandana's Smṛĭtitattva: jalâçayotsarga »Stiftung von Wasserbehältern« und handelt von den Fällen, in welchen Jemand einen Brunnen oder Teich graben lässt, den er zum öffentlichen Gebrauche bestimmt. Wenn nun Jîmûtavâhana in seinem Dâyabhâga 1, 21 erklärt: ein Eigenthumsrecht entstehe auch dadurch, dass Jemand sich seines Eigenthums entäussere »zu Gunsten einer selbstbewussten Person« (cetana), und der Commentator Çrîkṛĭshṇa dazu bemerkt: die Beschränkung »zu Gunsten einer selbstbewussten Person« sei hinzugefügt, weil ohne dieselbe »durch die blosse Entäusserung, wie z.B. bei der Hingabe eines Stieres und ähnlichen Handlungen, kein Eigenthumsrecht entstehe« (tyâgamâtrâd vṛĭshotsargâdirûpât svâmitvâjananât), so geht daraus hervor, dass die Fiction, nach welcher eine Ortsgemeinde als rechtsfähige Person betrachtet werden kann, im Indischen Rechte nicht zur Geltung gekommen war. Der Stier wurde eben nicht Eigenthum eines Mannes in der Gemeinde, der ihn hätte als Zugthier oder sonst wie zu seinem Nutzen verwenden dürfen, sondern wenn er seiner nächsten Bestimmung, der ganzen Gemeinde zur Zucht zu dienen, nicht mehr genügen konnte, musste er einem Gotte geopfert werden, und zwar dem Prajâpati, Indra oder Tvashtṛĭ (s. Kalpa Sûtra zu TS. 3, 3, 9). Nach Vishṇu Dh. Ç. 86, 4. 5 musste ein Schmied den Stier bei der Uebergabe auf der einen Hüfte mit einem Kreise (cakra), auf der anderen mit einem Spiesse (çûla) bezeichnen. Vgl. Kull. zu Mn. 8, 242. – Unter den Belohnungen für diesen Act der Freigebigkeit wird auch die Erlösung der Väter (pitṭĭmukti) genannt (Râmacandra's paddhati zu Çânkh. Gṛĭ. 3, 11), und daher rührt es wohl, dass der vṛĭshotsarga später auch bei der Bestattung eines Verstorbenen vollzogen wurde (Pancatantra 9, 3). – Meine Vermuthung über den ursprünglichen Sinn der Handlung schliesst nicht aus, dass den Indern selbst das Verständniss derselben im Laufe der Zeit abhanden gekommen sein könne und der ganze Brauch durch späteres Beiwerk eine andere Gestalt gewonnen habe. Dies Schicksal haben ja zahlreiche andere Bräuche gehabt. – Wenn meine Deutung richtig ist, so haben wir hier einen uralten indogermanischen Brauch, der sich, wenn auch mit manchen Wandlungen, hie und da bis auf die heutige Zeit erhalten hat. Ich erwähne nur, worauf Weinhold mich aufmerksam macht, »Das Bullenfest im Drömling«, in A. Kuhn's Märkischen Sagen und Märchen, S. 368. Das dabei vollzogene Schlachten des Gemeinstiers könnte ein Nachklang des oben erwähnten Opfers sein.

67

VS. 8, 51

68

RS. 6, 54, 5.

69

Dies ist eine aus gemahlenen Körnern bereitete Suppe (pishṭacaru), weil Pûshan die ganzen Körner nicht essen konnte, da er seine Zähne eingebüsst hatte.

70

S. oben 3, 8, 13.

71

TS. 3, 3, 9 steht pari statt patim. Vgl. AS. 9, 4, 24.

72

Ihr müsst mir dankbar sein dafür, dass ich euch statt des alten einen jungen Gatten gebe, und diesen Dank durch Mehrung meines Reichthums und reichliche Milch ausdrücken. – AS. hat mâ no hâsishta, »verlasset uns nicht.«

73

VS. 18, 45–50.

74

Eine Ziege. Kp. Vp.

Quelle:
Indische Hausregeln. In: Abhandlungen der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Band 6. Leipzig 1878, S. 94-97.
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