10. Kapitel

Fortsetzung

[81] Man kann einen politischen Körper auf zweierlei Weise messen, nämlich nach dem Gebietsumfange und nach der Volksmenge, und zwischen diesen beiden Maßstäben findet sich das richtige Verhältnis zur Bestimmung der wahren Größe des Staates. Die Menschen bilden den Staat, und der Erdboden ernährt die Menschen; das Verhältnis beruht folglich darauf, daß das Land zum Unterhalte seiner Bewohner genügt und so viele Menschen auf ihm wohnen, wie es zu ernähren vermag. In diesem Gleichmaße liegt das Maximum der Kraft einer gegebenen Volksmenge, denn ist das Gebiet zu groß, so ist die Beschützung der Grenzen beschwerlich, die Bebauung ungenügend, der Ertrag über das Notwendige hinausgehend; dies ist die nächste Veranlassung zu Verteidigungskriegen. Im umgekehrten Falle hängt der Staat, um sich das Fehlende zu verschaffen, lediglich von der Willkür seiner Nachbarn ab, und hierin liegt wieder die nächste Veranlassung zu Angriffskriegen. Jedes Volk, das wegen seiner Lage nur[81] die Wahl zwischen Handel und Krieg hat, ist an und für sich schwach, hängt von seinen Nachbarn wie von den Ereignissen ab und hat nur ein unsicheres und kurzes Dasein. Es unterjocht und verändert seine Lage oder es wird unterjocht und vernichtet. Nur durch Kleinheit oder Größe kann es sich frei erhalten.

Ein festes Verhältnis zwischen der Ausdehnung des Landes und der Anzahl der Menschen, wie sie füreinander genügen, läßt sich nicht berechnen, denn die verschiedenen Eigenschaften des Bodens, die Grade seiner Fruchtbarkeit, die Natur seiner Erzeugnisse, der Einfluß des Klimas, das alles ist ebenso verschieden, wie es die Temperamente der Bewohner sind, von denen ein Teil in einem fruchtbaren Lande wenig und wieder ein anderer auf einem undankbaren Boden viel verzehrt. Ferner muß die größere oder geringere Fruchtbarkeit der Frauen, muß die der Bevölkerung mehr oder weniger günstige Eigentümlichkeit des Landes, muß endlich auch die Leistungsfähigkeit berücksichtigt werden, die der Gesetzgeber Hoffnung hat durch seine Einrichtungen herbeizuführen, so daß er sein Urteil nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Voraussichtliche stützen, nicht bei dem gegenwärtigen Stande der Bevölkerung, sondern bei demjenigen stehenbleiben muß, den sie der Natur gemäß erreichen soll. Endlich gibt es noch tausenderlei Fälle, in denen es besondere Eigenschaften des Landes erfordern oder doch gestatten, daß man ein größeres Gebiet einnimmt, als nötig erscheint. In einer gebirgigen Gegend wird man sich über ein großes Gebiet ausbreiten müssen, da in ihr die natürlichen Erzeugnisse, nämlich Holz und Viehweiden, weniger Arbeit verlangen, die Frauen der Erfahrung nach fruchtbarer als in den Ebenen sind, und der wellenförmige Boden nur wenige ebene Flächen darbietet, die doch allein für die Pflanzenwelt geeignet sind. An der Meeresküste dagegen kann man selbst zwischen Felsen und auf fast unfruchtbaren Sandflächen enger nebeneinander wohnen, weil hier die[82] Fischerei zum großen Teile die Produkte des Landes zu ersetzen vermag, die Bewohner zur Zurückweisung der Seeräuber dichter zusammengedrängt sein müssen, und man außerdem mehr Gelegenheit hat, die überzählige Volksmenge durch Kolonien abzuleiten.

Zu diesen zur Gründung eines Volkes erforderlichen Bedingungen muß man noch eine hinzufügen, die allerdings nicht imstande ist, irgendeine der anderen zu ersetzen, ohne die jedoch alle vergeblich sind: es muß Überfluß und Frieden herrschen; denn die Zeit der Ordnung eines Staates gleicht der der Formierung einer Streitmacht, in der sie am wenigsten zum Widerstande fähig und am leichtesten zu vernichten ist. Man würde bei völliger Unordnung besser Widerstand leisten können als im Augenblicke der Gärung, in dem sich jeder mit seinem Platze in Reih' und Glied und nicht mit der Gefahr beschäftigt. Entsteht in solcher kritischen Zeit plötzlich ein Krieg, eine Hungersnot, ein Aufruhr, so bricht der Staat rettungslos zusammen.

Ich weiß sehr wohl, daß gerade während solcher Stürme viele Regierungen gegründet worden sind, aber dann sind es ebendie Regierungen selbst, die den Staat zerstören. Stets führen Thronräuber solche Zeiten der Verwirrung herbei oder benutzen sie wenigstens, um unter dem allgemeinen Schrecken zerstörende Gesetze einzuführen, die das Volk mit kaltem Blute nie annehmen würde. Die Wahl des Augenblicks zur Gründung eines Staates ist eines der sichersten Kennzeichen, an denen man das Werk des Gesetzgebers von dem des Tyrannen unterscheiden kann.

Welches Volk ist denn aber zur Annahme von Gesetzen fähig? Ein durch irgendeine Einheit des Ursprungs, des Interesses oder der Übereinkunft verbundenes, das noch nicht das wahre Joch der Gesetze getragen hat; ein noch nicht von Gewohnheiten und Aberglauben behaftetes; ein Volk, das nicht zu befürchten braucht, durch irgendeinen plötzlichen Einfall erdrückt zu werden; das, ohne sich in die Streitigkeiten seiner Nachbarn einzulassen, einem jeden[83] derselben allein zu widerstehen oder den einen unter Beistand des anderen zurückzutreiben vermag. Ein Volk, in dem jedes Glied allen bekannt sein kann und man niemandem eine schwerere Last aufzulegen gezwungen ist, als ein Mensch zu tragen imstande ist; das andere Völker entbehren und selbst von jedem andern Volke entbehrt werden kann, das weder arm noch reich ist und sich selbst zu genügen vermag; ein Volk endlich, das die Festigkeit eines alten Volkes mit der Gelehrigkeit eines neuen vereinigt. Was das Werk der Gesetzgebung schwierig macht, ist nicht sowohl das Einzuführende als das erst Auszurottende, und die Seltenheit des Erfolges hat ihren Grund in der Unmöglichkeit, die Einfachheit der Natur mit den Bedürfnissen der Gesellschaft vereinigt zu finden. Allerdings finden sich alle diese Bedingungen selten beieinander; deshalb haben auch wenige Staaten eine gute Verfassung.

In Europa gibt es noch ein zu einer guten Gesetzgebung fähiges Land, die Insel Korsika. Die Tapferkeit und Ausdauer, mit der dieses heldenmütige Volk seine Freiheit wiederzuerlangen und zu verteidigen verstand, verdienten wohl, daß irgendein Weiser es lehrte, seine Freiheit zu bewahren. Eine Ahnung lebt in mir, daß diese kleine Insel Europa noch einst in Erstaunen setzen wird.

Quelle:
ean-Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes. Leipzig [o.J.], S. 81-84.
Lizenz:
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Der Gesellschaftsvertrag
Universal-Bibliothek Nr. 1769: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts
Du contrat social / Vom Gesellschaftsvertrag: Französisch/Deutsch
Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts
Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts (insel taschenbuch)
Vom Gesellschaftsvertrag: oder Prinzipien des Staatsrechts (suhrkamp studienbibliothek)