Fünftes Buch

[324] Wir sind jetzt beim letzten Akte der Jugend angelangt, noch aber stehen wir vor der Lösung des Knotens.

Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Emil ist Mensch; wir haben ihm eine Gefährtin ist verheißen und müssen sie ihm nun auch geben. Diese Gefährtin ist Sophie. Wo wird sie weilen? Wo werden wir sie auffinden? Ehe wir sie finden können, müssen wir sie kennen. Laßt uns deshalb zunächst erfahren, was sie ist, dann werden wir uns ein sichereres Urteil über ihren Aufenthaltsort bilden können. Und wenn wir sie nun auch endlich aufgefunden haben, so wird damit noch nicht alles getan sein. Da unser Junker, sagt Locke, im Begriffe steht, sich zu vermählen, so ist es Zeit, ihn von dem Umgang mit seiner Geliebten nicht zurückzuhalten. Und damit schießt er sein Werk. Ich meinerseits, der ich nicht die Ehre habe, einen Junker zu erziehen, werde mich wohl hüten, hierin Lockes Beispiele zu folgen.


Sophie oder das Weib

Sophie soll ein Weib sein, wie Emil Mann ist. Sie soll nämlich alles besitzen, was zur Beschaffenheit ihrer Gattung und ihres Geschlechtes gehört, damit sie in physischer wie moralischer Beziehung die ihr angewiesene Stellung ausfüllen kann. Es wird deshalb notwendig sein, zunächst das Uebereinstimmende und die Verschiedenheiten ihres und unseres Geschlechtes näher zu untersuchen.

In allem, was nicht das Geschlecht berührt, gleicht das Weib dem Manne. Es ist mit denselben Organen, denselben[324] Bedürfnissen und Fähigkeiten ausgestattet. Der Körper ist auf dieselbe Weise gebaut, die Glieder sind dieselben, auch deren Gebrauch ist derselbe. Die Figur ist ähnlich, kurz: unter welchen Beziehungen man beide auch betrachten möge, sie unterscheiden sich nur durch ein Mehr oder Weniger.

In allem dagegen, was sich auf das Geschlecht bezieht, finden wir bei Mann und Weib neben den Aehnlichkeiten auch überall Verschiedenheiten. Ihre Vergleichung ist jedoch schwierig, weil sich schwer bestimmen läßt, was in der Beschaffenheit eines jeden das Geschlecht angeht und was nicht. Durch die vergleichende Anatomie und selbst durch eine bloße oberflächliche Besichtigung stößt man auf allgemeine Unterschiede, die vom Geschlechte nicht abzuhängen scheinen, trotzdem aber findet eine solche Abhängigkeit statt, und zwar infolge von Verbindungen, die wir wahrzunehmen außerstande sind. Wir wissen eben nicht, wie weit sich diese Verbindungen erstrecken können. Das einzige, was wir bestimmt wissen, ist, daß sich alles Gemeinsame auf die Gattung, alles Verschiedene auf das Geschlecht bezieht. Unter diesem doppelten Gesichtspunkte betrachtet, stoßen uns zwischen ihnen so viele Aenlichkeiten und so viele Gegensätze auf, daß es zu den größten Wundern der Natur gerechnet werden muß, wie sie zwei so ähnliche und doch zu gleicher Zeit so verschiedene Wesen hat bilden können.

Diese Uebereinstimmungen und Unterschiede müssen notwendig auch auf das Sittliche von Einfluß sein. Die Folgerung ist klar und stimmt mit der Erfahrung überein. Sie zeigt zugleich, wie töricht es ist, sich über den Vorzug des einen Geschlechtes vor dem anderen oder über ihre Gleichheit zu streiten. Wird doch ein jedes von beiden dadurch vollkommener, daß es seiner besonderen Bestimmung gemäß die Endzwecke der Natur zu erreichen strebt, als daß es dem anderen zu gleichen strebt. In dem, was die Gemeinsames haben, gleichen sie sich; in dem aber, worin sie[325] sich unterscheiden, kann auch keine Vergleichung stattfinden. Ein vollkommenes Weib und ein vollkommener Mann sollen sich ebensowenig in bezug auf ihre geistigen Gaben als im Gesicht ähneln; und bei der Vollkommenheit kann ja von einem Mehr oder Weniger nicht die Rede sein.

In der Vereinigung beider Geschlechter ist jedes für den gemeinsamen Zweck gleich tätig, aber freilich nicht in derselben Weise. Aus dieser Verschiedenheit ergibt sich der erste bestimmbare Unterschied beider Geschlechter in moralischer Beziehung. Das eine soll tätig und stark sein, das andere empfangend und schwach; bei dem einen muß notwendig Wille und Kraft herrschen, bei dem anderen zarte Nachgiebigkeit.

Wenn man diesen Grundsatz anerkennt, so muß man auch weiter daraus folgern, daß das Weib besonders dazu geschaffen ist, dem Manne zu gefallen. Daß nun auch der Mann seinerseits dem Weibe gefallen müsse, ist jedoch nicht, so unmittelbar notwendig. Sein Verdienst beruht auf seiner Macht, er gefällt allein durch seine Kraft. Freilich gibt sich hierin noch nicht das Gesetz der Liebe zu erkennen, wohl aber das Gesetz der Natur, das älter ist als die Liebe selbst.

Wenn die Frau die Bestimmung hat, dem Manne zu gefallen und sich ihm zu unterwerfen, so muß sie sich ihm angenehm machen, anstatt sich ihm feindlich gegenüberzustellen. In ihren Reizen besitzt sie eine eigentümliche Gewalt über ihn; durch sie soll sie den Mann zwingen, seiner Macht eingedenk zu sein und sie auszuüben. Das sicherste Mittel nun, diese Macht anzufeuern, besteht darin, sie durch Widerstand herauszufordern. Alsdann vereinigt sich mit der Begierde die Eigenliebe, und letztere triumphiert über den Sieg, den erstere für die sie davongetragen hat. Daraus gehen Angriff und Verteidigung, Kühnheit des einen und Schüchternheit des anderen Geschlechts, endlich auch Sittsamkeit und Scham hervor die Natur den Schwachen[326] als Waffen verlieh, um den Starken durch sie zu unterwerfen.

Wer sollte wohl den Wahn hegen, daß die Natur beiden Geschlechtern gleicherweise dieselbe Art der Annäherung vorgeschrieben habe, und daß dasjenige Geschlecht auch zuerst das Verlangen äußere, bei dem es sich zuerst geregt hat? Das würde ein seltsamer Schluß sein. Das Unternehmen hat für beide Geschlechter gar verschiedene Folgen. Wäre es deshalb wohl naturgemäß, daß sich ihm beide mit gleicher Kühnheit hingeben sollten? Man darf eben nicht übersehen, daß bei der so großen Verschiedenheit des gemeinschaftlichen Einsatzes der Untergang beider erfolgen würde, wenn nicht die Zurückhaltung dem einen die Mäßigkeit auferlegte, welche die Natur dem anderen auferlegt. Das Menschengeschlecht würde dann durch dieselben Mittel zugrunde gerichtet werden, die zu seiner Erhaltung bestimmt sind. Außer dem wird es den Frauen leicht, die Sinnlichkeit der Männer zu reizen und in deren Herzen sogar den Funken eines fast erloschenen Gefühls anzufachen. Wenn es nun auf Erden irgendwo ein unglückliches Land gäbe, wo jene Zurückhaltung nicht gefunden würde, zumal in den heißen Ländern, in denen mehr Frauen als Männer geboren werden, so würden diese von den Frauen tyrannisiert werden, würden ihnen zum Opfer fallen und sich ohne Rettung frühzeitig der Lebenskraft beraubt sehen.

Den Weibchen der Tiere ist jene Schamhaftigkeit nicht eigen. Sie haben aber auch nicht wie die Frauen ein schrankenloses Verlangen, welchem jene Scham als Zügel dient. Das Verlangen tritt bei ihnen nur mit dem Bedürfnisse hervor. Mit Befriedigung desselben hört das Verlangen auf. Sie weisen das Männchen nicht aus Verstellung, sondern in vollem Ernste ab.164Ihre Handlungsweise[327] ist der der Tochter des Augustus gerade entgegengesetzt: Wenn das Schifflein seine Ladung hat, nehmen sie keine Reisenden mehr auf. Selbst in der Freiheit ist die Zeit ihrer Willfährigkeit nur von kurzer Dauer und geht schnell vorüber. Der Instinkt treibt sie und hält sie zurück. Worin wäre wohl für die Frauen ein Ersatz dieses negativen Instinktes zu finden, wenn man ihnen das Schamgefühl rauben würde? Wollte man warten, bis sie sich nichts mehr aus den Männern machen, so hieße das warten, bis ihnen dieselben nichts mehr nützen können.

Das höchste Wesen hat das Menschengeschlecht in jeder Weise bevorzugen wollen. Indem es dem Manne Neigungen ohne Maß eingepflanzt, stellt es ihn zugleich unter das Gesetz, welches sie regelt, damit er frei sei und sich selbst beherrsche. Mit den maßlosen Leidenschaften verband es wiederum die Vernunft, um sie zu leiten. Den grenzenlosen Begierden, die es im Weibe anfachte, stellte es die Scham zur Seite, um sie in Schranken zu halten. Zum Ueberfluß hat es der guten Anwendung der verliehenen Fähigkeiten noch eine Belohnung zuerkannt, das Wohlgefallen nämlich, das man am Sittlichen empfindet, sobald man es zur Richtschnur seiner Handlungen gemacht hat. Dies alles kann man wohl mit Recht zum Instinkte der Tiere gleichstellen.

Ob nun das Weib das Verlangen des Mannes teilen möge oder nicht, es zu befriedigen Lust habe oder nicht, so weist es ihn doch beständig zurück und sucht sich zu verteidigen, freilich nicht immer mit derselben Energie und deshalb auch nicht immer mit dem gleichen Erfolge. Soll der Angreifende den Sieg davontragen, so muß die Angegriffene es gestatten oder ihm wohl gar Vorschub leisten, denn wie viele geschickte Mittel stehen nicht zu ihrer Verfügung,[328] den Angreifenden zur Entfaltung aller seiner Kraft zu zwingen. Die freieste und süßeste aller Handlungen duldet keine wirkliche Gewalttätigkeit; Natur und Vernunft widersetzen sich derselben. Erstere hat den schwächeren Teil mit so viel Kraft ausgestattet, als er gebraucht, um Widerstand zu leisten, wenn es ihm gefällt, und letztere bezeichnet eine wirkliche Gewalttätigkeit nicht nur als die roheste aller Handlungen, sondern auch als eine solche, die ihrem Endzwecke völlig widerstrebt. Erklärt doch der Mann in diesem Falle seiner Gefährtin den Krieg und berechtigt sie, ihre Person und ihre Freiheit, selbst auf Lebensgefahr des Angreifers hin, zu verteidigen. Ferner steht auf Lebensgefahr des Angreifers hin, zu verteidigen. Ferner steht doch auch wohl der Frau allein das Recht zu, über den Zustand zu urteilen, in welchem sie sich befindet. Kein Kind würde einen Vater haben, wenn sich jeder Mann dessen Rechte anmaßen könnte.

Eine dritte Folge der Beschaffenheit der beiden Geschlechter ist die eigentümliche Erscheinung, daß der Stärkere nur scheinbar der Herr ist, während er in der Tat von dem schwächern Teil abhängt, und zwar nicht etwa infolge eitler Schmeichelei oder der stolzen Großmut des Beschützers, sondern infolge eines unveränderlichen Naturgesetzes, welches es dem Weibe leichter machte, Verlangen anzufachen, als dem Manne, es zu befriedigen. Dieses Naturgesetz hat also den Mann, er mag wollen oder nicht, von der Geneigtheit des Weibes abhängig gemacht und ihn gezwungen, auch seinerseits bemüht zu sein, demselben zu gefallen, so daß es folglich in den Willen des Weibes gesetzt ist, ihn als den Stärkeren gelten zu lassen oder nicht. Die Ungewißheit nun, in welcher der Mann schwebt, ob die Schwachheit der Stärke gewichen sei, oder ob sie sich mit Absicht ergab, ist eben für ihn das Süßeste bei seinem Siege. Darin besteht auch eine gewöhnliche List des Weibes, daß es diese Ungewißheit beständig zu erhalten weiß. Diese Schlauheit der Frauen steht auch vollkommen mit ihrer Körperbeschaffenheit[329] im Einklang. Weit davon entfernt, über ihre Schwäche zu erröten, rühmen sie sich derselben vielmehr. Ihre zarten Muskeln sind ohne Widerstandskraft; sie tun, als vermöchten sie nicht die leichteste Last zu heben, ja sie schämen sich förmlich, als stark zu gelten. Und weshalb das? Nicht bloß, um sich den Anstrich der Zartheit zu geben, nein, sie benutzen es in ihrer Verschmitztheit als eine Vorsichtsmaßregel, sie wollen sich im voraus entschuldigen und sich sogar das Recht vorbehalten, im Notfalle schwach zu sein.

Der Fortschritt der durch unsere Laster erworbenen Einsichten hat die über diesen Punkt unter uns herrschenden alten Ansichten wesentlich geändert. Man redet kaum noch von Notzucht, seitdem sie so wenig nötig ist und die Männer nicht mehr daran glauben,165 während sie in den ältesten Zeiten bei Griechen und Juden zu den gewöhnlichsten Verbrechen gerechnet wurde. Damals herrschte noch in den Ansichten eine natürliche Einfachheit, die uns durch unser zügelloses Leben verloren gegangen ist. Wenn in unseren Tagen wenige Fälle der Notzucht vorkommen, so hat dies seinen Grund nicht etwa darin, daß die Männer enthaltsamer geworden sind, sondern es erklärt sich dieser Umstand dadurch, daß die Menschen heutzutage weniger leichtgläubig sind, so daß eine derartige Klage, die ehemals bei den einfachen Völkern Glauben gefunden hätte, nur spöttisches Gelächter erregen würde – es ist vorteilhafter, zu schweigen. Im 5. Buche Mosis (Kap. 22, V. 23-27) steht ein Gesetz, nach welchem ein geschändetes Mädchen mit dem Verführer bestraft werden sollte, sobald das Verbrechen innerhalb der Stadt geschehen wäre. Für den Fall aber, daß es auf freiem Felde oder an abgelegenen Orten begangen wäre[330] sollte der Mann allein bestraft werden »denn«, sagt das Gesetz, »er fand sie auf dem Felde, und die vertraute Dirne schrie, und war niemand, der ihr half«. Diese nachsichtige Deutung lehrte die Mädchen, sich nicht an besuchten Orten überraschen zu lassen.

Diese Verschiedenheit der Ansichten ist nicht ohne Einfluß auf die Sitten geblieben. Eine Folge derselben ist die heutige Galanterie. Da sich nämlich die Männer überzeugten, daß ihre Freuden doch mehr, als sie wähnten, von dem freien Willen des schönen Geschlechts abhingen, so haben sie dieselben durch gefälliges Entgegenkommen sich geneigt zu machen gesucht uns sind reichlich dafür entschädigt worden.

Es wird eurer Aufmerksamkeit nicht entgehen, wie uns das Physische unmerklich auf das Moralische führt, und wie sich aus der rein äußerlichen Vereinigung der Geschlechter nach und nach die süßesten Gesetze der Liebe bilden. Nicht weil die Männer es gewollt haben, sind die Frauen zur Herrschaft gelangt, sondern weil es der Wille der Natur ist. Sie gehörte ihnen schon, noch bevor sie dieselbe auszuüben schienen. Derselbe Herkules, der sich einbildete, den fünfzig Töchtern des Thespius Gewalt anzutun, ließ sich dennoch zwingen, bei der Omphale zu spinnen; und der starke Simson besaß nicht die Stärke der Delila. Die Herrschaft liegt einmal in den Händen der Frauen und kann ihnen nicht entzogen werden, selbst wenn sie Mißbrauch mit derselben treiben. Sie können sie auch nie verlieren, sonst hätten sie sie längst eingebüßt.

In bezug auf die Folgen der geschlechtlichen Verhältnisse gibt es zwischen beiden Geschlechtern keine Gleichstellung. Der Mann zeigt seine Mannheit nur in gewissen Augenblicken, die Frau dagegen bleibt Frau ihr ganzes Leben oder wenigstens ihre ganze Jugend hindurch. Unaufhörlich wird sie an ihr Geschlecht gemahnt, und um ihre Pflichten[331] genau erfüllen zu können, bedarf sie einer den Anforderungen derselben entsprechenden Körperbeschaffenheit. Ihre Schwangerschaft macht ihr Schonung zur Pflicht; im Kindbett hat sie Ruhe nötig; solange sie ihre Kinder stillt, muß sie sich einer bequemen, sitzenden Lebensweise befleißigen, und zur Pflege der Erziehung derselben gehört viel Geduld und Sanftmut, viel Eifer und herzliche Liebe, die sich durch nichts zurückschrecken läßt. Sie ist das Band zwischen dem Vater und den Kindern, erfüllt ihn mit Liebe zu denselben und beseelt ihn mit dem Vertrauen, sie wirklich die Seinen nennen zu dürfen. Wie großer Zärtlichkeit und Sorgfalt bedarf nicht die Frau, um die Eintracht in der Familie aufrechtzuerhalten! Und nicht etwa die Tugend soll sie zu dem allen antreiben, sondern Neigung und angeborene Lust, ohne welche das Menschengeschlecht längst ausgestorben wäre.

Die Strenge der gegenseitigen Pflichten beider Geschlechter ist und kann nicht dieselbe sein. Wenn sich die Frau über diese Ungleichheit zwischen sich und dem Manne beklagt, als ob ihr dadurch eine Ungerechtigkeit zugefügt würde, so begeht sie ein Unrecht. Diese Ungleichheit rührt durchaus nicht von einer menschlichen Einrichtung her, wenigstens ist sie keineswegs das Ergebnis eines Vorurteils. Sie hat ihren Grund einfach darin, daß dasjenige Geschlecht, dem die Kinder von der Natur als ein teures Gut anvertraut sind, auch dem anderen für dieselben bürgen muß. Unzweifelhaft ist es niemand erlaubt, die Treue zu brechen, und jeder ungetreue Mann, welcher seiner Gattin den einzigen Lohn für die schweren Pflichten ihres Geschlechtes entzieht, handelt ungerecht und grausam. Aber die ungetreue Frau begeht ein noch größeres Unrecht, sie löst geradezu die Familie auf und trennt alle süßen Bande der Natur. Wenn sie dem Manne Kinder gibt, die nicht die seinigen sind, so betrügt sie beide und fügt zur Untreue noch den Meineid. Mann kann sich kaum denken, welche Unordnungen und Verbrechen sich hieraus entwickeln müssen.[332] Gibt es wohl einen unglückseligeren Menschen in der Welt als einen Vater, der, des Vertrauens zu seinem Weibe beraubt, nicht wagt, sich den süßesten Regungen seines Herzens hinzugeben? Wenn er sein Kind umarmt, muß er nicht fürchten, daß er das Kind eines anderen umarmt, das Pfand seiner Entehrung, den Räuber des Guts seiner eigenen Kinder? Die Familie ist dann nur eine Vereinigung geheimer Feinde, welche die schuldbeladene Frau gegeneinander aufreizt, indem sie dieselben zwingt, einander Liebe zu heucheln.

Es kommt demnach viel darauf an, daß die Frau nicht nur wirklich treu sei, sondern daß sie auch von ihrem Gatten, von ihren Verwandten, von jedermann dafür gehalten werde. Sie muß sittsam und zurückhaltend sein und ebenso in den Augen der anderen als in ihrem eigenen Gewissen das Zeugnis ihrer Tugend bestätigt finden. Wenn ein Vater seine Kinder lieben soll, so muß er vor allen Dingen Achtung vor ihrer Mutter hegen. Aus diesem Grunde muß man selbst den Schein der Tugend zu den Pflichten des Weibes rechnen, so daß ihr Ehre und guter Name ebenso unverbrüchlich heilig sind, wie die Keuschheit selbst. So folgt also aus diesen Grundsätzen sowie aus dem moralischen Unterschiede der Geschlechter für die Frauen die besondere Pflicht, in bezug auf ihre Führung, ihr Benehmen und ihre Haltung die peinlichste Aufmerksamkeit zu beobachten. Wollte man eben leichthin behaupten, daß beide Geschlechter gleich und ihre Verpflichtungen dieselben seien, so würde man sich nur in leeren Reden ergehen, man würden nichts sagen, solange man auf das Obige nicht geantwortet hat.

Es ist in der Tat eine leichte Art des Urteils, wenn man auf so allgemeine und wohlbegründete Gesetze mit Ausnahmen antwortet. Die Frauen, wendet man ein, bekommen ja nicht immer Kinder. Nein, aber trotzdem ist es doch ihre eigentliche Bestimmung, Kinder zu gebären. Wie? Weil es auf dem ganzen weiten Erdenrunde vielleicht[333] hundert große Städte gibt, in denen die Frauen infolge ihres lockeren Lebenswandels nur wenig mit Kindern gesegnet sind, deshalb wollt ihr behaupten, daß dies die Bestimmung de Frauen sei? Was würde wohl aus euren Städten werden, wenn nicht das flache Land, wo die Frauen in größerer Einfachheit und Keuschheit leben, die Unfruchtbarkeit jener Damen ausgliche? In wieviel Provinzen sind doch die Frauen, welche sich nur von vier bis fünf Kindern umringt sehen, für wenig fruchtbar verschrien!166 Und was kann es endlich auf die allgemeine Sache für Einfluß haben, wenn diese oder jene Frau wenige Kinder hat? Es ist deshalb nicht weniger die Bestimmung der Frau, Mutter zu werden, und nicht nur die allgemeinen Naturgesetze, sondern auch die Sitten müßten dieser Anschauung günstig sein.

Gesetzt, die Zwischenräume zwischen den Schwangerschaften wären wirklich immer so groß, als man anzunehmen pflegt, würde trotzdem eine Frau ohne alle Gefahr ihrer Lebensweise so schnell eine gerade ins Gegenteil umschlagende Aenderung geben können? Wird sie imstande sein, heute als Amme und morgen als Kriegerin aufzutreten? Wird sie Temperament und Neigungen wie das Chamäleon die Farben wechseln können? Ist es ihr möglich, aus ihrer stillen Zurückgezogenheit und Häuslichkeit herauszutreten und sich dann sofort der rauhen Witterung, den Anstrengungen, Mühen und Gefahren des Krieges auszusetzen? Vermag sie bald furchtsam167 und bald tapfer,[334] bald zart und bald kräftig zu sein? Wenn es den in Paris aufgewachsenen jungen Männern Mühe macht, die Beschwerden des Kriegshandwerks auszuhalten, wie sollen es dann wohl Frauen, die nie der Sonnenglut getrotzt und kaum marschieren gelernt haben, nach fünfzig Jahren eines bequemen Lebens zu ertragen imstande sein? Sollen sie dieses rauhe Handwerk etwa in einem Alter zu betreiben beginnen, in dem die Männer es bereits aufgeben?

Allerdings gibt es Länder, in denen die Frauen fast schmerzlos gebären und ihre Kinder beinahe ohne alle Mühe großziehen. Das räume ich gern ein. Aber in diesen Ländern gehen auch die Männer bei jedem Wetter halb nackt, bekämpfen mutig die wilden Tiere, tragen ein Boot wie einen Ranzen, dehnen ihre Jagdzüge oft sieben- bis achthundert Meilen aus, schlafen unter freiem Himmel auf bloßer Erde, ertragen unglaubliche Mühseligkeiten und können tagelang ohne Nahrung aushalten. Wenn die Frauen kräftig werden, ist dasselbe bei den Männern in noch höherem Maße der Fall. Verweichlichen sich jedoch die Männer, so nimmt die Verweichlichung bei den Frauen erst recht überhand. Wenn sich demnach beide Geschlechter immer auf gleiche Weise verändern, so bleibt der Unterschied stets der nämliche.

Plato läßt in seiner Republik die Frauen dieselben Uebungen wie die Männer betreiben. Das mußte er auch, denn da in seinem Staate keine einzelnen Familien bestehen sollten, und er nun nicht mehr wußte, was mit den Frauen anzufangen wäre, so blieb ihm nichts anderes übrig, als Männer aus ihnen zu machen. Dieser treffliche Kopf, alles vorhersehend und berechnend, kam dadurch einem Einwurfe zuvor, an den vielleicht sonst niemand gedacht hätte. Der Einwand aber, den man wirklich gegen ihn erhoben hat, fand seinerseits eine schlechte Widerlegung. Ich rede hier keineswegs von dem vermeintlichen gemeinsamen Besitze der Frauen. Es ist ein Vorwurf, der, so oft man ihn[335] auch gegen Plato wiederholt haben mag, nur den Beweis liefert, daß diejenigen, die ihn machten, Plato nie gelesen haben. Ich spreche vielmehr von jener gesellschaftlichen Vermischung, die in jeder Beziehung die beiden Geschlechter, sogar in ihren Beschäftigungen und Arbeiten, zusammenwirft und sicherlich nicht verfehlen kann, die unerträglichsten Mißbräuche hervorzurufen. Ich spreche von dieser Zerstörung der süßesten natürlichen Empfindungen, die einem erkünstelten Gefühle geopfert werden, welches ohne sie gar nicht einmal bestehen könnte. Als ob nicht ein natürliches Mittel nötig wäre, um die Bande inniger Gemeinschaft zu knüpfen! Als ob die Liebe, die man zu den Seinen hegt, nicht die Quelle der dem Staate schuldigen Liebe wäre! Als ob nicht gerade erst durch das kleine Vaterland, welches gleichsam die Familie bildet, das Herz an das große gefesselt würde! Als ob nicht gerade der gute Sohn, der gute Gatte, der gute Vater auch den guten Bürger abgeben!

Steht nun so viel fest, daß Mann und Frau in bezug auf Charakter und Temperament weder gleich beschaffen sind noch gleich beschaffen sein dürfen, so folgt daraus auch, daß sie keine gleichmäßige Erziehung erhalten können. Sie sollen zwar in Beobachtung der von der Natur angedeuteten Richtungen in Uebereinstimmung handeln, sollen aber deshalb nicht dasselbe tun. Der Zweck ihrer Arbeiten ist ein gemeinsamer, aber die Arbeiten selbst sind verschieden, und demnach auch die Neigungen, von denen sie sich leiten lassen. Haben wir uns vorher bemüht, einen Mann naturgemäß zu erziehen, so bleibt uns, damit wir unser Werk nicht unvollkommen lassen, noch zu zeigen übrig, wie die Frau zu erziehen ist, die das Gegenstück zu diesem Manne bildet.

Wer stets gut geleitet sein will, der folge beständig den Weisungen der Natur. Alles, was dem Geschlecht eigentümlich ist, muß als deren Werk angesehen und deshalb in Ehren gehalten werden. Ihr werdet nicht müde zu sagen: »Die Frauen haben den und den Fehler.« Allein euer[336] Stolz täuscht euch. Eigenschaften, welche bei euch als Mängel erscheinen würden, zeigen sich bei ihnen als Tugenden. Besäßen sie dieselben nicht, so würde es in mancher Beziehung schlechter mit uns bestellt sein. Man verhindere nur, daß diese vermeintlichen Fehler ausarten, rotte sie aber nicht aus.

Die Frauen ihrerseits hören nicht auf zu klagen, daß wir sie zur Eitelkeit und Gefallsucht erziehen und daß wir sie beständig nur mit lauter Kindereien zu unterhalten suchen, um desto leichter die Herren spielen zu können. Sie wollen die Fehler, die wir ihnen vorwerfen, uns aufbürden. Das ist töricht! Seit wann lassen sich denn die Männer auf Mädchenerziehung ein? Wer hindert die Mütter, ihre Töchter völlig so zu erziehen, wie es ihnen beliebt? Sie haben keine hohe Schulen! Das ist wirklich ein großes Unglück! Aber wollte Gott, wir hätten auch keine für die Knaben! Sie würden dann sicherlich vernunftgemäßer und sittsamer erzogen werden. Wer zwingt denn die Mädchen, ihre Zeit mit Tändeleien zu vertreiben und selbst gegen ihren Willen ihr halbes Leben am Putztische zuzubringen? Wer anders als die Mütter durch ihr Beispiel selbst! Man verhindert ja die Mütter nicht, sie nach eigenem Belieben zu erziehen oder erziehen zu lassen. Es ist doch nicht unsere Schuld, daß sie uns durch ihre Schönheit gefallen und durch ihr Liebäugeln verführen, daß die Künste, die sie von den Müttern erlernten, uns anziehen und angenehm berühren, daß wir sie gern geschmackvoll gekleidet sehen und sie ruhig die Mittel gebrauchen lassen, durch welche sie uns zu fesseln suchen! Nun wohl, man möge sie einmal als Männer erziehen; letztere werden von Herzen ihre Beistimmung geben. Je mehr sie darauf ausgehen werden, ihnen zu gleichen, desto weniger werden sie die Herrschaft über dieselben gewinnen, und erst dann werden sie in Wahrheit die Herren sein.

Die beiden Geschlechtern gemeinsamen Fähigkeiten sind nicht gleichmäßig verteilt, aber im ganzen genommen findet[337] eine Ausgleichung statt. Das Weib hat einen höheren Wert als Weib, einen geringeren, wenn es den Mann spielen will. Es ist überall im Vorteil, wo es seine Rechte geltend macht, im Nachteil aber, wo es sich die unsrigen anmaßen will. Diese allgemeine Wahrheit kann man nur durch Ausnahmen zu bestreiten suchen, wie es die galanten Verteidiger des schönen Geschlechts beständig zu tun pflegen.

Wollte man bei den Frauen nur die männlichen Eigenschaften ausbilden, ihre eigenen dagegen verabsäumen, so würde man denselben offenbar nur Schaden zufügen. Das sehen die Listigen unter ihnen auch nur gut ein, als daß sie sich sollten hinter das Licht führen lassen. Sie suchen sich unsere Vorzüge anzueignen, geben aber darum ihre eigenen keineswegs auf. Eine Vereinigung der Vorzüge beider Geschlechter ist indes nicht möglich, und daher kommt es, daß die Frauen weder die einen noch die anderen recht zu verwerten wissen. Indem sie weder ihre eigenen allseitig ausbilden, noch sich zu unserem Standpunkte vollständig erheben können, verlieren sie die Hälfte ihres Werts. Glaube mir, verständige Mutter, und suche deine Tochter nicht in einen ehrbaren Mann zu verhandeln, als wolltest du die Natur Lügen strafen; bilde vielmehr ein ehrbares Weib aus ihr, und halte dich versichert, daß es für beide Teile sein wird.

Hieraus folgt aber durchaus noch nicht, daß die Frauen in Unwissenheit erzogen und lediglich auf ihre Tätigkeit in der Wirtschaft beschränkt werden sollen. Welcher Mann wird seine Frau zur Magd erniedrigen wollen? Würde er sich dann nicht an ihrer Seite des größten gesellschaftlichen Reizes berauben? Er kann doch unmöglich, nur um sie besser beherrschen zu können, sie zu verhindern suchen, ihr Gemüt und ihren Verstand auszubilden! Er wird doch sicherlich kein willenloses Geschöpf aus ihr machen wollen! Im Gegenteil, da die Natur der Frau einen so anziehenden und gewandten Geist verliehen hat, so soll sie selbständig[338] denken, urteilen, lieben, sich Kenntnisse erwerben und ihren Geist ebensogut pflegen wie ihren Körper. Diese Waffen hat ihr die Natur als Ersatz für die ihr fehlende Stärke verliehen, um so die unsrige nach ihrem Willen lenken zu können. Sie soll vieller nen, allein nur das, was ihr zu wissen dienlich ist.

Ob ich nun mein Augenmerk auf die besondere Bestimmung des schönen Geschlechts lenke, oder ob ich seine Neigungen berücksichtige, oder ob ich mir seine Pflichten vorhalte, so trägt doch alles gleichmäßig dazu bei, mich auf die für dasselbe geeignete Erziehung hinzuweisen. Frau und Mann sind füreinander bestimmt, aber ihre gegenseitige Abhängigkeit ist keineswegs gleich. Der Mann hängt von der Frau infolge seiner Begierden ab, die Frau aber vom Manne nicht allein hierin, sondern auch in ihren Bedürfnissen. Wir könnten weit eher ohne die Frauen, als die ohne uns bestehen. Ihre Lebensbedürfnisse und Lebensstellung verdanken sie uns allein. Wir müssen sie ihnen gewähren, müssen sie ihnen gewähren wollen, müssen sie derselben würdig erachten. Sie sind aber auch von unserem Urteil abhängig, von unserer Schätzung ihres Wertes, ihrer Reize und ihrer Tugenden. Ja sogar nach dem Gesetz der Natur hängen sie sowohl für sich als für ihre Kinder von dem Urteil der Männer ab. Es genügt nicht, daß sie achtungswürdig sind, sie müssen auch geachtet werden; es genügt für sie nicht, weise zu sein, sie müssen dafür auch Gefallen erregen; es genügt für sie nicht, schön zu sein, sie müssen auch Gefallen erregen; es genügt für sie nicht, weise zu sein, sie müssen dafür auch gelten. Ihre Ehre ist nicht allein an ihr Betragen, sondern hauptsächlich an ihren Ruf geknüpft, und es ist nicht möglich, daß eine Frau, die sich gefallen ließe, für ehrlos gehalten zu werden, auch wirklich ein rechtschaffenes Weib sein kann. Ein Mann, der recht handelt, hängt nur von sich selbst ab und kann dem öffentlichen Urteil trotzen. Eine Frau jedoch hat, auch wenn sie recht tut, der ihr gestellten Aufgabe dann erst zur Hälfte Genüge[339] getan. An dem, was man von ihr denkt, darf ihr nicht weniger gelegen sein, als an dem, was sie in Wahrheit ist. Ihre Erziehung darf also in dieser Beziehung mit der unsrigen durchaus nicht übereinstimmen. Die Meinung ist bei dem Manne das Grab der Tugend, bei der Frau deren Thron.

Von der guten Konstitution der Mütter hängt zunächst die der Kinder, sowie von der Sorgfalt der Frauen die erste Erziehung der Männer ab. Dann aber hängen weiter noch auch die Sitten, Leidenschaften, Neigungen und Freuden, ja sogar das Glück derselben von ihnen ab. Deshalb soll sich die ganze Erziehung der Frauen um die Männer drehen. Ihnen Gefallen einzuflößen und zu nützen, sich bei ihnen beliebt zu machen und in Ehren zu stehen, sie in der Jugend zu erziehen, und wenn sie herangewachsen sind, für sie zu sorgen, ihnen mit Trost und Rat beizustehen, das Leben zu verschönern und zu versüßen: das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, auf die man sie von Kindheit an aufmerksam machen soll. Solange man nicht diesen Grundsatz befolgt, entfernt man sich vom Ziel, und alle Vorschriften, welche man ihnen erteilt, werden weder zu ihrem noch zu unserem Glücke dienen.

Obgleich nun jede Frau von dem Wunsche beseelt ist, den Männern zu gefallen, und auch beseelt sein soll, so ist es doch ein großer Unterschied, ob sie darauf ausgeht, einem verdienstvollen, wahrhaft liebenswürdigen Manne, oder jenen weibischen Männern zu gefallen, die ebensowenig ihrem eigenen Geschlecht, als dem, welches sie nachzuahmen suchen, zur Zierde gereichen. Es ist weder in der Natur noch in der Natur noch in der Vernunft begründet, daß die Frau an den Männern das Weibische liebe, und ebensowenig darf sie männliche Sitten annehmen, um sich bei den Männern beliebt zu machen.

Sobald nun eine Frau den sittsamen und züchtigen Ton ihres Geschlecht7s ablegt und in das Wesen jener törichten[340] Männer verfällt, entsagt sie ihrem Berufe, statt ihm zu folgen, und begibt sich sogar selbst der Rechte, die sie sich anzueignen gedachte. »Aber«, so sagen manche Frauen, »wir würden den Männern ja gar nicht gefallen, wenn wir es nicht so machten!« Darin irren sie sich vollständig. Nur eine Närrin vermag einen Narren zu lieben. Der Wunsch, solche Leute zu fesseln, gibt den Geschmack derjenigen zu erkennen, welche sich ihnen hingeben. Gäbe es noch keine frivolen Männer, so würden sie nicht ruhen und rasten, bis sie deren herangebildet hätten, denn unsere Leichtfertigkeit ist in weit höherem Maße das Werk der Frauen als umgekehrt. Die Frau, welche wahre Männer liebt und ihnen zu gefallen strebt, wählt zu ihrem Zwecke die passendsten Mittel. An und für sich ist sie ja gefallsüchtig, aber ihre Koketterie ändert Form und Gegenstand mit ihren Anschauungen. Wenn man nun letztere mit den Absichten der Natur in Uebereinstimmung zu bringen versteht, dann wird die Frau die ihrem Wesen entsprechende Erziehung erhalten.

Die kleinen Mädchen lieben fast von ihrer Geburt an den Putz. Nicht zufrieden damit, daß sie hübsch sind, wollen sie dafür auch gelten. Man sieht es an ihrem ganzen Gebaren, daß diese Sorge sie schon früh beschäftigt, und kaum sind sie imstande, zu verstehen, was man zu ihnen sagt, so vermag man sie dadurch zu leiten, daß man sie darauf aufmerksam macht, was die Welt von ihnen denken werde. Wollte man, wie man unüberlegterweise wirklich vorgeschlagen hat, dieses Erziehungsmittel auch auf Knaben anwenden, so würde dasselbe sicherlich bedeutend weniger Gewalt über sie gewinnen. Wenn sie nur ihren freien Willen und ihren Zeitvertreib haben, so bekümmern sie sich wenig darum, was die Leute von ihnen denken. Es gehört viel Zeit und Mühe dazu, um sie unter dasselbe Gesetz zu beugen.

Von welcher Seite her die Mädchen auch diese erste Lehre empfangen mögen, so ist sie doch stets gut, denn da[341] der Körper sozusagen vor der Seele geboren wird, so muß die erste Pflege sich auf den Körper erstrecken. Zwar gilt dies für beide Geschlechter, aber der Gegenstand der Erziehung ist doch ein verschiedener. Bei dem einen Geschlechte soll die Kraft, bei dem anderen die Anmut entwickelt werden; allein nicht etwa so, daß diese Eigenschaften ausschließliches Eigentum eines der beiden Geschlechter werden, sie sollen nur in umgekehrter Ordnung auftreten. Die Frau muß so viel Kraft besitzen, um alles mit Anmut ausführen zu können; der Mann bedarf hinwiederum der Geschicklichkeit, um alles mit Leichtigkeit zu verrichten.

Mit einem Uebermaße der Verweichlichung der Frauen nimmt auch die Verweichlichung der Männer ihren Anfang. Wenn die Frauen auch nicht so stark wie diese zu sein brauchen, so müssen sie doch so kräftig sein, um tüchtigen Knaben das Leben geben zu können. In dieser Beziehung sind die Klöster, in denen die Zöglinge zwar eine grobe Kost erhalten, aber viel freie Bewegung haben, viel in der freien Luft und in den Gärten umherlaufen und spielen, mancher häuslichen Erziehung vorzuziehen. Gibt es ja doch leider viele Familien, in denen die Tochter nur an leckere Kost, an Schmeichel- und Scheltworte gewöhnt wird und in denen sie beständig unter den Augen der Mutter im verschlossenen Zimmer sitzen muß. Was ist aber die Folge einer solchen Erziehung? Daß das arme Kind nicht frei aufzustehen, nicht zu gehen, nicht zu sprechen, ja kaum Atem zu holen wagt, und nie einen freien Augenblick hat, nach Herzenslust zu spielen, zu springen, zu laufen, zu schreien und sich dem natürlichen Mutwillen seines Alters zu überlassen. Beides, beständige Nachsicht und übelangebrachte Strenge, ist verderblich und entspricht keineswegs der Vernunft. Durch einseitige Behandlung verdirbt man nur Körper und Seele der Jugend.

Die spartanischen Mädchen wurden wie die Knaben in kriegerischen Spielen ausgebildet, nicht etwa um persönlich[342] in den Krieg zu ziehen, sondern um dereinst Mütter von Knaben werden zu können, die fähig wären, die Beschwerden des Krieges zu ertragen. Ich kann mich damit zwar nicht völlig einverstanden erklären, denn es ist durchaus nicht notwendig, daß die Mutter, um dem Staate Soldaten zu geben, die Flinte getragen und das preußische Exerzitium durchgemacht habe, allein im allgemeinen finde ich die griechische Erziehung in diesem Punkte sehr verständig. Die jungen Mädchen erschienen oft öffentlich, freilich nicht mit den Knaben gemeinschaftlich, sondern von ihnen getrennt. Es gab fast kein Fest, keine feierliche Opferhandlung, an denen nicht Scharen von Mädchen der vornehmsten Bürger, mit Blumen bekränzt, teilnahmen. Sie trugen Körbe, Vasen und Ostergaben, sangen Hymnen, führten gemeinschaftliche Tänze auf und boten so den verfeinerten Sinnen der Griechen ein reizendes Schauspiel dar, das geeignet war, der üblen Wirkung ihrer gerade nicht sehr anständigen Gymnastik die Wage zu halten. Abgesehen von dem Eindruck, welchen dieser Brauch auf das Herz der Männer ausüben mußte, so war er doch immer in der Beziehung vortrefflich, daß er durch angenehme, mäßige und heilsame Uebungen die weibliche Jugend körperlich gut entwickelte und ihr außerdem durch das beständige Bestreben zu gefallen den Geschmack schärfte und bildete, ohne je ihre Sittlichkeit ernstlich zu gefährden.

Sobald diese jungen Mädchen in den Ehestand traten, ließen sie sich öffentlich nicht mehr sehen. In ihre Wohnungen zurückgezogen, widmeten sie alle ihre Sorgfalt lediglich dem Hauswesen und der Familie. Das ist eben die Lebensweise, welche Natur und Vernunft dem weiblichen Geschlechte vorschreiben. Von solchen Müttern wurden denn auch die gesündesten, kräftigsten und wohlgebildetsten Kinder geboren, und daher kam es, daß, ungeachtet des üblen Rufes einiger Inseln, unter allen Völkern der Erde, selbst die Römer nicht ausgenommen, die Frauen der Griechen als[343] die weisesten und liebenswürdigsten galten, bei denen sich Sittlichkeit und Schönheit harmonisch paarten.

Es ist bekannt, daß die bequeme, den Körper nicht einengende Kleidung viel dazu beitrug, demselben bei beiden Geschlechtern jene schönen Verhältnisse zu bewahren, welche man an ihren Statuen bewundert, und die heutigestags noch als Vorbilder der Kunst dienen, da die verunzierte Natur solche Gestalten unter uns nicht mehr hervorbringt.

Von all den gotischen Fesseln und der Menge von Bändern, welche unseren Körper von allen Seiten einschnüren, wußten sie nichts. Ihre Frauen kannten auch die Schnürleiber nicht, durch welche die unsrigen ihre Figur mehr verunstalten, als ihre wahre Beschaffenheit zeigen. Nach meiner Ansicht muß ein solcher Mißbrauch, der in England zum Beispiel zu einer unbegreiflichen Höhe getrieben ist, endlich zur Entartung des Geschlechtes führen, und sicherlich zeigt das Wohlgefallen, das man daran hat, von keinem guten Geschmack. Es ist doch durchaus nicht angenehm, eine Frau wie eine Wespe in zwei Stücke geteilt zu sehen; es beleidigt das Auge und verletzt die Einbildungskraft. Die Schönheit der Figur beruht wie alles übrige auf bestimmten Verhältnissen und Maßen; über dieselben hinauszugehen, ist sicherlich ein Fehler. Schon beim nackten Körper würde dieser Fehler ins Auge fallen; wie sollte er sich nun unter der Kleidung und Schönheit verwandeln?

Ich will nicht nach den Gründen forschen, weshalb die Frauen so hartnäckig darauf bestehen, sich zu panzern. Ein schlaffer Busen, ein aufgetriebener Leib, usw. sind, wie ich nicht leugnen kann, bei einem Mädchen von zwanzig Jahren nichts Schönes. In einem Alter von dreißig Jahren fällt dies indes nicht mehr so auf. Da wir nun in jedem Alter, wir mögen wollen oder nicht, doch stets von der Natur abhängig sind, uns sich überdies das Auge des Mannes hierin auch gar nicht täuschen läßt, so sind jene Mängel, das Alter[344] sei welches es wolle, nicht so unangenehm als die alberne Ziererei einer Kleinen von – vierzig Jahren.

Alles, was die Natur hemmt und einzwängt, ist das Ergebnis eines schlechten Geschmacks. Das hat sowohl bei dem Schmucke des Körpers als bei der Ausbildung des Geistes seine Gültigkeit. Leben, Gesundheit, Vernunft, Wohlbefinden müssen über alles andere gehen. Es gibt keine Anmut ohne Ungezwungenheit; Zartheit ist nicht schmachtendes Wesen, und um Gefallen zu erregen, braucht man nicht krank zu sein. Leider erregt Mitleid, aber Freude und Verlangen suchen die Frische der Gesundheit.

Den Kindern beiderlei Geschlechts fehlt es nicht an vielen gemeinsamen Vergnügungen, und so soll es auch sein. Haben sie dieselben denn nicht ebenfalls, wenn sie erwachsen sind? Aber es zeigen sich doch bald die eigentümlichen Neigungen, welche sie unterscheiden. Die Knaben verlangen Bewegung und Lärm: Trommeln, Kreisel, kleine Wagen; die Mädchen haben ihre Freude mehr an dem, was das Auge besticht und zum Schmucke dient: an Spiegeln, Geschmeide, Flitterstaat, besonders aber an Puppen. Die Puppe ist das besondere Spielzeug dieses Geschlechtes, und hiermit bekundet das Mädchen ganz unzweideutig seinen Geschmack an seiner natürlichen Bestimmung. Von der Kunst zu gefallen kann es vorläufig nur das Aeußerliche, das Sinnliche, pflegen; dies besteht eben im Putz.

Man sehe und beobachte nur, wie ein kleines Mädchen den ganzen Tag mit seiner Puppe beschäftigt ist. Unaufhörlich verändert es deren Anzug, kleidet sie hundertmal an und aus und sucht immer neue Zieraten, mögen sie nun passen oder nicht, darauf kommt es nicht an. Den Fingern gebricht es wohl an der gehörigen Geschicklichkeit, der Geschmack hat sich noch nicht entwickelt, indes zeigt sich doch schon die Anlage zur Entwicklungsfähigkeit. Bei dieser beständigen Beschäftigung verfließt dem Mädchen unbemerkt die Zeit, die Stunden vergehen, es weiß nicht wie; sogar[345] das Essen wird vergessen, es hat mehr Verlangen nach Putz als nach Nahrung. Aber, so könnte man einwenden, es putzt ja seine Puppe und nicht sich selbst! Darin liegt allerdings eine gewisse Wahrheit. Vorläufig wendet es noch der Puppe seine ganze Aufmerksamkeit zu; für sich selber vermag es, da es seine volle Entwicklung noch nicht erreicht hat, nichts zu tun; es hat bis jetzt dazu weder die nötigen Talente noch die Kraft. Deshalb lebt und webt es nur in seiner Puppe und erschöpft seine ganze Gefallsucht an derselben. Aber es wird sich nicht immer darauf beschränken, es wartet auf den Augenblick, selber seine Puppe zu werden.

So zeigt sich also in diesem Spiele eine ganz entschiedene Neigung. Es kommt jetzt nur darauf an, derselben nachzugehen und sie auszubilden. Sicherlich würde die Kleine ihre Puppe herzlich gern ganz allein ausputzen, sich selber die Schleifchen, kleinen Tücher, Falbeln und Spitzen verfertigen. Sie fühlt sich in dieser Beziehung in so drückender Weise von der Gefälligkeit anderer abhängig, daß ihr nichts angenehmer wäre, als sich durch eigene Kunstfertigkeit helfen zu können. Hieraus folgt, worin der erste Unterricht bestehen soll, den man kleinen Mädchen erteilt. Man schreibt ihnen damit keine Arbeiten vor, sondern man erweist ihnen sogar einen Gefallen. Und in der Tat lernen sie fast alle lieber mit der Nadel arbeiten als lesen und schreiben. Sie denken schon mit Vergnügen daran, daß ihnen diese Geschicklichkeit, wenn sie einst groß sein werden, dazu dienen kann, sich zu putzen.

Ist dieser Weg erst gebahnt, so ist alles übrige leicht. Das Nähen, Sticken, Klöppeln kommen wie von selbst. Teppichstickerei sagt ihnen dagegen weniger zu. Die Möbel liegen ihnen noch zu fern; außerdem haben sie nichts mit ihrer Person zu schaffen und sind mehr dem Urteil anderer unterworfen. Dergleichen Arbeiten bilden mehr eine Unterhaltung für Frauen; junge Mädchen werden nie daran großes Vergnügen finden.[346]

Mit diesen freiwilligen Arbeiten läßt sich nun leicht das Zeichnen verbinden, denn diese Kunst ist für jeden, der sich geschmackvoll zu kleiden wünscht, durchaus nicht gleichgültig. Ich würde aber freilich wünschen, daß man sie nicht Landschaften, noch weniger aber Figuren zeichnen ließe. Blätter, Früchte, Blumen, Faltenwurf, kurz alles, was zur äußeren Zier der Kleidung dienen kann, sowie die Fähigkeit, sich selbst ein Stickmuster zu entwerfen, wenn man kein passendes aufzutreiben vermag, das ist für sie völlig genügend. Wenn sich die Männer schon im allgemeinen auf das Studium nützlicher Kenntnisse beschränken sollen, so gilt dies für die Frauen in noch höherem Maße. Denn wenn ihr Leben auch weniger mühevoll ist, so soll sich ihre Tätigkeit doch auf mancherlei Sorgen erstrecken und soll stets unermüdlich sein, so daß sie sich zum Nachteil ihrer Pflichten nie einer Lieblingsbeschäftigung vorherrschend widmen dürfen.

Was man dagegen auch sagen mag: der gesunde Menschenverstand ist beiden Geschlechtern gleich eigen. Die Mädchen sind im allgemeinen gelehriger als die Knaben, und man bedarf bei ihnen sogar größere Autorität. Freilich darf man von ihnen nicht etwas fordern, dessen Nützlichkeit sie nicht einsehen. Die Kunst der Mutter besteht darin, ihnen von allem, was sie anordnet, den Nutzen zu zeigen, und dies ist um so leichter, da sich bei den Mädchen das Verständnis frühzeitiger entwickelt als bei den Knaben. Deshalb belästige man Knaben sowohl wie Mädchen nicht mit einem müßigen Studium, das zu nichts Nützlichem führt, und sogar solche, die es betreiben, bei anderen nicht einmal angenehm macht. Aber auch ein solches Studium ist nicht zu empfehlen, dessen Nutzen in diesem Alter noch nicht einleuchtet, da das Kind noch nicht befähigt ist, sich auf einem späteren Standpunkt zu stellen. Wenn ich nicht wünsche, daß man einen Knaben ängstlich anhalte, lesen zu lernen, so wünsche ich noch viel weniger, daß man ein[347] junges Mädchen dazu zwinge, bevor es den Nutzen des Lesens hat einsehen lernen. Freilich, bei der Art, wie man ihm diesen Nutzen begreiflich machen will, folgt man mehr seinen eigenen Begriffen als der kindlichen Anschauungsweise. Aber worin liegt denn die Notwendigkeit, daß ein Mädchen so früh lesen und schreiben lernt? Soll es denn in kurzer Zeit eine Wirtschaft führen? Es gibt nur sehr wenige, welche keinen Mißbrauch mit dieser bedenklichen Kunst treiben. Man sollte sie nicht zwingen; sie werden diese schon lernen, sobald sich Zeit und Gelegenheit findet; dafür sind sie insgesamt viel zu neugierig. Vielleicht sollten sie zunächst rechnen lernen, denn nichts ist in allen Lebenslagen nützlicher, aber auch zugleich schwieriger und so dem Irrtum unterworfen als das Rechnen. Wenn die Kleine ihre Kirschen zum Vesperbrot erst dann bekäme, wenn sie ein Rechenexempel gelöst, so glaube ich sicher, daß sie bald würde rechnen lernen.

Ich kenne ein junges Mädchen, welches eher schreiben als lesen lernte und mit der Nadel zu schreiben anfing, bevor sie die Feder zu führen vermochte. Von allen Schriftzeichen wollte es zuerst nur das O nachmalen. Es schrieb beständig große und kleine O, schrieb sie von allen möglichen Größen, zwängte ein O in das andere hinein und schrieb dabei regelmäßig von rechts nach links. Unglücklicherweise sah es sich eines Tages, während es sich dieser nützlichen Beschäftigung hingab, im Spiegel: da machte die Kleine die Entdeckung, daß ihr die gekrümmte Haltung ein schlechtes Aussehen gab. Wie eine Minerva warf sie die Feder weg und wollte keine O mehr schreiben. Auch ihr Bruder fand kein Wohlgefallen am Schreiben. Ihn hielt jedoch weniger das ungeschickte Aussehen davon, als der damit verbundene Zwang. Man brachte nun das Mädchen wieder auf folgende Weise zum Schreiben. Es war sehr eigen und wollte durchaus nicht leiden, daß sich die Schwestern seiner Wäsche bedienten. Bisher hatte man ihnen dieselbe gezeichnet, nun unterließ[348] man es. So mußte die Kleine dies also von jetzt ab selbst lernen. Das übrige ergab sich nun von selbst.

Deshalb rechtfertige man stets die Dienstleistungen, die man von jungen Mädchen fordert, aber man beschäftige sie auch stets. Müßiggang und Eigensinn sind für sie die beiden schlimmsten Fehler, die man am allerschwersten auszurotten vermag, sobald man sie erst hat einzuwurzeln lassen. Mädchen müssen sorgsam und arbeitsam sein. Das ist indes noch nicht alles, sie müssen sich auch zeitig fügen lernen. Ein gewisser Zwang ist von ihrem Geschlechte unzertrennlich, und wenn sie sich demselben entziehen wollen, so werden sie es einst bitter bereuen. So sind sie zum Beispiel ihr ganzes Leben einem beständigen und sehr strengen Zwang unterworfen, nämlich dem der Wohlanständigkeit. Sie müssen deshalb schon früh an diesen Zwang gewöhnt werden, damit sie sich leicht in denselben finden lernen: man muß sie beizeiten anhalten, ihre Launen zu beherrschen, um sie dem Willen anderer unterwerfen zu können. Hätten sie Lust, fortwährend zu arbeiten, so müßte man sie zwingen, sich Erholung zu gönnen. Zerstreutheit, Leichtfertigkeit und Unbeständigkeit sind Fehler, die sich leicht daraus entwickeln, daß man seine Lieblingsneigungen eine verkehrte Richtung einschlagen und sich beständig von ihnen leiten läßt. Will man dieser Verwirrung vorbeugen, so gewöhne man sie vor allem daran, sich selbst zu beherrschen. Deshalb ist das Leben einer ehrbaren Frau bei den vielen verkehrten Einrichtungen unserer Zeit fast ein beständiger Kampf mit sich selbst. Doch ist es nur billig, daß dies Geschlecht auch seinen Anteil an den Leiden trage, die es uns bereitet hat.

Man verhindere, daß sich die Mädchen bei ihren Beschäftigungen langweilen und ihren Vergnügungen mit zu großer Leidenschaft hingeben, wie dies der gewöhnlichen Erziehung fast regelmäßig zu geschehen pflegt. Hier trägt, wie Fénélon sagt, der eine Teil alle Langeweile, der andere[349] alles Vergnügen. Die genaue Beobachtung der obigen Regeln vorausgesetzt, wird der erste dieser beiden Uebelstände nur dann hervortreten, wenn die Personen, von denen das Kind umgeben ist, ihm mißfallen. Ein kleines Mädchen, das seine Mutter oder seine Erzieherin liebt, wird den ganzen Tag an ihrer Seite arbeiten, ohne Langeweile zu empfinden; schon das bloße Plaudern entschädigt es für allen Zwang. Wenn es jene nicht leiden kann, wird es alles mit Unlust tun, wozu es unter deren Augen angehalten wird. Es ist sehr schwer, daß die Mädchen gut geraten, denen die Mutter nicht über alles geht. Freilich, um ihre wahren Gefühle richtig beurteilen zu können, muß man sie genauer beobachten und sich nicht allein auf das verlassen, was sie sagen; denn sie sind Schmeichelkätzchen, listig und lieben schon frühzeitig die Verstellung. Auch darf man ihnen nicht vorschreiben, ihre Mutter zu lieben: die Liebe läßt sich nicht gebieten, und hier hilft kein Zwang. Anhänglichkeit, Sorgfalt und schon die süße Gewohnheit werden in der Tochter Liebe zur Mutter erwecken, falls sich diese nicht durch irgendeine Handlung ihren Haß zuzieht. Selbst der verständige Zwang, in welchem die Tochter notwendig gehalten werden muß, wird diese Zuneigung nicht schwächen, sondern nur erhöhen, denn Abhängigkeit ist ein den Frauen natürlicher Zustand, und schon die Mädchen fühlen, daß sie zum Gehorchen geboren sind.

Die Frauen haben also oder sollen wenigstens nur einen geringeren Grad von Freiheit haben. Aus demselben Grunde geben sie sich aber den Freiheiten, welche man ihnen läßt bis zum Uebermaße hin. Geneigt, alles zu übertreiben, entwickeln die Mädchen bei ihren Spielen einen weit ungestümeren Eifer als selbst die Knaben. Das ist der zweite der angedeuteten Uebelstände. Dieses Ungestüm muß durchaus niedergehalten werden, denn in ihm wurzeln mehrere Fehler, die den Frauen eigentümlich sind, wie zum Beispiel der Eigensinn und die Eingenommenheit von sich selbst.[350]

So kann sich eine Frau heute für etwas begeistern, was sie morgen kaum beachtet. Eine solche Unbeständigkeit in ihren Neigungen ist ebenso schädlich wie eine zu große Leidenschaftlichkeit in denselben, und beide entstehen aus derselben Quelle. Wir wollen ihnen durchaus nicht ihren Frohsinn, ihr Lachen, ihre Lebhaftigkeit und ihre ausgelassenen Spiele mißgönnen, nur muß man zu verhüten suchen, daß sie sich an einer Sache übersättigen und dann voller Unbeständigkeit bald das eine, bald das andere ergreifen. Stets müssen sie fühlen, daß jedes Beginnen nur bis zu einer gewissen Grenze ausgedehnt werden darf; man gewöhne sie, sich mitten im Spiel ohne Murren unterbrechen zu lassen und etwas anderes vorzunehmen. Schon die Gewöhnung tut hierin viel, da sie ja in dieser Beziehung nur eine Unterstützung der natürlichen Neigung ist.

Ist der Zwang zur Gewohnheit geworden, so entsteht daraus eine Fügsamkeit des Geistes, welche den Frauen ihr ganzes Leben hindurch von großem Nutzen ist. Beständig sind sie ja entweder einem Mann oder dem Urteil der Männer unterworfen, und nie dürfen sie sich über diese Urteile hinwegsetzen. Die vor nehmste und wichtigste Eigenschaft einer Frau ist die Sanftmut. Dazu bestimmt, einem Wesen zu gehorchen, das in jeder Beziehung so unvollkommen ist und, wenn auch nicht immer geradezu Laster, so doch stets viele Fehler besitzt, muß die Frau schon früh, ohne sich zu beklagen, Ungerechtigkeit erdulden und die Härte eines Gatten ertragen lernen. Sie muß weniger seinetwegen als um ihrer selbst willen sanft sein. Verstimmung und Halstarrigkeit der Frauen tragen nur dazu bei, ihre Leiden zu vergrößern und das Verhältnis zu dem Manne zu verschlimmern. Nicht mit diesen Waffen sollen sie über die Männerwelt zu siegen suchen. Der Himmel hat ihnen nicht deshalb jenes einschmeichelnde und bestrickende Wesen verliehen, um zänkisch zu werden, hat ihnen ihre Schwäche nicht gegeben, um sie als Mittel zur Erlangung der Herrschaft[351] zu benutzen, hat sie mit ihrer sanften Stimme nicht zum Schmähen und Schelten und mit ihrem zarten Gesichtsausdruck nicht dazu ausgestattet, um ihn durch Ausbrüche des Zornes zu entstellen. Wenn sie sich ärgern, vergessen sie sich. Oft haben sie wohl recht, sich zu beschweren, sobald sie aber schmälen, ist das Unrecht stets auf ihrer Seite. Jedes muß den Ton seines Geschlechtes beibehalten. Zeigt der Mann zuviel Sanftmut, so kann sich die Frau dadurch leicht zur Ungezogenheit verleiten lassen; sofern aber der Mann nicht völlig verkommen ist, wird ihn die Sanftmut der Frau stets wieder auf den rechten Weg zurückbringen und früher oder später doch stets den Sieg davontragen.

Die Töchter sollen also immer gehorsam, die Mütter jedoch auch nicht immer unerbittlich sein. Um ein junges Mädchen an Folgsamkeit zu gewöhnen, braucht man es nicht unglücklich zu machen; um es zur Sittsamkeit anzuhalten, braucht man nicht das Gefühl in ihm zu ertöten. Ich würde es im Gegenteil einem jungen Mädchen nicht verargen, wenn es hin und wieder eine kleine List anwendete, zwar nicht, um der Strafe für seinen Ungehorsam zu entgehen, sondern um der Notwendigkeit, gehorchen zu müssen, auf eine Art aus dem Wege zu gehen. Die Abhängigkeit braucht nicht gerade lästig und beschwerlich zu werden, es ist schon hinreichend, wenn man sich ihrer bewußt ist. Da nun die List eine natürliche Anlage des weiblichen Geschlechtes ist und nach meiner Ansicht alle Naturanlagen an für sich gut und berechtigt sind, so glaube ich, daß man auch diese Anlage wie alle anderen pflegen muß, nur soll man die Ausartung derselben verhüten.

In bezug auf die Richtigkeit dieser Bemerkung möchte ich mich auf das Urteil eines jeden gewissenhaften Beobachters berufen. Von den Frauen müssen wir in diesem Punkte freilich absehen; sie haben vielleicht schon infolge unserer zwangsvollen gesellschaftlichen Einrichtungen Gelegenheit und Anregung genug, ihren Geist zu schärfen. Wir[352] wollen hier nur von den kleinen Mädchen reden, die gleichsam erst zu leben beginnen. Vergleicht man sie mit Knaben von gleichem Alter, so werden diese sicherlich gegen jene schwerfällig, unbeholfen und linkisch erscheinen. Ich will nur ein Beispiel anführen, und das verschiedene Benehmen beider Geschlechter in ihrer kindlichen Einfalt zu zeigen.

Man pflegt den Kindern zu verbieten, bei Tische etwas zu fordern. Ich halte dies allerdings nicht für richtig, denn man soll die Kinder nicht mit unnützen Vorschriften überladen. Es ist ja leicht, ihnen einen Bissen von diesem oder jenem Gerichte zu gewähren oder zu verweigern.168Man martert dann wenigstens das arme Kind nicht mit seiner durch die Hoffnung gesteigerten Lüsternheit fast zu Tode. Bekannt ist nun die List eines kleinen Knaben, dem dies Gesetz ebenfalls auferlegt war, und der sich, als man ihn bei Tische vergessen hatte, ein Herz faßte und um ein wenig Salz hat. Man hätte ihn freilich deswegen doch schelten können, weil er direkt zwar nur Salz, indirekt aber damit gleichzeitig Fleisch gefordert hatte. Doch will ich dagegen nichts einwenden, denn in jenem Uebersehen lag etwas so Grausames, daß ich mir die Möglichkeit seiner Bestrafung selbst in dem Falle nicht denken kann, wenn er das Gebot geradezu übertreten und ohne Umschweife gesagt hätte, daß ihn hungere. Ich will hier nur die List mitteilen, welche ein kleines Mädchen von sechs Jahren in meiner Gegenwart in einem ungleich schwierigeren Fall anwendete; denn nicht allein war auch diesem auf das strengste untersagt worden, weder mittelbar noch unmittelbar irgend etwas zu fordern, sondern sein Ungehorsam wäre hier auch insofern unverzeihlich gewesen, als das Kind, mit Ausnahme eines einzigen Gerichtes, bereits von allen übrigen gegessen[353] hatte. Von diesem hatte man ihm vorzulegen vergessen, aber gerade nach ihm trug es besonders Verlangen.

Um nun auf diesen Akt der Vergeßlichkeit aufmerksam zu machen, ohne gerade ungehorsam zu erscheinen, ließ es mit erhobenem Finger seine Blicke über alle Gerichte schweifen und sagte, indem es auf jedes einzelne hinwies, dabei ganz laut: »Hiervon habe ich gegessen, hiervon habe ich gegessen!« Als es aber an das Gericht gelangte, von dem man ihm vorzulegen vergessen hatte, überschlug es dasselbe mit so auffälligem Stillschweigen, daß es jemand bemerkte und fragte: »Hast du denn von diesem Gerichte nicht auch gegessen?«- »Ach nein,« versetzte leise das kleine Leckermäulchen mit niedergeschlagenen Augen. Ich brauche wohl nichts weiter hinzuzufügen. Man vergleiche nur die List des Mädchens mit der des Knaben.

Alles, was ist, ist gut, und kein allgemeines Gesetz ist schlecht. Die dem Weibe verliehene eigentümliche List ist nur ein völlig billiger Ersatz für seine geringere Stärke. Ohne sie würde die Frau nicht als Gefährtin des Mannes auftreten können, sondern zu seiner Sklavin herabsinken. Durch diese Ueberlegenheit des Talents erhält sie ihre Ebenbürtigkeit aufrecht und beherrscht den Mann, trotzdem sie ihm gehorcht. Die Frau hat alles gegen sich: unsere Fehler ihre Schüchternheit und ihre Schwäche; die Waffen, welche sie für sich ins Feld führen kann, sind allein ihre List und ihre Schönheit. Ist es deshalb nicht billig, daß sie beide ausbildet? Allein die Schönheit ist nicht jeder Frau verliehen, auch leidet sie unter tausend Zufälligkeiten, verwelkt mit den Jahren, und selbst die Gewohnheit verringert ihren Reiz. Im Geist allein liegt die Hauptstärke des schönen Geschlechts, freilich nicht in jenem oberflächlichen Geist, auf den die Welt so großen Wert legt und der zur Begründung eines wahren Lebensglücks doch völlig wertlos ist, sondern in der den Frauen eigentümlichen geistigen Befähigung, sich unseren Geist dienstbar zu machen und somit[354] aus unseren eigenen Vorzügen Vorteil zu ziehen. Man glaubt kaum, wie nützlich diese Kunst uns selbst ist, in wie hohem Grade sie den Reiz des persönlichen Umgangs beider Geschlechter untereinander erhöht, wie ersprießlich sie ist, den Mutwillen der Kinder zurückzuhalten und rauhe Ehemänner zu besänftigen, und wieviel sie zum Gedeihen der Haushaltung beiträgt, welche sonst durch Zwietracht so leicht gestört werden würde. Ränkevolle und böse Weiber machen zwar, wie mir recht wohl bewußt ist, einen schlechten Gebrauch davon, aber womit triebe das Laster nicht Mißbrauch? Man darf die Mittel zur Glückseligkeit nicht zerstören, weil sich einige Böse derselben hin und wieder zu unserem Nachteile bedienen.

Man kann durch Putz glänzen, gefallen kann man aber nur durch seine Person. Der Anzug ist nicht der Mensch selbst; oft entstellt er den, welcher zu großer Sorgfalt auf ihn verwendet, und wer ihn recht bemerkbar machen will, findet oft selbst am wenigsten Beachtung. Die Erziehung der jungen Mädchen befindet sich in diesem Punkt auf einem schlimmen Abweg. Man verspricht ihnen Putz als Belohnung und impft ihnen auf diese Weise Gefallen an einem auffallenden Putz ein. »Wie schön sie ist!« ruft man wohl aus, wenn sie recht aufgeputzt einhergehen. Man sollte den Mädchen im Gegenteil die Ueberzeugung beibringen, daß so viel Putz nur Fehler bedecken solle, und daß die Schönheit ihren Haupttriumph darin suche, nur durch sich selbst zu glänzen. Die Modesucht ist ein Zeichen schlechten Geschmacks. Da sich das Gesicht nicht mit der Mode ändert und die Figur stets dieselbe bleibt, so wird ihr das, was ihr einmal gut stand, auch immer gut stehen.

Ich würde ein junges Mädchen, das zu großen Wert auf seine Kleidung legt, auf folgende Weise von seinem Irrtume zu heilen suchen. Zunächst würde ich mich stellen, als ob ich wegen der so verdeckten Gestalt besorgt wäre und mich über das, was man darüber sagen könnte, beunruhigt[355] fühlte. Dann würde ich sagen: »Alle diese Zierraten putzen leider zu sehr! Glaubst du wohl, daß deine Figur auch einfachere vertragen könnte? Besitzt sie genug Schönheit, um dieses oder jenes entbehren zu können?« Vielleicht wird dann die Kleine die erste sein, welche uns ersucht, ihr irgendeinen Schmuck abzunehmen, und uns dann selbst ein Urteil darüber zu bilden. In diesem Falle müßte man, wenn es möglich wäre, mit dem Lobe nicht zurückhalten. Ich würde ihr stets am meisten Lob spenden, wenn sie am einfachsten gekleidet ginge. Sobald sie den Putz nur als eine Ergänzung der Anmut ihrer Person und gleichsam als ein stillschweigendes Eingeständnis betrachtet, daß sie eines solchen Hilfsmittels bedürfe, um Gefallen zu erregen, so wird sie sicherlich nicht mehr stolz auf ihren Putz sein. Sie wird vielmehr demütig werden, und wenn sie sich ja einmal mehr putzt als gewöhnlich und dann den Ausruf vernimmt: »Wie schön sie ist!« so wird sie vor Verdruß darüber erröten.

Uebrigens finden sich allerdings Figuren, welche einen gewissen Putz nötig haben, aber keine, welche einen überreichen Schmuck erfordern. Ein Putz, welcher imstande ist, zugrunde zu richten, beruht auf einer durch die Rangstufe genährten Eitelkeit, wird aber nicht durch die Eitelkeit der Person hervorgerufen. Er ist einzig und allein auf Vorurteile zurückzuführen. Die wirkliche Gefallsucht hat wohl hin und wieder eine Vorliebe für das Gesuchte, aber nie für das Prunkvolle. Juno kleidete sich weit prachtvoller als Venus. »Da du es nicht vermochtest, Helena in ihrer vollen Schönheit darzustellen, hast du sie mit Reichtümern ausgestattet,« sagte Apelles zu einem schlechten Maler, welcher die Helena auf seinem Gemälde mit Putz überladen hatte.169 Mir ist ebenfalls die Bemerkung nicht entgangen, daß die prächtigsten Kleider gewöhnlich häßliche Frauen vermuten lassen; man kann sich keine weniger angebrachte[356] Eitelkeit denken. Gebt einem jungen Mädchen, das Geschmack besitzt und nichts nach der Mode fragt, Bänder, Flor und Musselin und Blumen, und es wird sich ohne daß es der Zutaten von Diamanten, Zieraten und Spitzen170 bedarf, einen Anzug herstellen, der ihm hundertmal reizender steht als der glänzendste Flitterstaat des ersten Modehändlers.

Da das Gute seinen Wert stets behält und man immer so gut wie möglich sein muß, so treffen auch die Frauen, welche sich auf den Anzug verstehen, stets eine gute Wahl und werden dem Ausgesuchten nicht so leicht untreu. Sie wechseln nicht alle Tage und sind deshalb weniger beschäftigt als diejenigen, deren unausgebildeter Geschmack niemals befriedigt ist. Ein wahrhaft sorgfältig gewählter Anzug braucht den Putztisch wenig zu Rate zu ziehen. Der Putztisch junger Mädchen ist gewöhnlich nicht sehr reich ausgestattet. Arbeit und Unterricht nehmen sie den ganzen Tag über in Anspruch. Trotzdem sind sie gewöhnlich, wenn man von der Schminke absieht, mit ebenso großer Sorgfalt, ja sogar nicht selten mit weit feinerem Geschmacke gekleidet als die Frauen. Ueber die Uebertreibung der Toilettenkünste hegt man oft ganz irrtümliche Anschauungen; sie hat ihre Quelle weit häufiger in der Langweile als in der Eitelkeit. Eine Frau, die sechs Stunden vor ihrem Spiegel zubringt, ist sich recht wohl bewußt, daß sie deshalb durchaus nicht besser gekleidet ist als diejenige, welche auf ihren Anzug nur eine halbe Stunde verwendet. Aber man hat doch glücklich ebensoviel von der tödlich langweilenden Zeit überstanden, und es ist doch immer noch besser, sich die Zeit mit sich selbst zu vertreiben, als sich von allem anderen langweilen zu lassen. Was in aller Welt sollte man nur mit[357] seinem Leben von Mittag bis neun Uhr abends angeben, wenn der Putztisch fehlte? Im Kreise seiner Kammerfrauen kann sich belustigen, sie in Harnisch bringen, und das ist doch immer etwas. Man vermeidet ein vertrauliches Zusammensein mit seinem Gatten, dem nur in diesen Stunden der Zutritt gestattet ist, und das ist noch von ungleich höherem Werte. Und nun erscheinen die Kaufleute, die Kunsthändler, die Anbeter, die Dichterseelen, nun dreht sich das Geplauder um Verse, um Lieder und Flugschriften. Ohne den Putztisch ließe sich das unmöglich so schön miteinander in Einklang bringen. Der einzige wirkliche Gewinn, der dabei abfällt, besteht darin, daß man seinen Körper ein wenig mehr zur Schau stellen kann, als wenn ihn das neidische Gewand verhüllt. Indes ist dieser Gewinn vielleicht doch nicht so groß, als man sich einbildet, und die Frauen stellen sich vor ihrem Putztische nicht ein vorteilhaftes Licht, als sie sich selber vorreden. Erteilt den Frauen ohne Bedenken eine weibliche Erziehung. Tragt Sorge, daß sie an den Geschäften ihres Geschlechtes Gefallen finden, sich durch Sittsamkeit auszeichnen, ihrem Haushalte gut vorstehen und sich häuslich zu beschäftigen wissen. Die übertriebene Toilette wird dann von selbst fortfallen und die Frauen werden gleichwohl stets nach dem besten Geschmack gekleidet sein.

Das erste, was die jungen Mädchen beim Heranwachsen bemerken, ist, daß alle diese erborgten Reize nicht ausreichend sind, wenn sie nicht eigene besitzen. Schönheit kann man sich nie selber geben, und ein einnehmendes Wesen vermag man sich nicht so bald anzueignen. Aber man kann sich wenigstens bemühen, sich ein gefälliges Aeußere zu geben, seiner Stimme einen angenehmen Klang zu verleihen, sich in seiner Haltung zusammennehmen, einen schwebenden Gang zu erhalten, sich an anmutige Stellungen zu gewöhnen und sich überall in seinem vorteilhaftesten Lichte zu zeigen. Die Stimme nimmt an Fülle zu, wird fest[358] und klangvoll; die Arme runden sich, der Gang wird sicher, und man macht die Entdeckung, daß es eine Kunst gibt, wie man auch immer gekleidet sein möge, bemerkbar zu machen. Von dem Augenblick an handelt es sich nicht mehr bloß um Nadel und Kunstfertigkeit; neue Talente kommen zum Vorschein und lassen ihren Nutzen schon in die Augen fallen.

Ich weiß, daß strenge Lehrer die Anforderung stellen, man solle sie jungen Mädchen weder im Singen noch im Tanzen oder in anderen gefälligen Künsten unterrichten. Dies Verlangen kommt mir lächerlich vor. Wen soll, man ihrer Ansicht nach darin unterweisen? Etwa die Knaben? Für wen ist es wohl am passendsten, sich diese Geschicklichkeiten zu erwerben, für die Männer oder für die Frauen? »Für niemanden!« werden sie mir erwidern. »Jeder Gesang eines weltlichen Liedes ist ein Verbrechen. Der Tanz ist eine Erfindung des Teufels. Ein junges Mädchen darf nur an der Arbeit und am Gebet seine Freude finden.« Das sind allerdings merkwürdige Unterhaltungen für ein Kind von zehn Jahren! In mir steigt wenigstens die Befürchtung auf, daß alle diese kleinen Heiligen, welche, dem Zwange nachgebend, ihre Kindheit unter Gebet verleben, ihre reifere Jugend dafür ganz anderen Dingen widmen und sich nach ihrer Verheiratung alle Mühe geben werden, die Zeit, welche sie als Mädchen verloren zu haben glauben, aufs beste wieder einzubringen. Ich huldige der Ansicht, man müsse auf beides Rücksicht nehmen, auf das, was mit dem Alter, sowie auf das, was mit dem Geschlecht in Einklang steht; daß ein junges Mädchen nicht das Leben seiner Großmutter führen darf; daß es lebendig, heiter und mutwillig sein, nach Herzenslust singen und tanzen, und alle unschuldigen Vergnügungen seines Alters genießen soll. Nur zu früh wird die Zeit da sein, wo es ein gesetztes Wesen und eine ernstere Haltung annehmen muß.[359] Beruht denn aber dieser Wechsel auf einer wirklichen Notwendigkeit? Ist er nicht vielleicht auch schon eine bloße Folge unserer Vorurteile? Dadurch, daß man den sittsammen Frauen nur solche ernste und alle Freude verscheuchende Pflichten auferlegte, hat man alles aus der Ehe alles verbannt, was sie den Männern in einem freundlichen Lichte erscheinen lassen konnte. Kann es deshalb befremden, wenn die erkältende Stille, die sie in ihrem Hause herrschen sehen, sie von dannen treibt, oder wenn sie sich wenig versucht fühlen, sich eine so unbefriedigende Häuslichkeit zu schaffen? Dadurch, daß das Christentum alle Pflichten zu hoch spannt, macht es sie selbst unausführbar und nutzlos. Durch Verbot des Gesanges, Tanzes und aller weltlichen Lustbarkeiten hat es den Frauen einen unfreundlichen und zänkischen Charakter eingeimpft, der sie in ihren Häusern unerträglich macht. Es gibt keine Religion, in welcher die Ehe mit so strengen Pflichten verbunden wäre, und keine, in welcher eine so heilige Verbindung in solcher Verachtung stände. Man hat es sich so angelegen sein lassen, den Frauen alle Liebenswürdigkeit zu rauben, daß es endlich gelungen ist, die Ehemänner mit völliger Gleichgültigkeit gegen sie zu erfüllen. »Das sollen sie durchaus nicht,« höre ich versichern. Ich aber behaupte demgegenüber, daß sie es absolut werden müssen, da am Ende die Christen doch auch nur Menschen sind. Ich für meinen Teil stelle die Forderung, daß eine junge Engländerin ihre fesselnden Gaben mit der gleichen Sorgfalt ausbilde, um ihrem künftigen Gatten zu gefallen, wie sie eine junge Albanesin für den Harem zu Ispahan ausbildet. Die Ehemänner, wird man mir entgegenhalten, fragen nichts nach dergleichen Gaben und Eigenschaften. Gegen diese Wahrheit will ich mich nicht verschließen, wenn nämlich diese Talente leider nicht dazu angewendet werden, den Männern zu gefallen, sondern nur als Köder dienen, um junge Lüstlinge anzulocken, die nur darauf ausgehen, sie zu entehren. Allein meint ihr nicht auch, daß eine[360] liebenswürdige und verständige Frau, welche sich solcher Talente zu erfreuen hätte und sie nur Unterhaltung ihres Mannes zur Geltung brächte, zum Glücke seines Lebens beitragen und ihn abhalten würde, seine Erholung auswärts zu suchen, wenn er nach anstrengender Kopfarbeit sein Zimmer verläßt? Sind euch denn keine Familien bekannt, in denen alle Glieder in so glücklichem Vereine nebeneinander leben und sich jedes bestrebt, seinen Anteil an der gemeinschaftlichen Unterhaltung zu tragen? Wer will wohl auftreten und behaupten, daß in dem Vertrauen und in der mit demselben verbundenen Vertraulichkeit, in der Unschuld und in der Süßigkeit der Freuden, die sie uns gewähren, kein voller Ersatz für das geräuschvolle Treiben der öffentlichen Vergnügungen liegt?

Man hat die gefälligen Talente in zu hohem Grade in Künste verwandelt, hat sie zu sehr zum Gemeingute zu machen gesucht, sie in Grundsätze und Regeln gekleidet und dadurch den jungen Mädchen das, was für sie nur Unterhaltung und heiteres Spiel sein soll, äußerst langweilig gemacht. Ich kann mir keinen lächerlicheren Anblick vorstellen als den eines Tanzmeisters oder Gesanglehrers, wenn er jungen Mädchen, die so schon alles lächerlich finden, mit sauertöpfischer Miene entgegentritt und nun beim Unterricht in seiner nichtigen Kunst einen so pedantischen und schulmeisterlichen Ton anschlägt, als handelte es sich um eine Katechismuslehre. Ist zum Beispiel die Gesangskunst etwa von der geschriebenen Musik abhängig? Sollte man nicht im imstande sein, die Stimme biegsam und klangvoll zu machen, geschmackvoll einen Gesang vortragen, ja selbst begleiten zu lernen, ohne auch nur eine einzige Note zu kennen? Eignet sich die gleiche Sangesweise für jede Stimme und die nämliche Methode für jede Auffassung? Man wird mich nie zu der Ueberzeugung bringen, daß dieselben Stellungen, dieselben Schritte, dieselben Bewegungen, dieselben Gebärden, dieselben Tänze sich bei einer kleinen lebhaften und[361] anziehenden Brünette und einer schlanken schönen Blondine mit schmachtenden Augen gleich anmutig ausnehmen. Gewahre ich einen Lehrer, der alle beide trotzdem genau in derselben Weise unterrichtet, so werde ich deshalb sagen: Dieser Mensch betreibt sein Geschäft mechanisch und handwerksmäßig, von einer Kunst ist jedoch bei ihm nicht die Rede.

Man hat die Frage aufgestellt, ob die Erziehung der Mädchen von Lehrern oder Lehrerinnen geleitet werden müsse. Ich weiß es nicht. Mein Wunsch wäre, daß sie mit den einen wie mit den anderen verschont blieben, daß sie zwanglos das lernten, wozu ihre Neigung sie hintriebe, und daß man in unseren Städten nicht unablässig so viele theatralisch aufgeputzte Ballettänzer umherhüpfen sähe. Ich halte mich überzeugt, daß den jungen Mädchen der Verkehr mit solchen Leuten ebenso schädlich wie ihr Unterricht unnütz ist, und daß sich ihre Schülerinnen gerade zuerst durch die Ausdrucksweise, den Ton und das Benehmen derselben verleiten lassen, Geschmack an diesen Armseligkeiten zu finden, auf welche jene einen so hohen Wert legen, und welche sie nach dem Beispiele dieser ihrer Vorbilder nicht zögern werden, von nun an zu ihrer ausschließlichen Beschäftigung zu machen.

In den Künsten, welche nur das gesellige Vergnügen bezwecken, kann alles bei den jungen Mädchen Lehrerstelle vertreten: Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Freundinnen, Gouvernanten, der Spiegel, vor allem aber der eigene Geschmack. Man darf sich freilich nicht selbst anbieten, ihnen Unterricht zu erteilen, man muß es ihnen überlassen, darum, zu bitten. Man darf aus dem, was als eine Belohnung gelten soll, nicht eine regelmäßige Aufgabe machen. Bei diesem eigentümlichen Unterrichte liegt der erste Erfolg schon darin, daß man auf Erfolg ausgeht. Wenn übrigens schlechterdings ein regelrechter Unterricht stattfinden soll, so will ich über das Geschlecht derer, denen er anzuvertrauen[362] ist, durchaus keine bestimmte Entscheidung treffen. Ich weiß nicht, ob es die Notwendigkeit dringend erfordert, daß gerade ein Tanzlehrer eine junge Schülerin an der zarten weißen Hand faßt, ihr befiehlt, den Rock zierlich aufzunehmen, die Augen aufzuschlagen und Gefühle in ihr erregt, daß ihr wallender Busen höher wogt. So viel aber weiß ich, daß ich um alles in der Welt nicht jener Tanzlehrer sein möchte.

Durch Fleiß und Fähigkeiten bildet sich der Geschmack; durch den Geschmack öffnet sich der Geist nach und nach den Ideen des Schönen auf jedem Gebiet und zuletzt auch noch den sittlichen Begriffen, welche mit ihnen im Zusammenhange stehen. Hierin hat man vielleicht einen der Gründe zu erkennen, weshalb bei den Mädchen das Gefühl für Schicklichkeit und Sittsamkeit eher erwacht als bei den Knaben; denn wollte man sich etwa dem Wahne hingeben, daß das frühzeitige Erwachen dieses Gefühles das Werk der Erzieherinnen wäre, so verriete man dadurch doch eine gar zu geringe Kenntnis von dem Wesen ihres Unterrichtes und von dem Entwicklungsgange des menschlichen Geistes. Die Gabe zu reden behauptet in der Kunst zu gefallen den ersten Rang. Durch sie allein lassen sich zu den Reizen, an welche sich die Sinne schon gewöhnt haben, neue gesellen und sie noch erhöhen. Dem Geiste verdanken wir nicht allein die Belebung, sondern gewissermaßen auch die Erneuerung des Körpers. Durch die sich rastlos aneinander reihende Kette von Gefühlen und Ideen bringt er Leben und Abwechslung in die Züge; und durch die Rede, zu welcher er die Gedanken eingibt, fesselt er unausgesetzt die Aufmerksamkeit und erhält lange Zeit das gleiche Interesse für den nämlichen Gegenstand wach. Aus all diesen Gründen eignen sich meiner Ansicht nach junge Mädchen so schnell das anmutige Geplauder an, betonen ahnungsvoll ihre Worte, bevor sie selbst ihre ganze Tragweite verstehen, und hören Männer ihnen so gern zu, und zwar schon zu einer[363] Zeit, in welcher die Mädchen noch nicht die Gründe verstehen. Die Männer warten auf den ersten Moment, wo jenen dieses Verständnis aufgeht, um so den ersten Moment benutzen zu können, wo ihr Gefühl erwacht.

Die Frauen haben eine gewandte Zunge; sie sprechen zeitiger, leichter und angenehmer als die Männer. Man macht ihnen auch den Vorwurf, mehr zu sprechen. Das soll indes so sein, und ich möchte ihnen diesen Vorwurf gern als ein Lob anrechnen. Mund und Augen sind bei ihnen stets gleichzeitig in Tätigkeit, und zwar aus demselben Grunde. Während der Mann das sagt, was er weiß, spricht die Frau das, was gefällt. Ersterer bedarf zum Reden Kenntnisse letztere Geschmack. Bei dem Manne soll das Nützliche, bei der Frau das Angenehme den Lieblingsgegenstand bilden. Das einzige Gemeinsame in ihren Reden muß in der Wahrheit bestehen.

Deshalb darf man das Geplauder der Mädchen nicht wie das der Knaben durch die schroffe Frage »wozu nützt das?« in Schranken halten. Bei ihnen muß man eine andere stellen, deren Beantwortung freilich auch nicht leichter fällt, nämlich die Frage: »Welchen Eindruck wird das hervorbringen?« In dem zarten Alter, in welchen sie sich, da sie Gutes und Böses noch nicht zu unterscheiden vermögen, über niemanden zum Richter aufwerfen dürfen, muß es ihnen als heiliges Gesetz gelten, denen mit welchen sie reden, nur Angenehmes zu sagen. Der Umstand jedoch, daß diese Regel stets der Hauptregel, nie eine Unwahrheit zu sagen, untergeordnet bleibt, macht ihre Ausübung schwerer, als man denken sollte.

Ich erblicke zwar noch viele andere Schwierigkeiten, aber sie machen sich erst in einem vorgerückten Alter geltend. In dem Alter, in welchem die jungen Mädchen jetzt noch stehen, werden sie immer wahr sein, wenn sie sich von Unhöflichkeit freizuhalten wissen; und da ihnen dieselbe von Natur widerwärtig ist, so lernen sie durch die Erziehung[364] leicht sie vermeiden. Bei der Beobachtung des Verkehrs in der Welt habe ich im allgemeinen die Wahrnehmung gemacht, daß die Höflichkeit der Männer mehr dienstfertiger, die der Frauen mehr einschmeichelnder Natur ist. Dieser Unterschied ist keine Folge der Erziehung, sondern liegt in der Natur begründet. Der Mann scheint mehr darauf auszugehen, euch zu dienen, die Frau, euch zu gefallen. Daraus ergibt sich, daß, wie der Charakter der Frauen auch im übrigen beschaffen sein möge, ihre Höflichkeit weniger auf Falschheit beruht als die unsrige, da sie dabei nur ihrem ursprünglichen Instinkte Folge leisten. Wenn sich jedoch ein Mann den Anschein gibt, als ob er meinem Interesse den Vorzug vor dem seinigen einräume, so weiß ich mit Bestimmtheit, daß er sich einer Lüge schuldig macht, möge er sie auch verhüllen wie er wolle. Es wird den Frauen deshalb nicht sehr sauer, höflich zu sein, und folglich auch den Mädchen nicht, es zu werden. Die erste Lehrmeisterin ist die Natur, die Aufgabe der Kunst besteht nur darin, ihrer Methode zu folgen, und im Anschluß an unsere Sitten zu entscheiden, in welcher Form sie sich zeigen soll. Was nun freilich die Höflichkeit anlangt, die sie im gegenseitigen Verkehr untereinander beobachten, so verhält es sich damit völlig anders. Sie nehmen unter sich ein so gezwungenes Wesen und eine so kalte Höflichkeit an, daß sie sich große Mühe geben, zu verbergen, welchen Zwang sie sich antun müssen, um sich auch nur mit der allergewöhnlichsten Höflichkeit entgegenzutreten. Ihre Lüge erhält einen Anstrich von Offenherzigkeit, da sie dieselbe gar nicht zu verdecken suchen. Trotzdem entstehen unter jungen Mädchen hin und wieder im vollen Ernste die aufrichtigsten Freundschaften. In ihrem Alter ersetzt noch der Frohsinn das gute Herz. Zufrieden mit sich selbst, find sie mit aller Welt zufrieden. Auch kann es als eine ausgemachte Tatsache gelten, daß sie sich vor den Augen der Männer herzlicher küssen und anmutiger liebkosen, als wenn sie unter sich[365] allein sind, da es sie mit einem gewissen Stolzgefühl erfüllt, die Lüsternheit jener durch den Austausch von Liebkosungen, um welche sie sich beneidet wissen, ungestraft reizen zu können.

Darf man schon Knaben nicht gestatten, vorwitzige Fragen zu stellen, so hat man noch weit triftigere Gründe dazu, sie jungen Mädchen zu untersagen, deren befriedigte oder in falscher Weise getäuschte Neugier sehr wohl imstande ist, eine ganz andere Folge nach sich zu ziehen, da ihr Scharfsinn die Geheimnisse ahnt, welche man ihnen verhehlt, und ihre listige Feinheit sie auch wirklich entdeckt. Ohne ihre Fragen zu dulden, wünschte ich indes, daß man ihnen selbst allerlei Fragen vorlegte, daß man es ihnen am Stoff zum Plaudern nicht fehlen ließe, daß man sie dazu aufmunterte, um sie in einer gewandten Ausdrucksweise zu üben, sie schlagfertig zu machen, ihnen eine gewisse geistige Freiheit zu verleihen und ihre Zunge zu lösen, solange es noch auf ungefährliche Weise geschehen kann. Solche Gespräche, die immer einen heiteren Charakter an sich tragen, aber nur mit aller Vorsicht herbeigeführt und geschickt geleitet werden müßten, würden diesem Alter eine angenehme Unterhaltung gewähren und könnten in den unschuldigen Herzen der jungen Mädchen die ersten und vielleicht nützlichsten Lehren der Moral, die ihnen überhaupt das Leben geben kann, Wurzel schlagen lassen. Dies würde stets der Fall sein, wenn man sie unter dem Genusse eines Vergnügens und der Befriedigung ihrer Eitelkeit auf die Eigenschaften aufmerksam machte, welchen die Männer in Wahrheit ihre Achtung schenken, und ihnen zeigte, worin die Ehre und das Glück einer sittsamen Frau besteht.

Man wird es begreiflich finden, daß, wenn schon die Knaben außerstande sind, sich einen richtigen Begriff von der Religion zu bilden, sich dieser Begriff in noch weit höherem Maße der Fassungskraft der Mädchen entziehen muß. Aber gerade aus diesem Grunde wünschte ich mit ihnen schon früher von der Religion zu reden. Wollte man[366] etwa warten, bis diese tiefen Fragen methodisch zu behandeln vermöchten, so liefe man Gefahr, nie dahin zu gelangen. Die Vernunft der Frauen ist eine praktische Vernunft, welche sie zwar die Mittel, welche zur Erreichung eines bekannten Zieles gehören, sehr geschickt finden läßt, nie aber das Ziel selbst. Die geschichtliche Stellung beider Geschlechter zueinander ist bewundernswert. Aus diesem geselligen Verkehr entwickelt sich ein moralisches Wesen, dessen Auge die Frau, dessen Arm aber der Mann bildet. Beide stehen indes in einem so abhängigen Verhältnis zueinander, daß die Frau erst von dem Manne lernen muß, was sie sehen, und der Mann umgekehrt von der Frau, was er tun soll. Vermöchte die Frau ebensogut wie der Mann bis zu den Prinzipien zurückzugehen, und wäre der Geist des Mannes ebenso befähigt wie der der Frau, das einzelne in sich aufzunehmen, so würden sie, da sie sich voneinander völlig unabhängig fühlen müßten, in einem ewigen Zwiespalte leben, und ein geselliger Verkehr könnte zwischen ihnen überhaupt nicht bestehen. Aber in der Harmonie, welche nun zwischen ihnen herrscht, hat jedes von ihnen das gemeinschaftliche Ziel im Auge; man weiß nicht, wer von ihnen am meisten dazu beiträgt; jedes folgt dem Impulse des anderen, jedes gehorcht, und alle beide sind Herren.

Schon deshalb, weil das Betragen der Frau der öffentlichen Meinung unterworfen ist, muß sich auch ihr Glaube der Autorität unterwerfen. Jede Tochter muß sich zu der Religion ihrer Mutter, jede Frau zu der ihres Mannes bekennen. Sollte sich diese Religion als eine falsche herausstellen, so wird die Folgsamkeit, mit welcher sich Mutter wie Tochter der Ordnung der Natur unterwerfen, vor Gott sicherlich die Sünde des Irrtums sühnen. Außerstande, sich hierüber selber ein richtiges Urteil zu bilden, müssen sie die Entscheidung der Väter und Ehemänner annehmen, als ginge sie von der Kirche selbst aus.[367]

Da die Frauen unvermögend sind, ihre Glaubensregeln aus sich selbst zu schaffen, so ist es ihnen auch unmöglich, sie innerhalb der Grenzen des Gewissen und Vernünftigen zu halten. Tausenderlei fremdartigen Antrieben gehorchend, erreichen sie entweder das Wahre nicht, oder gehen weit über dasselbe hinaus. Sich immer in Extremen bewegend, sind sie entweder Freidenkerinnen oder Betschwestern, nie findet man, daß sich Klugheit und Frömmigkeit in ihnen paaren. Die Quelle dieses Uebels hat man nicht allein in dem überspannten Charakter ihres Geschlechtes zu suchen sondern ebensosehr in der schlecht geregelten Autorität des unsrigen. Die Lockerheit der Sitten muß unsere Autorität verächtlich, die von der Reue in uns gewirkte Angst sie tyrannisch machen. Darin liegt es, daß wir stets zu viel oder zu wenig tun.

Da sich die Religion der Frauen also auf die Autorität stützen muß, so handelt es sich sowohl darum, ihnen die Gründe für das, was man zu glauben hat, zu entwickeln, als vielmehr darum, ihnen den Inhalt des Glaubens klar und deutlich auseinanderzusetzen. Klarheit ist und bleibt die Hauptsache, denn der Glaube an dunkle Vorstellungen ist die erste Quelle des Fanatismus, während der Glaube, den man auf völlig Absurdes lenkt, zum Wahnsinn oder zum Unglauben treibt. Ich weiß nicht, ob unsere Katechismen mehr zur Gottlosigkeit oder zum Fanatismus beitragen, so viel weiß ich aber mit Gewißheit, daß sie notwendigerweise zur einen oder zum anderen führen müssen.

Wollt ihr junge Mädchen in der Religion unterrichten, so laßt es euch zur ersten Regel dienen, sie ihnen nie in einem trübseligen Licht erscheinen zu lassen oder ihnen einen Zwang aufzuerlegen; ebenso macht nie aus ihr eine Aufgabe oder eine Pflicht. Laßt sie aus diesem Grunde nie etwas auswendig lernen, was das religiöse Gebiet berührt, nicht einmal Gebete. Vergnügt euch damit, euer Gebet[368] regelmäßig in ihrer Gegenwart zu sprechen, ohne sie jedoch zur Teilnahme zu zwingen. Wählt kurze Gebete, wie Jesus selbst verlangt. Verrichtet sie mit der gebührenden Andacht und Ehrfurcht; bedenket, daß, wenn wir vom höchsten Wesen verlangen, es solle uns aufmerksam anhören, dasselbe mit ungleich höherem Rechte von uns verlangen kann, wir sollen dem, was wir ihm sagen, unsere volle Aufmerksamkeit zuwenden.

Es ist von geringerer Wichtigkeit, daß junge Mädchen ihre Religion früh kennen lernen, als daß sie dieselbe richtig und gründlich kennen lernen, und daß sie sie vor allem lieben. Wird sie ihnen durch eure Schuld zur Last, malt ihr ihnen Gott stets als ein über sie zorniges Wesen aus, legt ihr ihnen in seinem Namen tausenderlei beschwerliche Verpflichtungen auf, in deren Erfüllung sie euch selbst lässig sehen: welch anderer Gedanke kann dann in ihrer Seele aufsteigen, als daß Katechismuslernen und Gebetsprechen nur Pflichten junger Mädchen seien? welch anderen Wunsch können sie dann hegen, als erst erwachsen zu sein, um sich wie ihr dieses Zwanges überhoben zu sehen? Geht ihnen mit gutem Beispiel voran! Ohne das eigene Beispiel vermag man bei den Kindern nichts auszurichten.

Bei der Erklärung der Glaubensartikel bedient euch der Form des direkten Unterrichtes, laßt euch auf Fragen und Antworten nicht ein. In ihren Antworten sollen sie ja stets nur das sagen, was sie denken, und nicht, was man ihnen eingegeben hat. Alle Antworten des Katechismus widersprechen der gesunden Vernunft, denn in ihnen ist es der Schüler, welcher den Lehrer unterrichtet. Ja, im Munde der Kinder sind es geradezu Lügen, da sie erklären, was ihnen durchaus unverständlich ist, und versichern, was sie zu glauben außerstande sind. Man suche mir unter den intelligentesten Männern diejenigen aus, welche sich beim Hersagen ihres Katechismus keine Lüge schuldig machen.[369]

Die erste Frage in unserem Katechismus lautet: »Wer hat dich geschaffen und auf die Welt gesetzt?« Darauf antwortet nun das kleine Mädchen ohne zu stocken »Gott«, obgleich es völlig überzeugt ist, daß es seine Mutter gewesen. Das einzige, was der Kleinen hierbei deutlich wird, ist, daß sie auf eine Frage, für welche ihr alles Verständnis abgeht, eine Antwort erteilt, welche sie erst recht nicht versteht.

Ich wünschte, daß ein mit dem Entwicklungsgange des kindlichen Geistes vertrauter Mann es übernähme, einen für Kindern geeigneten Katechismus zu schreiben. Es würde vielleicht das nützlichste Buch sein, das je aus der Feder eines Schriftstellers hervorgegangen ist, und dies würde meines Erachtens nicht eben die geringste Ehre sein, die es seinem Verfasser brächte. Mit Sicherheit läßt sich aber voraussagen, daß dieses Buch, wenn es gut wäre, unseren Katechismen nicht in vielen Punkten gleichen würde.

Ein solcher Katechismus könnte nur dann Anspruch auf Brauchbarkeit machen, wenn das Kind auf die einzelnen Fragen selbständige, nicht auswendig gelernte Antworten geben müßte, und wohl verstanden, wenn ihm hin und wieder selbst Gelegenheit gegeben würde, seinerseits einige Fragen zu stellen. Um meine Meinung verständlich zu machen, bedürfte es einer Art Musterkatechese. Obgleich ich mir sehr wohl bewußt bin, was mir fehlt, um einer solchen Arbeit gewachsen zu sein, so will ich doch wenigstens den Versuch machen, eine annähernde Idee davon zu geben.

Ich stelle mir also vor, daß der Verfasser, um zur ersten Frage unseres Katechismus zu kommen, ungefähr folgendermaßen beginnen müßte:

Erzieherin. Erinnerst du dich noch der Zeit, als deine Mutter ein Mädchen war?

Die Kleine. Nein, meine Liebe.

Erzieherin. Wie kommt das, da du doch sonst ein so gutes Gedächtnis hast?

[370] Die Kleine. Ich lebte ja damals noch gar nicht.

Erzieherin. Du hast also nicht immer gelebt?

Die Kleine. Nein.

Erzieherin. Wirst du immer leben?

Die Kleine. Ja.

Erzieherin. Bist du jung oder alt?

Die Kleine. Ich bin jung.

Erzieherin. Ist deine Großmutter jung oder alt?

Die Kleine. Sie ist alt.

Erzieherin. Ist sie jung gewesen?

Die Kleine. Ja.

Erzieherin. Weshalb ist sie es jetzt nicht mehr?

Die Kleine. Weil sie alt geworden ist.

Erzieherin. Wirst du ebenfalls alt werden?

Die Kleine. Ich weiß nicht.171

Erzieherin. Wo sind deine vorjährigen Kleider?

Die Kleine. Man hat sie zertrennt?

Erzieherin. Und weshalb hat man sie zertrennt?

Die Kleine. Weil sie mir zu klein geworden waren.

Erzieherin. Und weshalb waren sie dir zu klein geworden?

Die Kleine. Weil ich gewachsen bin.

Erzieherin. Wirst du noch größer werden?

Die Kleine. O gewiß!

Erzieherin. Und was werden die großen Mädchen?

Die Kleine. Sie werden Frauen?

Erzieherin. Und was werden die Frauen?

Die Kleine. Sie werden Mütter.

Erzieherin. Und die Mütter was werden sie?

Die Kleine. Sie werden alt.

Erzieherin. Wirst du denn auch alt werden?

Die Kleine. Wenn ich eine Mutter bin.

[371] Erzieherin. Und was werden die alten Leute?

Die Kleine. Ich weiß nicht.

Erzieherin. Was ist aus dem Großpapa geworden?

Die Kleine. Er ist gestorben.172

Erzieherin. Und weshalb ist er gestorben?

Die Kleine. Weil er alt war.

Erzieherin. Was wird also aus den alten Leuten?

Die Kleine. Sie sterben.

Erzieherin. Wenn du nun also alt wirst, was...

Die Kleine(sie unterbrechend). O meine Liebe, ich will nicht sterben.

Erzieherin. Liebes Kind, niemand will sterben und doch muß jeder sterben.

Die Kleine. Wie? Wird denn meine Mama auch sterben?

Erzieherin. Wie alle Menschen. Die Frauen altern ebensogut wie die Männer, und das Alter führt zum Tode.

Die Kleine. Was muß man tun um erst recht spät alt zu werden?

Erzieherin. In seiner Jugend vernünftig leben.

Die Kleine. Dann werde ich beständig vernünftig leben.

Erzieherin. Um so besser für dich. Glaubst du dann aber wirklich ewig leben zu können?

Die Kleine. Wenn ich recht, recht alt werde...

Erzieherin. Nun, dann?

Die Kleine. Ach, wenn man so alt ist, muß man, wie Sie sagen, sterben.

[372] Erzieherin. So wirst du also auch einmal sterben?

Die Kleine. Leider! Ja.

Erzieherin. Wer lebte aber vor dir?

Die Kleine. Mein Vater und meine Mutter.

Erzieherin. Und wer lebte wieder vor ihnen?

Die Kleine. Ihr Vater und ihre Mutter.

Erzieherin. Wer wird nach dir leben?

Die Kleine. Meine Kinder.

Erzieherin. Und wer wird wieder nach diesen leben?

Die Kleine. Ihre Kinder.

usw. usw.


Wenn man diesen Weg innehält, so findet man durch überzeugende Schlüsse, wie bei allen Dingen so auch bei dem menschlichen Geschlechte, einen Anfang und ein Ende, das heißt einen Vater und eine Mutter, welche weder Vater noch Mutter gehabt haben, und Kinder, welche keine Kinder haben werden.173 Erst nach einer langen Reihe ähnlicher Fragen ist die erste Frage des Katechismus hinreichend vorbereitet; nun erst kann man sie stellen und das Kind sie verstehen. Welch ein ungeheuer Sprung ist nun aber von da ab bis zur zweiten Frage, welche gleichsam eine Definition des göttlichen Wesens gibt! Wann wird diese Kluft ausgefüllt werden? Gott ist ein Geist! Was ist denn nun ein Geist? Soll ich den kindlichen Geist sich etwa in das dunkle Gebiet der Metaphysik hinauswagen lassen, aus dem sich selbst die Männer nur mit äußerster Mühe wieder herausfinden vermögen? Es ist nicht die Aufgabe eines kleinen Mädchens, diese Fragen zu lösen, ihr kommt es höchstens zu, sie zu stellen. In diesem Falle würde ich der Kleinen ganz einfach erwidern: »Du fragst mich, was Gott ist? Das ist nicht leicht zu erklären. Man kann ihn nicht hören, nicht sehen und nicht fühlen; nur an seinen Werken[373] kann man ihn erkennen. Um dir eine richtige Vorstellung von dem machen zu können, was er ist, mußt du zuvor lernen, was er getan hat.«

Können unsere Glaubenssätze auch alle auf die gleiche Wahrheit Anspruch machen, so sind sie deshalb noch nicht von gleicher Wichtigkeit. Für die Ehre Gottes ist es höchst gleichgültig, ob wir sie an allen Dingen zu erkennen fähig sind. Dagegen ist es für die menschliche Gesellschaft sowie für jedes ihrer Glieder wichtig, daß jeder Mensch die Pflichten, deren Beobachtung ihm das Gesetz Gottes gegen seinen Nächsten und sich selbst auferlegt, kenne und erfülle. Das ist es, was wir einander unaufhörlich vorbehalten müssen; das ist es vor allem auch, worüber Väter und Mütter ihre Kinder zu belehren verpflichtet sind. Ob eine Jungfrau die Mutter ihres Geschöpfes ist, ob sie Gott oder nur einen Menschen geboren hat, mit welchem Gott sich erst vereinigt, ob Vater und Sohn gleichen oder nur ähnlichen Wesens sind, ob der Heilige Geist von einem dieser beiden, die einander gleich sind, oder von beiden gemeinschaftlich ausgeht: das sind Fragen, die dem Anscheine nach allerdings wesentlich sind, deren Entscheidung aber meiner Ansicht nach für das menschliche Geschlecht nicht wichtiger ist, als zu wissen, an welchem Datum man Ostern feiern muß, ob man den Rosenkranz beten, fasten, sich des Fleisches enthalten, im Gotteshause sich der lateinischen oder der Muttersprache bedienen, ob man Heilige verehren, die Messe lesen oder hören soll, und ob man als Geistlicher heiraten darf. Möge ein jeder darüber denken wie ihm beliebt; ich begreife nicht, wie dies andere interessieren kann; ich für meinen Teil habe nicht das geringste Interesse daran. Was aber für mich wie für alle meine Mitmenschen von höchster Wichtigkeit sein muß, ist, daß jedermann wisse, es gibt einen Lenker der menschlichen Geschicke, dessen Kinder wir allesamt sind, welcher uns allen befiehlt, gerecht zu sein, uns untereinander zu lieben, wohltätig und barmherzig zu sein, unseren Verpflichtungen[374] gegen jedermann, selbst gegen unsere und seine Feinde nachzukommen; daß das scheinbare Glück dieses Lebens nichtig ist; daß es nach diesem irdischen Leben ein anderes gibt, in welchem das höchste Wesen die Guten belohnen und die Bösen bestrafen wird. Es hängt viel davon ab, daß die Jugend in diesen und ähnlichen Dogmen unterrichtet und alle Bürger von ihrer Wahrheit überzeugt werden. Wer sie bekämpft, verdient unzweifelhaft Strafe; er ist unstreitig ein Störer der Ordnung und ein Feind der Gesellschaft. Wer über sie hinausgeht und uns seinen eigenen Anschauungen unterwerfen will, gelangt, wenn auch auf entgegengesetztem Wege, schließlich doch zu dem nämlich Resultat. Um eine Ordnung, wie sie ihm zusagt, einzuführen, stört er die Ordnung. In seinen vermessenen Stolze wirft er sich zum Dolmetscher der Gottheit auf, verlangt im eigenen Namen die Huldigungen und Ehrfurchtsbezeigungen der Menschen und macht sich, soweit es ihm in seiner Stellung möglich ist, selbst zum Gott. Man müßte ihn als Gotteslästerer bestrafen, wenn man ihn nicht schon um seiner Unduldsamkeit willen strafen wollte.

Uebergeht deshalb alle solche geheimnisvollen Glaubenssätze, die für uns nur Worte ohne klare Begriffe sind, alle diese seltsamen Lehren, deren nichtiges Studium bei denen, welche sich ihnen überlassen, die Tugend ersetzt und eher dazu dient, sie zu Narren zu machen als zu guten Menschen. Haltet eure Kinder immer innerhalb des engen Kreises derjenigen Glaubenssätze, welche es mit der Moral zu tun haben. Bringt ihnen die feste Ueberzeugung bei, daß uns kein anderes Wissen Nutzen bringt als das, was uns lehrt, rechtschaffen zu handeln. Hütet euch davor, aus euren Töchtern Theologen und Philosophen zu machen. Wählet zu ihrem Unterricht aus dem Gebiete der himmlischen Dinge nur diejenigen, welche der menschlichen Weisheit von Nutzen sind. Gewöhnt sie daran, sich beständig unter den Augen Gottes zu wissen, in ihm den Zeugen ihrer Handlungen,[375] ihrer Gedanken, ihrer Tugend und ihrer Vergnügungen zu sehen; das Gute ohne Aufsehen, nur weil er es liebt, zu tun; Leiden ohne Murren zu tragen, weil er uns dafür entschädigen wird; kurz, alle Tage ihres Lebens das zu sein, was sie an dem Tage, wo sie vor seinem Richterstuhl erscheinen müssen, wünschen werden, gewesen zu sein. Das ist die wahre Religion, das ist die einzige, in deren Schoße weder Mißbräuche noch Gottlosigkeit noch Fanatismus aufwachsen können. Möge man erhabenere predigen soviel man wolle, ich werde mich trotzdem zu keiner anderen bekennen.

Uebrigens möchte ich noch besonders darauf aufmerksam machen, daß bis zu dem Alter, in welchem die Vernunft an Klarheit gewonnen hat und das erwachende Gefühl dem Gewissen Sprache verleiht, den jungen Leuten das als gut oder böse gelten muß, was ihre Umgebung dafür anerkennt. Was man ihnen befiehlt, ist gut, was man ihnen verbietet, ist schlecht. Mehr brauchen sie darüber gar nicht zu erfahren. Hieraus ist zugleich ersichtlich, wie für die Mädchen die richtige Wahl der Personen, welche sie umgeben und eine gewisse Autorität über sie ausüben sollen, noch von ungleich größerer Wichtigkeit ist als für die Knaben. Endlich erscheint der Augenblick, wo sie sich selber über die Dinge ein Urteil zu bilden beginnen, und nun ist es an der Zeit, in dem Plan ihrer Erziehung einen Wechsel eintreten zu lassen.

Vielleicht habe ich darüber bis jetzt schon zuviel gefragt. Wohin würden wir die Frauen wohl bringen, wenn wir ihnen nur die allgemeinen Vorurteile als Gesetz vorhielten! Bis zu dem Grade wollen wir aber das Geschlecht, welches uns regiert und uns zur Ehre gereicht, sobald wir es nicht selbst erniedrigt haben, doch nicht herabsetzen. Es besteht für das ganze menschliche Geschlecht ein Gesetz, welches eher dagewesen ist als eine allgemeine Meinung. Auf die unwandelbare Leitung dieses Gesetzes müssen sich alle übrigen beziehen. Es wirft sich sogar zum Richter des Vorurteils[376] auf, und nur insoweit die Achtung der Menschen mit demselben im Einklang ist, darf diese Achtung uns als Autorität gelten.

Dieses Gesetz ist das innere Gefühl. Ich will das bereits früher darüber Gesagte hier nicht noch einmal wiederholen. Ich beschränke mich auf die Bemerkung, daß, wenn bei der weiblichen Erziehung diese beiden Gesetze miteinander nicht Hand in Hand gehen, diese stets mangelhaft ausfallen wird. Das Gefühl ohne die Meinung kann den Frauen nicht jene Zartheit der Seele geben, welche den guten Sitten die Ehre der Welt einbringt, während wiederum die Meinung ohne das Gefühl die Frauen falsch und unsittlich machen wird und den Schein an die Stelle der Tugend setzt.

Es ist deshalb von wesentlicher Bedeutung für sie, ein Seelenvermögen auszubilden, welches als Schiedsrichter zwischen diesen beiden Führern dient, das Gewissen vor Täuschungen bewahrt und die Irrtümer des Vorurteils berichtigt. Dieses Seelenvermögen ist die Vernunft. Allein welche Fragen erheben sich bei diesem Worte! Sind die Frauen richtiger Vernunftschlüsse fähig? Ist es wichtig daß sie die Urteilskraft ausbilden? Können sie dieselbe mit Erfolg ausbilden? Ist diese Ausbildung für die besonderen Aufgaben, welche ihnen gestellt sind, von Nutzen? Läßt sie sich überhaupt mit der Einfalt, welche ihnen ziemt, vereinbaren?

Je nach dem verschiedenen Standpunkt, von welchem aus man diese Fragen betrachtet und zu lösen sucht, gelangt man zu einem ganz entgegengesetzten Resultat. Die einen beschränken sich darauf, die Frauen im engen Kreise ihrer Häuslichkeit in Gemeinschaft ihrer Mägde nähen und spinnen zu lassen, und verwandeln sie dadurch selbst nur zur ersten Magd ihres Gebieters. Nicht zufrieden damit, ihnen ihre eigenen Rechte zu sichern, wollen die anderen dagegen, daß sie uns noch obendrein unsere Rechte streitig machen sollen. Denn wenn man sie in den ihrem Geschlecht[377] eigentümlichen Eigenschaften über uns stellt und in allem übrigen uns ebenbürtig macht, was heißt das wohl anders, als daß man den Vorrang, welchen die Natur dem Manne verleiht, auf das Weib überträgt?

Zu der Vernunft, welche den Mann zur Erkenntnis seiner Pflichten leitet, gehören nicht viele Stücke. Die Vernunft, jedoch welche die Frau zur Erkenntnis der ihrigen führt, ist noch viel einfacher. Die Gehorsam und die Treue, welche sie ihrem Gatten, die Zärtlichkeit und die Pflege, die sie ihren Kindern schuldet, sind so natürliche und so augenscheinliche Folgen ihrer Stellung, daß sie dem inneren Gefühle, welches sie leitet, ohne unaufrichtig zu sein, ihre Zustimmung unmöglich versagen noch ihre Pflicht verkennen kann, solange ihre Neigung unverdorben ist.

Ich möchte es nicht unterschiedslos tadeln, daß eine Frau lediglich auf die Arbeiten ihres Geschlechts beschränkt würde und daß man sie in allem übrigen in tiefster Unwissenheit ließe, aber dann müßten sich freilich die öffentlichen Sitten durch große Einfachheit und Reinheit auszeichnen, oder man müßte in größter Zurückgezogenheit leben. Innerhalb großer Städte oder im Umgang mit verdorbenen Männern würde eine solche Frau nur zu leicht zu verführen sein. Häufig genug würde ihre Tugend nur eine Sache des Zufalls sein. In diesem philosophischen Jahrhundert hat sie indes eine Tugend nötig, welche die Probe zu bestehen weiß. Sie muß im voraus wissen, was man ihr wohl sagen kann, und was sie davon zu denken hat.

Da sie sich außerdem vor dem Urteil der Männer zu beugen hat, so muß sie sich deren Achtung verdienen, vor allem sich aber die ihres Gatten bewahren. Sie muß nicht allein dafür Sorge tragen, daß ihm ihre Person gefalle, sondern daß er auch ihr Betragen billige. Sie muß die Wahl, die er getroffen hat, vor der Oeffentlichkeit rechtfertigen und ihm die Ehre, welche man ihr, als seiner[378] Gattin, erweist, zur Ehre gereichen lassen. Wie soll ihr dies alles jedoch gelingen, wenn sie unsere Einrichtungen nicht kennt, von unseren Sitten und Schicklichkeitsregeln nichts weiß, wenn sie weder mit der Quelle der menschlichen Urteile, noch mit den Leidenschaften, welche sie bestimmen, bekannt ist? Gerade deshalb, weil sie zugleich von ihrem Gewissen und von fremder Meinung abhängig ist, muß sie lernen, beide, die ihr in gleicher Weise als Richtschnur dienen, miteinander vergleichen, sie vereinigen und dem ersteren nur in dem Falle den Vorzug einräumen, wenn sie miteinander in Widerspruch getreten sind. Sie wird dadurch zur Richterin ihrer Richter und fällt die Entscheidung, wann sie sich ihnen zu fügen und wenn sie ihre Urteile abzulehnen hat. Vor Verwerfung oder Anerkennung ihrer Vorurteile wägt sie dieselben. Sie lernt bis zu ihrer Quelle zurückgehen, ihnen vorzubeugen und ihnen eine ihr günstige Wendung geben. Sie trägt Sorge, sich niemals dem Tadel auszusetzen, wenn ihre Pflicht ihr erlaubt, ihm aus dem Wege zu gehen. Von alledem kann ohne Ausbildung ihres Geistes und ihrer Vernunft füglich nichts geschehen.

Ich komme stets wieder auf mein Prinzip zurück und es gibt mir regelmäßig die Lösung aller Schwierigkeiten an die Hand. Ich studiere das, was ist, forsche nach der Ursache und finde schließlich immer, daß alles, was ist, auch gut ist. Ich trete in ein gastfreies Haus, dessen Herr und Herrin miteinander die Wirte machen. Alle beide haben eine gleich gute Erziehung genossen, alle beide zeichnen sich durch gleiche Höflichkeit aus, alle beide besitzen in gleich hohem Grade Geschmack und Geist, alle beide beseelt der gleiche Wunsch, ihre Gäste freundlich aufzunehmen und zufrieden scheiden zu sehen. Der Mann läßt nichts außer acht, um sich in jedem Punkte als aufmerksamer Wirt zu beweisen. Es geht, kommt, macht die Runde und ist unaufhörlich bemüht. Er möchte ganz Aufmerksamkeit sein.[379] Die Frau verläßt ihren Platz nicht. Ein kleiner Kreis versammelt sich um sie und scheint ihr den Ueberblick über die übrige Gesellschaft zu entziehen. Trotzdem ereignet sich nichts, was sie nicht wahrnimmt, niemand entfernt sich, mit dem sie nicht sie nicht gesprochen hat. Sie hat nichts vergessen, was für jeden von Interesse sein könnte. Sie hat jedem nur etwas Angenehmes gesagt. Sie hat jedem nur etwas Angenehmes gesagt, und ohne gegen die gesellschaftliche Ordnung zu verstoßen, hat sie den Geringsten in der Gesellschaft ebensowenig vergessen als den ersten. Das Essen ist aufgetragen, und man nimmt bei Tische Platz. Der Mann setzt die Gäste nach seiner Kenntnis so, wie sie zueinander passen. Selbst wenn der Frau diese Kenntnis abgehen sollte, wird sie sich doch niemals irren; sie hat schon aus den Blicken und dem Benehmen der einzelnen alles herausgelesen, was sie miteinander übereinstimmend haben, und jeder hat einen Platz erhalten, der seinem eigenen Wunsch entspricht. Ich hebe es gar nicht erst hervor, daß bei der Bedienung niemand übersehen wird. Da der Herr ja selbst die Runde macht, ist es unmöglich gewesen, jemanden zu übersehen. Allein die Frau errät schon, wonach jeder besonderes Verlangen trägt, und bietet es ihm an. Obwohl sie mit ihrem Nachbar spricht, überschaut sie unaufhörlich die ganze Tafel. Sie unterscheidet sofort, wer nicht ißt, weil sein Hunger befriedigt ist, und wer sich nicht selber vorzulegen oder etwas zu verlangen wagt, weil er unbeholfen oder schüchtern ist. Bei Aufhebung der Tafel ist jeder überzeugt, daß sie nur an ihn gedacht habe. Alle hegen den Gedanken, sie könne keine Zeit gehabt haben, auch nur einen einzigen Bissen zu sich zu nehmen; allein in Wahrheit hat sie mehr als irgendein anderer gegessen.

Nach Aufbruch der Gäste unterhalten sich die Wirte noch von den einzelnen Vorfällen des Tages. Der Mann erzählt, was man ihm mitgeteilt hat, was die, mit denen er sich unterhalten, gesagt und getan haben. Wenn die Frau auch gerade hierüber nicht immer die genaueste Kunde[380] hat, so ist ihr dafür nicht entgangen, was man am anderen Ende des Saales geflüstert hat. Sie hat erraten, was dieser oder jener gedacht hat, worauf diese oder jene Aueßerungen, diese oder jene Gebärden hinzielen. Kaum eine ausdrucksvolle Bewegung ist gemacht worden, die sie nicht sofort so zu deuten wüßte, daß sie die Wahrheit fast immer trifft.

Dieselbe Geistesgewandtheit, durch welche sich eine Weltdame in der Kunst, ein Haus zu machen, auszeichnet, macht es einer Buhlerin möglich, sich in der Kunst, gleichzeitig mehrere Anbeter zu unterhalten, hervorzutun. Die List, zu der Koketterie ihre Zuflucht nehmen muß, verlangt sogar eine noch feinere Unterscheidungskunst als das Benehmen der Höflichkeit; denn hat sich eine höfliche Frau nur gegen jedermann artig betragen, so hat sie damit allen Anforderungen stets Genüge geleistet, während die Buhlerin durch diese ungeschickte Einförmigkeit bald ihre Herrschaft einbüßen würde. Gerade dadurch, daß sie sich all ihren Liebhabern gefällig erweisen wollte, würde sie dieselben sämtlich zurückstoßen. In den gesellschaftlichen Kreisen erregt das Betragen, welches man allen gegenüber beobachtet, allerdings eines jeden Gefallen; erfährt man nur eine freundliche Aufnahme, so nimmt man es mit etwaigen Bevorzugungen nicht so genau. In der Liebe gilt jedoch eine Gunst, welche keine ausschließliche ist, für eine Beleidigung. Einem Manne, der etwas auf sich hält, wird es hundertmal lieber sein, wenn er für sich allein eine unwürdige Behandlung zu erdulden hat, als wenn ihm dieselben Liebkosungen wie allen übrigen zuteil werden. Das Schlimmste, was ihm widerfahren kann, ist, sich nicht ausgezeichnet zu sehen. Für eine Frau, welche sich mehrere Liebhaber erhalten will, kommt es also darauf an, jedem von ihnen die Ueberzeugung zu verschaffen, daß sie ihn allein bevorzuge und ihm diese Ueberzeugung noch dazu unter den Augen aller übrigen beizubringen, während sie[381] diese wiederum in seiner Gegenwart mit derselben Ueberzeugung erfüllen muß.

Wollt ihr den Anblick einer Persönlichkeit haben, die vor Verlegenheit nicht weiß, was sie beginnen soll, so stellt einen Mann zwischen zwei Frauen, mit deren jeder er ein geheimes Verhältnis angeknüpft hat, und beobachtet nun, welche traurige Figur er spielen wird. Stellt dagegen eine Frau in der nämlichen Lage zwischen zwei Männer, etwas, was sich gewiß nicht seltner ereignen könnte, und ihr werdet in Bewunderung über die Geschicklichkeit geraten, mit der sie beide hinter das Licht führt und zuwege bringt, daß jeder den anderen zum Gegenstande seines Spottes macht. Wie hätten sie sich nun wohl auch nur einen Augenblick täuschen lassen, wenn diese Frau ihnen ein gleiches Vertrauen bewiesen hätte und ihnen mit der nämlichen Vertraulichkeit entgegengetreten wäre? O, wieviel besser weiß sie es doch anzustellen! Weit davon entfernt, das gleiche Benehmen gegen sie zu beobachten, trägt sie vielmehr recht auffällig ein ungleiches Betragen gegen sie zur Schau. Sie fängt ihre Sache so geschickt an, daß derjenige, welchem sie zu gefallen sucht, meint, ihr Benehmen sei ein Ausfluß ihrer Zärtlichkeit, während derjenige, welchen sie zurückstoßend behandelt, darin ein Zeichen gekränkter Liebe erblickt. Mit seinem ihm zugefallenen Teile zufrieden, glaubt deshalb jeder, daß sie sich ausschließlich mit ihm beschäftigte, während sie sich in Wahrheit nur mit sich selbst beschäftigt.

Bei dem allgemeinen Wunsche zu gefallen gibt die Koketterie noch andere ähnliche Mittel an die Hand. Launen könnten nur abstoßend wirken, wenn man sich ihrer nicht geschickt zu bedienen verstände. Aber gerade dadurch, daß die Koketterie sie mit Kunst anwendet, weiß sie ihre Sklaven am stärksten zu fesseln.


Usa ogn' arte la donna, onde sia colto

Nella sua rete alcun novello amante;

[382] Nè con tutti, nè sempre un stesso volto

Serba; mà cangia à tempo atto a sembiante.174


Worauf anders beruht diese ganze Kunst, als auf seinen und unaufhörlichen Beobachtungen, welche der Frau in jedem Augenblick alle Regungen in den Herzen der Männer erkennen lassen, uns sie befähigen, bei jeder geheimen Bewegung, die sie bemerkt, alle Kraft zur Zurückhaltung oder Beschleunigung derselben aufzubieten. Läßt sich diese Kunst nun erlernen? Nein, sie ist den Frauen angeboren. Alle besitzen sie, und nie vermögen die Männer sie sich in demselben Maße anzueignen. Sie gehört zu den charakteristischen Eigentümlichkeiten des schönen Geschlechts. Geistesgegenwart, Scharfblick, seine Beobachtungsgabe machen das Wissen des Weibes aus; in der Geschicklichkeit, diese Gaben zur Geltung zu bringen, bekundet sich ihr Talent.

So ist es, und wir haben eingesehen, weshalb es so sein muß.

Man will uns einreden, daß die Frauen falsch seien. Nein, sie werden es erst. Gewandtheit und nicht Falschheit ist die ihnen eigentümliche Gabe. In den wahren Neigungen ihres Geschlechts sind sie selbst dann, wenn sie lügen, nicht falsch. Weshalb befragt ihr ihren Mund, wenn doch dieser nicht die Antwort geben soll? Befragt ihre Augen, ihre Gesichtsfarbe, ihre Atemzüge, ihr schüchternes Wesen, ihren schwachen Widerstand. Das ist die Sprache, die ihnen die Natur verliehen hat, um euch die Antwort zu erteilen. Der Mund sagt stets nein, und muß es sagen; aber der Ton, in dem sie dies Wörtchen sprechen, ist nicht immer der nämliche, und dieser Ton versteht sich nicht aufs[383] Lügen. Teilt nicht die Frau die Bedürfnisse des Mannes, ohne doch dasselbe Recht zu besitzen, sie zu äußern? Ihr Los würde zu grausam sein, wenn ihr nicht einmal bei ihren berechtigten Wünschen eine Sprache zu Gebote stände, die es an Verständlichkeit mit der, welche sie nicht zu führen wagt, aufzunehmen vermag. Muß sie ihre Schamhaftigkeit denn unglücklich machen? Bedarf sie nicht einer Kunst, ihre Neigungen mitzuteilen, ohne sie geradezu selbst zu enthüllen? Welche Gewandtheit muß sie nicht entfalten, um es dahin zu bringen, daß man ihr raube, was sie zuzugestehen auf das sehnlichste wünscht! Von wie großer Wichtigkeit ist es nicht für sie, sich mit der Kunst vertraut zu machen, das Herz des Mannes zu rühren, ohne den Schein zu erwecken, daß sie an ihn denke! Wie reizend ist nicht die Erzählung von dem Apfel der Galathea und ihrer ungeschickten Flucht! Was sollte sie wohl noch hinzufügen? Soll sie dem Hirten, der ihr bis unter die Weiden nachfolgt, auch noch sagen, daß sie nur in der Absicht die Flucht ergriffen habe, ihn nachzulocken? Das würde eigentlich eine Lüge in sich schließen, denn alsdann würde sie ferner nichts Anlockendes mehr für ihn haben. Je größere Zurückhaltung eine Frau beobachtet, desto mehr Kunst muß sie aufbieten, selbst ihrem Manne gegenüber. Ja, ich behaupte, daß man dadurch, daß man die Koketterie in ihren Schranken hält, derselben den Charakter des Sittsamen und Wahren verleiht, daß man ein Gesetz der Ehrbarkeit aus ihr macht.

»Die Tugend bildet eine unteilbare Einheit,« behauptet mit vollem Rechte einer meiner Gegner; man kann sie nicht zerlegen, um einen Teil anzunehmen und einen anderen zu verwerfen. Wenn man liebt, so liebt man mit seinem ganzen ungeteilten Wesen. Gefühlen, welche man nicht hegen darf, verschließt man sein Herz, wenn man vermag, seinen Mund aber immer. Das sittlich Wahre ist nicht das, was ist, sondern das, was gut ist. Das[384] Böse sollte gar nicht vorhanden sein und darf nicht eingestanden werden, vorzüglich wenn es durch dieses Eingeständnis eine Wirkung erhält, welche es sonst nicht gehabt hätte. Hätte sich die Versuchung zu stehlen in mir geregt und hätte ich nun durch Mitteilung meiner Absicht einen anderen in die Versuchung geführt, mein Mitschuldiger zu werden, würde dann nicht die Entdeckung meiner Versuchung ebensoviel sein, als wenn ich ihr unterlegen wäre? Weshalb behauptet ihr, daß die Schamhaftigkeit die Frauen falsch mache? Können etwa diejenigen, welche sie am meisten verloren haben, mehr Anspruch auf Wahrheit machen als die anderen? Weit gefehlt! Sie sind tausendmal falscher. Man sinkt bis zu diesem Grade der Verdorbenheit nur durch Laster herab, welche man sämtlich behält, und die nur vermittels der Intrige und der Lüge herrschen.175 Im Gegenteile sind diejenigen, welche nach Schamgefühl besitzen, welche ihre Fehler nicht mit Stolz zur Schau tragen, welche ihre Wünsche selbst denen, die sie ihnen einflößten, zu verhehlen wissen und sich ihre Geständnisse nur mit Mühe entreißen lassen, auch sonst in allen ihren Verbindungen die wahrsten, die aufrichtigsten und beständigsten, und diejenigen, auf deren Treue man sich im allgemeinen mit größter Sicherheit verlassen kann.[385]

Als einzige Ausnahme zu diesen Bemerkungen hat man meines Wissens Fräulein von Lenclos anführen können; dafür hat Fräulein von Lenclos aber auch für ein Wunder gegolten. Bei ihrer Geringschätzung der Tugenden ihres eigenen Geschlechtes soll sie, wie man sich erzählt, die unseres Geschlechtes beobachtet haben. Man rühmt ihren Freimut, ihre Redlichkeit, ihre Sicherheit in den Umgangsformen, ihre Treue in der Freundschaft, kurz, um ihr Ruhmesbild mit einem einzigen Pinselstriche zu vollenden, man sagt, sie hätte sich förmlich in einen Mann verwandelt. Meinetwegen! Allein trotz seines hochtönenden Rufes hätte ich diesen Mann weder zu meinem Freunde noch zu meiner Geliebten haben mögen.

Alles, was ich soeben erwähnt habe, liegt unserem Thema nicht so fern, als es vielleicht den Anschein hat. Mir ist klar, worauf die Grundsätze der neueren Philosophie, welche die Schamhaftigkeit und vermeintliche Falschheit des weiblichen Geschlechts zu einem Gegenstande des Gespöttes machen, abzielen. Mir ist aber auch ebenso klar, daß die sicherste Wirkung dieser Philosophie die sein wird, den Frauen unseres Jahrhunderts auch noch das wenige von Ehrbarkeit und Sittsamkeit zu rauben, welches ihnen noch geblieben ist.

Nach diesen Betrachtungen lassen sich, wie ich glaube, schon im allgemeinen Bestimmungen treffen, welche Art von Bildung für den Geist der Frauen am passendsten ist, und auf welche Gegenstände man ihr Nachdenken von Jugend auf lenken muß.

Ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Pflichten ihres Geschlechtes leichter erkennen als erfüllen lassen. Das erste, was die Frauen lernen müssen, ist, ihre Pflichten dadurch, daß sie sich die Vorurteile vorhalten, welche ihnen dieselben bringen, liebzugewinnen. Hierin liegt das einzige Mittel für sie, sich dieselben leicht zu machen. Jeder Stand um jedes Lebensalter hat seine Pflichten.[386] Man erkennt die seinigen sehr bald, wofern man sie nur liebt. Ehret euren Frauenstand, dann werdet ihr, welche Stellung euch der Himmel auch sonst angewiesen haben möge, stets treue Eheweiber sein. Das Wesentliche ist, daß wir das sind, wozu uns die Natur gemacht hat. Man ist leider nur immer zu sehr das, wozu die Menschen uns stempeln wollen.

Die Erforschung der abstrakten und spekulativen Wahrheiten, der Prinzipien, der Axiome in den Wissenschaften, kurz alles dessen, was auf die Verallgemeinerung der Ideen ausgeht, gehört nicht in das Gebiet der Frauen. Ihre Studien müssen sich alle auf das Praktische erstrecken. Ihnen kommt es zu, die Grundsätze, welche der Mann aufgefunden hat, zur Anwendung zu bringen, kommt es zu, die Beobachtungen anzustellen, welche den Mann zur Aufstellung der Grundsätze führen. Alle Betrachtungen der Frauen in bezug auf solche Dinge, die nicht unmittelbar mit ihren Pflichten im Zusammenhange stehen, sollen auf das Studium der Männer oder auf solche angenehme Kenntnisse gerichtet sein, welche es nur mit dem Geschmack zu tun haben. Die Werke des Genies übersteigen ihre Fassungskraft, und außerdem fehlt es ihnen an der genügenden Genauigkeit und Aufmerksamkeit, um die exakten Wissenschaften mit Erfolg betreiben zu können. Die Naturwissenschaften eignen sich für dasjenige der beiden Geschlechter welches die meiste Tätigkeit entfaltet, am meisten auf den Aufenthalt im Freien angewiesen ist und deshalb auch die meisten Gegenstände zu sehen bekommt. Demjenigen Geschlecht, welches im Besitze der größten Kraft ist und sie am meisten ausübt, kommt es auch zu, über die Verhältnisse der sinnlich wahrnehmbaren Wesen und über die Naturgesetze zu urteilen. Das Weib, welches sich seiner Schwäche bewußt ist und von der Außenwelt wenig sieht, schätzt und beurteilt nur die bewegenden Kräfte, welche es anzuwenden vermag, um für seine Schwäche Ersatz zu finden, und diese[387] bewegenden Kräfte sind die Leidenschaften des Mannes. Das Triebwerk, dessen es sich hierbei bedient, ist stärker als das unsrige; alle seine Hebel arbeiten unablässig daran, das menschliche Herz in Schwanken zu versetzen. Zu allem, was sein Geschlecht nicht selbst zu verrichten imstande ist, was ihm aber notwendig oder angenehm ist, bedarf es der Kunst, um uns den Impuls zur Ausführung zu geben. Es muß zu dem Zwecke den Mann bis in die Tiefe seiner Seele studieren, nicht durch Abstraktion die Seele des Mannes im allgemeinen, sondern die Seele der Männer, welche es umgeben, die Seele der Männer, welchen es, sei es durch das Gesetz oder durch die Meinung, unterworfen ist. Es muß aus ihren Reden, Handlungen, Blicken und Gebärden muß es sie mit den Gefühlen zu erfüllen verstehen, welche ihm angenehm sind, ohne daß es auch nur den Anschein hat, als dächte es daran. Die Männer werden besser als das Weib über das menschliche Herz philosophieren, dieses aber wird dafür besser als sie im Menschenherzen zu lesen verstehen. Die Aufgabe der Frauen ist es – wenn ich mich so ausdrücken darf – die Experimentalmoral zu erfinden, unsere Aufgabe ist es dagegen, die auf diesem Wege gewonnene Moral in ein System zu bringen. Die Frau hat mehr Geist, der Mann mehr Genie; die Frau beobachtet, der Mann zieht Schlüsse. Aus beider Zusammenwirken entsteht die klarste Einsicht und das vollkommenste Wissen, welche der menschliche Geist aus sich selber zu schöpfen vermag, mit einem Worte die sicherste Kenntnis seiner selbst und anderer, soweit sich diese die menschliche Fähigkeit anzueignen vermag. Da sehen wir an einem Beispiele, wie die Kunst zur Vervollkommnung des uns von der Natur gegebenen Werkzeugs unaufhörlich beizutragen imstande ist.

Die Welt ist das Buch der Frauen. Wenn sie es schlecht zu lesen verstehen, so liegt die Schuld an ihnen, oder an[388] irgendeiner Leidenschaft, die sie verblendet. Weit davon entfernt, eine Weltdame zu sein, lebt die wahre Hausfrau indes nicht weniger abgeschlossen in ihrer Häuslichkeit als die Nonne in ihrem Kloster. Man sollte deshalb bei den jungen Mädchen, welche man zu verheiraten beabsichtigt, dasselbe Verfahren in Anwendung bringen, welches man bei denjenigen beobachtet oder doch beobachten sollte, welche man für das Kloster bestimmt; man sollte ihnen die Vergnügungen, deren sie sich später enthalten sollen, zeigen, ehe man sie denselben zu entsagen zwingt, damit das falsche Bild, welches sie sich von den ihnen unbekannten Unterhaltungen entwerfen, nicht ihre Herzen dereinst irrezuführen und das Glück ihrer Zurückgezogenheit zu stören vermöge. In Frankreich leben die Frauen in ihrer Jugend in den Klöstern, nach ihrer Verheiratung lassen sie sich aber überall in der Oeffentlichkeit sehen. Bei den Alten fand das umgekehrte Verhältnis statt. Die Mädchen nahmen, wie bereits gesagt, an vielen Spielen und öffentlichen Festen teil, die Frauen lebten dagegen zurückgezogen. Dieses Herkommen war ein vernünftigeres und besseres Mittel zur Aufrechterhaltung der Sitten. Eine gewisse Koketterie ist heiratsfähigen Mädchen erlaubt; Vergnügungen sind für sie bis jetzt noch die Hautsache. Die Frauen werden von anderen Sorgen in Anspruch genommen, denn sie haben keinen Mann mehr zu suchen. Aber mit dieser Reform würden sie ihre Rechnung nicht finden, und unglückseligerweise geben sie den Ton an. Ihr Mütter, macht euch wenigstens zu Gefährtinnen eurer Töchter! Gebt ihnen einen gesunden Sinn und ein reines Herz, und dann haltet ihnen nichts verborgen, was ein keusches Auge erblicken darf. Bälle, Gastereien, Spiele, selbst das Theater, kurz alles, was bei unzulänglicher Kenntnis auf die unerfahrene Jugend einen so bestrickenden Reiz ausüben kann, darf unschuldigen Augen ohne Gefahr vorgeführt werden. Je vollständiger sie dergleichen rauschende Vergnügungen kennen[389] lernen, desto eher werden ihnen dieselben langweilig erscheinen.

Ich vernehme im Geiste schon das Geschrei, welches gegen mich erhoben werden wird. »Welch Mädchen vermöchte wohl solchen gefährlichen Beispielen zu widerstehen? Kaum haben sie etwas von der Welt kennen gelernt, so schwindelt ihnen allen der Kopf. Nicht ein einziges möchte ihr entsagen!« Das ist wohl möglich. Habt ihr ihnen indes auch, bevor ihr ihnen dieses trügerische Bild vorhieltet, eine gründliche Vorbereitung gegeben, damit sie es ohne Aufregung anzusehen vermochten? Habt ihr sie auf die Gegenstände, welche ihnen auf demselben entgegentreten, gehörig aufmerksam gemacht? Habt ihr sie ihnen in ihrer vollen Wirklichkeit dargestellt? Habt ihr sie gegen die Täuschungen der Eitelkeit hinreichend gewaffnet? Habt ihr ihren jungen Herzen den Geschmack an den wahren Freuden eingeimpft, welche man in dem Geräusche dieser Welt nie zu fühlen vermag? Welche Vorsichtsmaßregeln habt ihr getroffen, welche Schritte getan, um sie vor dem falschen Geschmack zu bewahren, der sie doch nur irreleiten kann? Aber statt in ihrem Geiste die Herrschaft der allgemeinen Vorurteile zu brechen, habt ihr denselben nur Nahrung gegeben. Schon im voraus habt ihr ihnen an all den frivolen Belustigungen, die sich ihnen darbieten werden, Gefallen eingeflößt. Noch während sie sich denselben schon überlassen, erhöht ihr ihr Wohlgefallen daran. Junge Mädchen, die in die Welt eintreten, haben nur ihre Mütter zu Führerinnen, die oft noch weit seltsamere Anschauungen hegen als die Töchter, und ihnen die Dinge unter keinem anderen Gesichtspunkte zu zeigen vermögen, als unter dem sie diese selbst erblicken. Das Beispiel, welches ihnen dieselben geben und das auf die eine größere Gewalt als die Vernunft selbst ausübt, rechtfertigt sie in ihren eigenen Augen, denn die Autorität der Mutter dient der Töchter als unwiderlegliche Entschuldigung. Wenn trotzdem auch[390] ich den Wunsch hege, daß die Mutter ihre Tochter in die Welt einführe, so geschieht dies selbstverständlich in der Voraussetzung, daß sie ihr diese so zeigt, wie sie in Wirklichkeit beschaffen ist.

Das Uebel fängt sogar noch früher an. Die Klöster sind die eigentlichen Schulen der Koketterie, nicht etwa jener unschuldigen Gefallsucht, deren ich bereits Erwähnung getan, sondern derjenigen Koketterie, in welcher alle Verkehrtheiten der Frauen ihre Wurzel haben und die die Schuld an den Verschrobenheiten unserer heutigen eleganten Damenwelt trägt. Scheiden die jungen Mädchen aus dem Kloster, um aus ihm unmittelbar in das geräuschvolle Gesellschaftsleben einzutreten, so fühlen sie sich von Anfang an ganz an ihrem Platze. Sie sind für ein Leben in der Welt erzogen worden. Darf es uns also wundernehmen, wenn sie sich in ihr wohl fühlen? Ich will das, was ich sogleich sagen werde, zwar nicht mit apodiktischer Gewißheit behaupten, wenn ich auch nicht die Befürchtung hege, ein eingesogenes Vorurteil für eine Beobachtung zu halten, allein es macht den Eindruck auf mich, als ob es in den protestantischen Ländern im allgemeinen eine größere Anhänglichkeit an die Familie, würdigere Gattinnen und zärtliche Mütter gebe als in den katholischen; und wenn es sich so verhält, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß diesen Unterschied zum Teil die klösterliche Erziehung zu verantworten hat.

Um den stillen Frieden eines häuslichen Lebens liebzugewinnen, muß man es kennen, muß man die Süßigkeit desselben von Kindheit an empfunden haben. Nur im väterlichen Hause lernt man seinen eigenen Gefallen finden; nur einer Frau, welche von ihrer eigenen Mutter erzogen ist, wird es eine Freude sein, die Erziehung ihrer Kinder selbst zu leiten. Leider gibt es in den großen Städten keine häusliche Erziehung mehr. Die Gesellschaft besteht hier aus so verschiedenen Elementen und ist so gemischt, daß man sich nicht einmal ein verstecktes Plätzchen für sich selbst zu[391] sichern Vermag und im eigenen Hause wie in der Oeffentlichkeit lebt. Da man sich gezwungen sieht, mit aller Welt zu leben, so hat man keine Familie mehr; kaum kennt man noch die Glieder derselben. Man sieht sie nur als Fremde, und die Einfalt der häuslichen Sitten erlischt mit der süßen Vertraulichkeit, die ihren Hauptreiz bildet. So saugt man schon in der Muttermilch den Geschmack an den Vergnügungen des Jahrhunderts und an den Grundsätzen ein, welche in ihm zur Herrschaft gelangt sind.

Man unterwirft die Mädchen einem scheinbaren Zwang, um solcher Toren habhaft zu werden, welche sie ihres äußeren Anstandes wegen heiraten. Allein studiert nur einen Augenblick diese junge Damen. Unter dem Schein äußerlicher Ruhe verhüllen sie nur schlecht die Begierde, welche sie verzehrt. Schon leuchtet aus ihren Augen das glühende Verlangen hervor, das Beispiel ihrer Mütter zu befolgen. Der Gegenstand ihrer Begehrlichkeit ist nicht ein Gatte, sondern die Ungebundenheit, der sie sich in der Ehe meinen hingeben zu können. Bedarf man etwa eines Gatten, wenn einem so viele Hilfsmittel zu Gebote stehen, die denselben völlig entbehrlich machen? Man bedarf desselben nur, um ebendiese Hilfsmittel verdecken zu können.176 Sittsamkeit steht auf ihrem Anlitze geschrieben, aber Zügellosigkeit wohnt in der Tiefe ihres Herzens. Ein Anzeichen der letzteren tritt schon in diesem angenommenen Scheine der Sittsamkeit hervor; sie nehmen ihn nur an, um sich desto eher von ihr freimachen zu können. Verzeiht mir, ihr Frauen von Paris und London, ich bitte dringend darum, kein Ort schließt Wunder aus, nur habe ich meinerseits noch keines kennen gelernt; und wenn auch nur eine einzige unter euch ein[392] wahrhaft sittsames Herz besitzt, dann verstehe ich mich auf unsere Einrichtungen nicht.

Alle diese verschiedenen Erziehungsarten tragen in gleicher Weise daran schuld, daß die jungen Mädchen an den Vergnügungen der großen Welt Gefallen finden und sich den Leidenschaften überlassen, welche sich infolgedessen bei ihnen einstellen. In den großen Städten beginnt die Verdorbenheit mit dem Eintritt in das Leben, in den kleinen mit dem Eintritt in das Alter der Vernunft. Die jungen Mädchen aus der Provinz, die man mit Geringschätzung gegen die glückliche Einfachheit ihrer Sitten erfüllt hat, eilen nach Paris, um an der Verderbtheit der unsrigen teilzunehmen. Die Aneignung des Lasters, welches man mit dem schönen Namen Talent schmückt, bildet den einzigen Zweck ihrer Reise. Voller Scham, bei ihrer Ankunft noch so wenig von den lockeren Sitten der eleganten Frauenwelt an sich zu haben, säumen sie nicht, sich sobald wie möglich in vollendete Großstädterinnen zu verwandeln. Wo beginnt nun eurer Ansicht nach das Uebel, dort, wo man den Plan dazu faßt, oder wo es zur Ausführung gelangt?

Ich halte es für gut, daß eine vernünftige Mutter aus der Provinz ihre Tochter nach Paris führt, um ihr diese für andere so verderblichen Bilder zu zeigen. Sollte es indes doch vorkommen, so behaupte ich, daß die Tochter dann entweder eine schlechte Erziehung erhalten hat, oder daß ihr diese Bilder wenig Gefahr bereiten werden. Besitzt man Geschmack, Verstand und Liebe für das Sittsame, so findet man sie nicht so verlockend, wie es für diejenigen sind, welche sich von ihnen bestricken lassen. Man kann ja in Paris freilich genug dergleichen unverständiger Mädchen antreffen, welche so schnell wie möglich den großstädtischen Ton anzunehmen suchen und auch wirklich sechs Monate lang als Modedamen Bewunderung erregen, um dann für ihre übrige Lebenszeit der Welt als Zielscheibe zu dienen; wer aber bemerkt diejenigen, welche, angewidert[393] von all diesem lärmenden Treiben, in ihre Provinz zurückkehren und sich mit ihrem Lose zufrieden fühlen, nachdem sie Gelegenheit gehabt hatten, es mit dem so vielfach beneideten der großen Welt zu vergleichen? Wie viele junge Frauen habe ich kennen gelernt, die von ihren Männern in der Absicht, ihnen eine Freude bereiten, nach der Hauptstadt geführt waren, da ihnen ihre Mittel den Aufenthalt daselbst gestatteten, und wie oft bin ich Zeuge gewesen, daß sie ihre Männer selbst davon zurückbrachten, mit größerer Freude abreisten, als sie gekommen waren, und den Tag vor ihrer Abreise gerührt sagten: »Ach, laß uns in unsere Strohhütte zurückkehren, man lebt glücklicher in ihr als hier in Palästen!« Wer will wissen, wieviel edle Frauen es noch sonst gibt, die ihre Knie nicht vor dem Götzenbilde gebeugt haben und seinen unsinnigen Kultus mit Verachtung strafen! Nur die Närrinnen machen viel Aufhebens von sich, verständige Frauen erregen kein Aufsehen.

Wenn ich trotz der allgemeinen Verderbnis, trotz der Vorurteile, die sich überall eingeschlichen haben, trotz der schlechten Erziehung gleichwohl nicht wenige Mädchen ein bewährtes Urteil bewahren, bis zu einem wie hohen Grade würde sich dieses Urteil erst entwickelt haben, wenn es durch geeignete Belehrungen genährt oder, um mich richtiger auszudrücken, nicht durch fehlerhafte Belehrungen getrübt worden wäre? Denn schließlich kommt doch alles darauf an, das natürliche Gefühl bewahren oder wiederherzustellen. Dazu ist es aber daraus nicht nötig, daß ihre junge Mädchen mit langen Predigten langweilt und mit trocknen Sermonen überschüttet. Das Moralisieren ist bei beiden Geschlechtern der Tod aller guten Erziehung. Dergleichen trübselige Lehren führen nur dazu, sowohl den, welcher sie erteilt, als auch das, was sie enthalten, verhaßt zu machen. Wenn man es mit jungen Mädchen zu tun hat, darf man sie nicht mit Angst vor ihren Pflichten erfüllen, noch dadurch das Joch erschweren, welches ihnen die Natur auferlegt hat.[394] Bei Darlegung dieser Pflichten befleißigt euch der Kürze und Deutlichkeit. Bringt ihnen nicht den Wahn bei, daß die Erfüllung derselben etwas Verdrießliches sei. Weg mit allem grämlichen Wesen, weg mit aller schulmeisterlichen Würde! Was zu Herzen gehen soll, muß von Herzen kommen. Ihr Katechismus der Moral muß ich durch gleiche Kürze und gleiche Deutlichkeit wie ihr Katechismus der Religion auszeichnen, darf aber nicht ebenso ernst sein. Erläutert ihnen, wie in ihren Pflichten sowohl die Quelle ihrer Freuden als auch der Grund ihrer Rechte liege. Ist es denn etwas so Lästiges, Liebe zu empfinden, um Liebe einzuflößen, sich liebenswürdig zu machen, um glücklich zu sein, sich liebenswürdig zu machen, um glücklich zu sein, sich Ansehen zu verschaffen, um Gehorsam zu finden, andere Ehre zu erweisen, um sich selbst geehrt zu sehen? Wie schön sind diese Rechte! Wie achtungswert sind sie! Wie teuer werden sie dem Herzen des Mannes sein, wenn sich die Frau derselben zu bedienen versteht! Sie braucht nicht erst die Jahre und das Alter abzuwarten, um in ihren Genuß zu treten. Die Herrschaft der Frau beginnt mit ihren Tugenden. Kaum enthalten sich ihre Reize, so herrscht uns schon durch die Sanftmut ihres Charakters und nötigt uns durch ihre Sittsamkeit Achtung ab. Welcher sonst gefühllose und rohe Mann sänftigt und sein ungestümes Wesen und zeigt sich entgegenkommender und nachgiebiger im Verkehre mit einem liebenswürdigen und verständigen Mädchen von sechzehn Jahren, welches wenig spricht, aufmerksam zuhört, sich durch Sittsamkeit im Benehmen, durch Züchtigkeit in den Worten auszeichnet, das auch im Bewußtsein seiner Schönheit nicht einen Augenblick sein Geschlecht oder seine Jugend vergißt, ja das sogar durch seine Schüchternheit zu fesseln und sich die Achtung zu erwerben weiß, die es selbst jedermann erweist?

Obgleich diese Merkmale rein äußerlich sind, so fehlt es ihnen doch gleichwohl nicht an Wert. Sie beruhen keineswegs auf bloßem Sinnesreize. Sie ergeben sich aus[395] der inneren Ueberzeugung des Mannes, daß alle Frauen die natürlichen Richterinnen des Verdienstes der Männer sind. Wer wünschte wohl, sich von den Frauen mißachtet zu sehen? Niemand in der ganzen Welt, nicht einmal derjenige, der sich vorgenommen hat, sie nicht mehr zu lieben! Und meint ihr etwa, daß mir, der ich ihnen doch so herbe Wahrheiten sage, ihr Urteil in der Tat gleichgültig ist? Im Gegenteil! Ihre Zustimmung ist mir wertvoller als die eurige, meine Leser, die ihr oft weit mehr Weiber seid als sie. Obgleich ich vor ihren Sitten keine Achtung hege, will ich ihre Gerechtigkeit doch in Ehren halten. An ihrem Haß ist mir wenig gelegen, wenn ich sie nur zwinge, mich zu achten.

Wieviel Großes ließe sich mit diesen Mitteln erzielen, wenn man sich ihrer richtig zu bedienen verstände. Wehe dem Zeitalter, in welchem die Frauen ihren Einfluß verlieren und die Männer ihre Urteile unbeachtet lassen! Es ist die tiefste Stufe der Verkommenheit. Alle gesitteten Völker haben die Frauen geachtet. Seht Sparta, seht Deutschland, seht Rom an, Rom, diese Stätte des Ruhms und der Tugend, wenn sie überhaupt je auf Erden eine Heimat gehabt haben! In Rom war es, wo die Frauen die Taten der großen Feldherren ehrten, wo sie die Väter des Vaterlandes öffentlich beweinten, wo ihre Huldigungen oder ihre Klagen in dem heiligen Ansehen des feierlichsten Urteils der Republik standen. Alle großen Staatsumwälzungen gingen hier von den Frauen aus: durch eine Frau errang Rom seine Freiheit, durch eine Frau erlangten die Plebejer das Konsulat, durch eine Frau wurde der Gewaltherrschaft der Dezemvirn ein Ende gemacht, durch Frauen wurde Rom aus den Händen eines Verbannten gerettet. Ihr feinen Franzosen, was würdet ihr wohl beim Anblicke dieses in euren Spötteraugen so lächerlichen Aufzuges gesagt haben? Mit Hohngelächter hättet ihr ihn begleitet. Mit wie verschiedenen Augen betrachten wir doch die nämlichen Dinge! Und vielleicht haben wir alle recht. Bildet[396] ihr diesen Aufzug aus hübschen Französinnen, so kann ich mir keinen abstoßenderen Anblick vorstellen; läßt ihn aber aus Römerinnen bestehen, und ihr werdet alle die Augen des Volsker und das Herz des Coriolan haben.

Ich bleibe hierbei noch nicht einmal stehen, sondern behaupte sogar, daß die Tugend der Liebe ebenso günstig ist wie all den übrigen Rechten der Natur, und daß die Geliebte dadurch in gleich hohem Grad an Ansehen gewinnt, als die Gattin und Mutter. Es gibt keine wahre Liebe ohne Begeisterung und keine Begeisterung ohne einen Gegenstand von wirklicher oder eingebildeter Vollkommenheit, die aber in der Phantasie stets vorhanden sein wird. Für das sollen die Liebenden glühen, welche an diese Vollkommenheit nicht mehr glauben und in ihren Geliebten nur Gegenstände ihrer Sinnenlust erblicken? Nein, nicht auf diese Weise erwärmt sich das Herz und gibt es sich dem Wonnerausche hin, welcher die beseligende Raserei der Liebenden und den Reiz ihrer Leidenschaft ausmacht. In der Liebe beruht freilich alles, wie ich nicht leugnen kann, nur auf Illusion; aber in Wirklichkeit sind doch die Gefühle vorhanden, mit denen sie uns für das wahrhaft Schöne beseelt und dadurch bewirkt, daß wir dasselbe liebgewinnen. Dies Schöne liegt nun allerdings gar nicht in dem Gegenstande, welchen man liebt, es ist vielmehr ein Ausfluß unserer Irrtümer. Mag es sein! Allein was hat das zu sagen? Bringt man deshalb weniger alle seine niederen Gefühle diesem geträumten Vorbilde zum Opfer? Wird unser Herz deshalb weniger von den Vorzügen erfüllt, mit welchen wir den Gegenstand unserer Liebe ausschmücken? Legen wir deshalb weniger alle Gemeinheit des menschlichen Ichs ab? Wo ist ein wahrer Liebender, der nicht bereit wäre, sein Leben für seine Geliebte zu opfern? Und wie kann von sinnlicher und grober Leidenschaft bei einem Menschen die Rede sein, welcher sterben will? Wir machen uns über die fahrender Ritter lustig. Die Ursache liegt darin, daß sie[397] die Liebe kannten, während wir nur die Ausschweifung kennen. Als ihre ritterlichen Grundsätze zu einem Gegenstand des Gespöttes wurden, war dieser Wechsel nicht sowohl das Werk der Vernunft als vielmehr das Ergebnis der schlechten Sitten.

Welches Jahrhundert wir auch betrachten mögen, die natürlichen Verhältnisse unterliegen niemals einem Wechsel, das Angemessene oder Unangemessene, was sich aus denselben ergibt, bleibt sich stets gleich, die Vorurteile vermögen unter dem angemaßten Namen der Vernunft nur den äußeren Schein zu ändern. Selbstbeherrschung wird immer groß und schön sein, übte man sich in ihr auch nur, um eingebildeten Ansichten zu gehorchen; und die wahren Beweggründe der Ehre werden stets einer jeden urteilsvollen Frau, welche das Glück ihres Lebens in ihrer Stellung zu suchen weiß, zu Herzen sprechen. Keuschheit muß vor allem die köstlichste Tugend einer schönen Frau sein, welche nur einige Seelengröße besitzt. Während sie die ganze Welt zu ihren Füßen erblickt, feiert sie über alle und über sich selbst Triumphe. In ihrem eigenen Herzen errichtet sie sich einen Thron, dem alle huldigend nahen. Die zärtlichen und eifersüchtigen, indes stets ehrfurchtsvollen Gefühle beider Geschlechter, die allgemeine wie die eigene Achtung vergelten ihr die Kämpfe weniger Augenblicke mit stets neuem Ruhme. Ihre Entbehrungen sind nur vorübergehend, allein ihr Lohn ist ein bleibender. Welch eine Freude für eine edle Seele, wenn sich der Stolz der Tugend mit der Schönheit paart! Allen Romanheldinnen zum Trotze wird eine solche Frau köstlichere Freuden genießen als Lais und Kleopatra; und selbst wenn ihre Schönheit einst verschwunden sein wird, so werden doch ihre Freuden und ihr Ruhm noch bleiben. Nur einer solchen Frau kann die Vergangenheit Freude bereiten.177[398]

Je größer und lästiger die Pflichten sind, desto klarer und stärker müssen die Motive sein, die ihnen zugrunde liegen. Es gibt eine gewisse fromme Sprache, deren man sich unaufhörlich, selbst bei den ernstesten Angelegenheiten, jungen Mädchen gegenüber bedient, ohne sie darum überzeugen zu können. Diese Sprache, welche mit ihren Anschauungen so wenig im Einklange steht, und der geringe Wert, den sie im geheimen auf dieselbe legen, tragen wesentlich dazu bei, sich in ihnen jene Leichtigkeit entwickeln zu lassen, mit der sie sich ihren Neigungen hingeben, da es ihnen an Gründen zur Bekämpfung derselben fehlt, die sie aus der Sache selbst geschöpft hätten. Ein verständig und fromm erzogenes Mädchen besitzt unzweifelhaft starke Waffen gegen die Versuchungen; allein dasjenige, dessen Herz oder vielmehr dessen Ohren man ausschließlich mit solchem frommen Kauderwelsch erfüllt, wird unfehlbar die Beute des ersten geschickten Verführers, der es darauf anlegt. Nie wird ein junges und schönes Mädchen mit Geringschätzung auf seinen Körper blicken, nie wird es sich aufrichtig über die großen Sünden betrüben, zu welcher seine Schönheit verleitet hat, nie wird es aufrichtig vor Gott beweinen, daß es ein Opfer der Lüsternheit wurde, nie wird es sich davon überzeugen können, daß das süßeste Gefühl des Herzens eine Erfindung des Satans sei. Gebt ihm andere innere Gründe, für die es ein Verständnis hat, denn diese werden bei ihm keinen Eingang finden. Noch schlimmer wird es aber, wenn man, wie es nicht selten vorkommt, seine Ideen miteinander in Widerspruch setzt, und nachdem man es dadurch gedemütigt hat, daß man ihm seinen Körper und seine Reize wie vom Sündenschmutz befleckt schildert, von ihm gleich darauf verlangt, diesen nämlichen Körper als einen Tempel Jesu Christi heilig zu halten. Allzu hohe und allzu niedrige Ideen sind gleich unzulänglich und sind[399] nicht imstande, sich zu vereinigen. Es bedarf eines Grundes der dem Geschlecht wie dem Alter angemessen ist. Die Achtung, die man der Pflicht schuldet, hat nur insoweit Kraft, als man ihr Beweggründe zugesellt, die uns zu ihrer Erfüllung antreiben.


Quae quia non liceat non facit, illa facit.178

(Die nur des Verbotes wegen etwas unterläßt, tut es endlich doch)


Man kann es sich kaum vorstellen, daß es gerade Ovid ist, welcher ein so strenges Urteil fällt.

Wollt ihr deshalb junge Mädchen mit Liebe zur Sittlichkeit erfüllen, so flößet ihnen, ohne ihnen beständig zurufen »Seid sittsam« das Verlangen ein, es zu werden. Macht ihnen den Wert der Sittsamkeit bewußt, und sie werden sie liebgewinnen. Es ist nicht ausreichend, dies Verlangen erst für eine ferne Zukunft zu erwecken. Ueberzeugt sie im Hinblick auf die Gegenwart, auf die Verhältnisse ihres Alters, auf den Charakter ihrer Liebhaber, von wie großem Interesse es für sie ist, sittsam zu sein. Schildert ihnen den rechtschaffenen Mann, den Mann von Verdienst. Lehrt sie denselben kennen lernen und lieben und zwar um ihretwillen lieben. Beweist es ihnen, daß ein solcher Mann allein imstande ist, sie glücklich zu machen, sei es nun in der Eigenschaft seiner Freundin, Gattin oder Geliebten. Rückt ihnen die Tugend auf dem Wege der Vernunft näher. Macht sie besonders darauf aufmerksam, daß die Herrschaft ihres Geschlechts und alle Vorteile desselben nicht allein von ihrer eigenen guten Aufführung, von ihrer eigenen Sittlichkeit, sondern ebenfalls von der der Männer abhängen; daß die Frauenwelt auf feile und niedrige Seelen nur einen geringen Einfluß auszuüben vermag, und daß der Mann nur dann seiner Geliebten wahrhaft huldigen kann, wenn er der Tugend huldigt. Wenn ihr ihnen dann eine getreue Schilderung der heutigen Sitten gebt, so könnt[400] ihr euch versichert halten, daß ihr sie mit einem aufrichtigen Widerwillen gegen dieselben erfüllen werdet. Das einfache Bild unserer Modemenschen wird ihnen dieselben verächtlich machen. Sobald ihr ihnen nur Abneigung gegen ihre Grundsätze, Abscheu vor ihren Gefühlen und Verachtung gegen ihre leeren Galanterien einflößt, so werdet ihr dadurch in ihnen einen edleren Ehrgeiz wachrufen, den, über große und starke Herzen zu herrschen, jenen Ehrgeiz der spartanischen Frauen, die nur Männer beherrschen wollten. Eine herausfordernde, sittenlose, intrigante Frau, die ihre Liebhaber nur durch Künste der Koketterie anzulocken und durch Gunstbeweise zu erhalten weiß, legt ihnen wie Dienern allein niedrige und gemeine Dienste auf, bei allen wichtigen und ernsten Dingen fehlt es ihr dagegen an Autorität über dieselben. Allein eine ebenso ehrbare wie liebenswürdige und verständige Frau, die den Ihrigen Achtung abnötigt, sich durch ein zurückhaltendes und sittsames Wesen auszeichnet, mit einem Wort eine Frau, welche sich die Liebe durch die Achtung bewahrt, schickt sie durch einen bloßen Wink bis ans Ende der Welt, in den Kampf, in den Ruhm, in den Tod, wohin es ihr gefällt.179 Eine solche Herrschaft[401] ist, wie mir scheint, doch schön, und es verlohnt sich der Mühe, sie zu erkaufen.

Darin spricht sich der Geist aus, in welchem Sophie erzogen ist, mit größerer Sorgfalt als mit Mühe und mehr dadurch, daß man ihrer Neigung nachgab, als daß man sie bekämpfte. Fügen wir jetzt noch ein Wort über ihre Person nach dem Bilde hinzu, welches ich Emil von ihr entworfen habe. Es stimmt mit der Vorstellung überein, die er sich selbst von der Frau gebildet hat, welche ihn glücklich zu machen imstande ist.

Ich muß immer von neuem daran erinnern, daß ich alle Wunder beiseite lasse. Emil ist keines, und Sophie ist es ebensowenig. Emil ist Mann und Sophie Weib: darin besteht ihr ganzer Ruhm. Bei der Vermischung der Geschlechter, die unter uns herrscht, gilt es freilich beinahe für ein Wunder, dem seinigen vollkommen anzugehören.

Sophie besitzt gute Anlagen und einen guten Charakter. Sie hat ein leicht erregbares Herz, und diese ungemein große Erregbarkeit verleiht ihr zuweilen eine Lebendigkeit der Phantasie, die sich nur schwer mäßigen läßt. Ihr Verstand ist weniger scharf als durchdringend, sie ist heiterer, aber sich nicht immer gleichbleibender Laune, von gewöhnlicher, aber einnehmender Figur, und von einer Gesichtsbildung, die Seele verheißt und hierin nicht täuscht. Man kann sich ihr mit Gleichgültigkeit nahen, aber nicht von ihr scheiden ohne einen tiefen Eindruck von ihr erhalten zu haben. Andere zeichnen sich durch gute Eigenschaften aus, die ihr fehlen; wieder andere besitzen die ihrigen in weit höherem Maße, aber bei keiner sind alle Eigenschaften besser zusammengestellt, um einen glücklichen Charakter zu bilden.[402]

Sie versteht sogar aus ihren Fehlern Vorteil zu ziehen, und wenn sie vollkommen wäre, würde sie weit weniger gefallen.

Sophie ist nicht schön; aber neben ihr vergessen die Männer die schönen Frauen, und die schönen Frauen sind mit sich selbst unzufrieden. Auf den ersten Blick kann man sie kaum hübsch nennen, aber je länger man sie betrachtet, desto schöner erscheint sie. Sie gewinnt, wo so viele andere verlieren, und was sie gewinnt, verliert sie nicht wieder. Man kann wohl schönere Augen, einen schöneren Mund, eine imponierendere Figur finden, aber einen anmutigeren Wuchs, eine schönere Hautfarbe, eine weißere Hand, einen niedlicheren Fuß, einen sanfteren Blick, freundlichere Züge sucht man vergeblich. Ohne zu blenden, fesselt sie. Sie ist reizend, ohne daß man sagen könnte, worin ihre Anziehungskraft besteht.

Sophie putzt sich gern und versteht sich darauf; ihre Mutter hat keine andere Zofe als sie. Sie hat viel Geschmack und weiß sich deshalb vorteilhaft zu kleiden. Allein sie haßt alle reichen Putzsachen. In ihrem Anzuge vereinigt sich Einfachheit mit Eleganz. Sie liebt nicht das Glänzende, sondern das Kleidsame. Wenn sie auch die Modefarben nicht kennt, so weiß sie doch vortrefflich, welche Farben ihr gut stehen. Es gibt kein junges Mädchen, welches weniger Sorgfalt auf seinen Anzug verwendet zu haben scheint, und doch kleidet sich keines gewählter als Sophie. Obgleich sie kein Stück ihres Anzugs ohne volle Ueberlegung angelegt hat, so verrät sich doch bei keinem die aufgebotene Kunst. Ihr Putz ist dem Ansehen nach sehr bescheiden, in Wirklichkeit aber sehr gefällig und geschmackvoll. Sie stellt ihre Reize nicht zur Schau, sondern verhüllt sie, verbirgt sie aber so, daß man sie unter der Hülle zu ahnen vermag. Bei ihrem ersten Anblick sagt man: »Welch ein sittsames und verständiges Mädchen!« Weilt man aber erst länger in ihrer Nähe, dann schweifen die Augen, welche nur zu[403] deutlich verkündigen, was im Herzen vorgeht, fortwährend über ihre ganze Person und sind nicht imstande, sich wieder von ihr loszureißen. Man hätte zu behaupten Lust, dieser ganze so einfache Anzug sei nur angelegt, um in der Phantasie Stück für Stück wieder weggenommen zu werden.

Sophie besitzt natürliche Talente. Sie ist sich derselben bewußt und hat sie nicht vernachlässigt. Da sie sich indes nicht in der Lage befand, viel Kunst auf die Ausbildung derselben zu verwenden, so hat sie sich damit begnügt, ihr hübsches Stimmchen in richtigem und geschmackvollem Gesang, ihre kleinen Füße in leichtem, schwebendem und anmutigem Gang zu üben und alle Begrüßungsformen zwanglos und sicher auszuführen. Uebrigens hat sie zum Gesanglehrer nur ihren Vater, zur Tanzlehrerin nur ihre Mutter gehabt, und ein Organist aus der Nachbarschaft hat ihr einige Lektionen erteilt, um sich zu ihrem Gesang auf dem Klaviere selbst begleiten zu können, worin sie sich seitdem allein weiter fortgebildet hat. Anfangs hatte sie nur im Sinn, ihre weiße Hand auf den schwarzen Tasten mit Vorteil zu zeigen,180 dann entdeckte sie, daß der scharfe und schrille Ton des Klaviers den Ton ihrer Stimme sanfter klingen ließ, allmählich wurde sie für die Harmonie empfänglich, und als sie heranwuchs, fing sie endlich an, die Reize des Ausdrucks herauszufühlen und die Musik um ihrer selbst willen zu lieben. Aber dies ist eigentlich mehr eine Neigung als ein Talent, denn die Noten sind ihr völlig unbekannt.

Was Sophie indes am allerbesten versteht und worin man sie am sorgfältigsten unterrichtet hat, das sind die weiblichen Handarbeiten, selbst diejenigen, welchen man gewöhnlich[404] weniger Aufmerksamkeit zuwendet, wie die Kunst, sich ihre Kleider selbst zuzuschneiden und zu nähen. Es gibt keine Nadelarbeit, die ihr unbekannt wäre und deren Anfertigung ihr nicht Vergnügen machte. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist jedoch das Spitzenklöppeln, weil keine andere Arbeit zu einer so anmutigen Körperhaltung nötigt und die Finger in so zierlicher und leichter Bewegung erhält. In gleicher Weise hat sie sich alle Einzelheiten der Hauswirtschaft angelegen sein lassen. Küche und Speisekammer stehen unter ihrer Leitung. Sie kennt die Preise der Lebensmittel und versteht sich auf ihre Güte, ist mit der Buchführung vertraut und dient ihrer Mutter als Haushofmeister. Bestimmt, selbst einst Hausfrau zu werden, lernt sie in der Leitung des väterlichen Hauswesens ihrem eigenen wohl vorstehen. Sie kann den Dienstboten bei ihren Geschäften helfend zur Seite stehen und tut es stets gern. Nur zu dem, was man selbst auszuführen versteht, kann man die richtigen Anordnungen treffen. Aus diesem Grund erhält ihre Mutter sie in ununterbrochener Geschäftigkeit. Sophiens Gedanken sind allerdings noch nicht so weit in die Ferne gerichtet. Ihr einziges Sinnen geht darauf aus, ihrer Mutter zu dienen und ihr einen Teil ihrer Sorgen abzunehmen. Freilich läßt sich nicht leugnen, daß sie nicht alles mit dem gleichen Vergnügen verrichtet. So hat sie zum Beispiel, eine so große Feinschmeckerin sie auch ist, an dem Küchenwesen wenig Gefallen. Die dabei vorkommenden groben Arbeiten haben für sie etwas Widriges. Es geht ihr in der Küche nie sauber genug zu. Sie ist in diesem Punkte von einer übertriebenen Zartheit, und diese bis zum äußersten getriebene Zartheit hat förmlich den Charakter eines Fehlers angenommen. Eher ließe sie das ganze Mittagessen in das Feuer laufen, als daß sie ihre Manschette beschmutzte. Aus demselben Grunde hat sie sich stets gegen die Oberaufsicht über den Garten gesträubt. Die Erde erscheint ihr unreinlich; sobald sie nur einen Düngerhaufen[405] sieht, glaubt sie schon, seinen unangenehmen Geruch wahrzunehmen.

An diesem Fehler trägt der Unterricht der Mutter die Schuld. Nach der Ansicht der letzteren gehört die Reinlichkeit zu den ersten Pflichten des Weibes, ist sie eine besondere, unabweisbare und von der Natur ihm selbst auferlegte Pflicht. Es gibt nichts Widerwärtigeres in der Welt als ein unreinliches Weib, und der Mann, der sich mit Ekel von ihm abwendet, hat nie unrecht. Sie hat ihrer Tochter diese Pflicht von Kindheit auf so unermüdlich vorgepredigt, hat von ihr so streng Reinlichkeit in bezug auf ihre eigene Person wie auf ihre Kleider, ihr Zimmer, ihre Arbeit, ihre Toilette gefordert, daß die zur Beobachtung dieser Pflicht ununterbrochen nötige Aufmerksamkeit, welche bereits zur Gewohnheit geworden ist, einen ziemlich großen Teil ihrer Zeit allein für sich in Anspruch nimmt und auch in dem übrigen stets die erste Rolle spielt. Daher läßt sie die gute Ausführung dessen, was sie unternimmt, erst ihre zweite gute Sorge sein; ihre erste Sorge geht stets darauf aus, es reinlich zu machen.

Indes trägt dies alles nicht den Charakter der Ziererei an sich und ist nicht in Schwäche ausgeartet. Die übertriebene Verfeinerung des Luxus hat in ihren Augen keinen Wert. Nie kommt anderes als einfaches Wasser in ihr Zimmer. Sie kennt keinen anderen Wohlgeruch als den der Blumen, und nie wird ihr Gatte etwas Süßeres atmen als ihren Odem. Endlich läßt die Aufmerksamkeit, welche sie auf das Aeußere verwendet, sie nicht vergessen, daß sie ihr Leben und ihre Zeit in den Dienst edlerer Sorgen zu stellen hat. Jene alles Maß übersteigende körperliche Reinlichkeit, welche die Seele besudelt, kennt sie nicht oder verachtet sie. Sophie ist mehr als nur reinlich, sie ist rein.

Wie ich bereits erwähnt habe, war Sophie Feinschmeckerin. Sie war es von Natur; aber infolge der Gewöhnung ist sie frugal geworden, und jetzt ist sie es aus Sittsamkeit.[406] Es verhält sich in dieser Hinsicht mit den Mädchen nicht wie mit den Knaben, daß man sie durch Feinschmeckerei bis zu einem gewissen Grade leiten könnte. Diese Neigung bleibt für das weibliche Geschlecht nicht ohne Folgen; es ist mit großer Gefahr verbunden, sie ihm zu lassen. Wenn in ihrer Kindheit die kleine Sophie allein in das Kabinett ihrer Mutter kam, so kehrte sie aus demselben nie mit leeren Händen zurück, und in betreff von Konfekt und Bonbons ließ ihre Gewissenhaftigkeit manches zu wünschen übrig. Ihre Mutter ertappte sie, schalt sie aus, bestrafte sie, ließ sie fasten. Endlich gelangte sie dadurch zum Ziele, daß sie ihrem Töchterchen sagte, die Bonbons verdürben die Zähne und das viele Essen triebe den Leib auf. Dies fruchtete und Sophie besserte sich. Als sie heranwuchs, traten bei ihr andere Neigungen hervor und brachten sie von dieser niedrigen Sinnlichkeit zurück. Mit einem Schlage verliert das Laster der Feinschmeckerei seine Herrschaft über Männer wie Frauen, sobald das Herz sich zu regen beginnt. Sophie hat sich den ihrem Geschlecht eigenen Geschmack bewahrt. Sie liebt Milchspeisen und Süßigkeiten, Gebackenes und Zwischenspeisen, findet aber am Fleische wenig Behagen. Nie hat sie Wein oder geistige Getränke über die Lippen gebracht. Uebrigens ißt sie von allem nur sehr mäßig. Da ihr Geschlecht weniger mühselige Arbeiten zu verrichten hat als das unsrige, so braucht es für die verlorenen Kräfte auch einen geringeren Ersatz. In allem liebt sie das Gute und weiß es zu würdigen; doch weiß sie auch, ohne daß ihr eine solche Entbehrung schwer fällt, mit dem vorliebzunehmen, was nicht so gut ist.

Sophie hat einen fesselnden Geist, ohne daß er blendend wäre; er ist gediegen, ohne tief zu sein; kurz, sie hat einen Geist, von dem sich nichts sagen läßt, weil jeder an ihm nur dieselben Eigenschaften entdeckt, die er auch an seinem eigenen Geiste wahrnimmt. So gefällt denn ihr Geist stets denen, mit welchen sie sich unterredet, obgleich er nicht die reiche[407] Bildung verrät, welche nach unserer Vorstellung die richtige Geistespflege den Frauen verleihen muß. Denn ihr Geist verdankt seine Bildung nicht der Lektüre, sondern einzig und allein den Gesprächen mit Vater und Mutter, den eigenen Betrachtungen und Beobachtungen, die sie in dem kleinen Kreise der Welt angestellt hat, welchen zu sehen ihr bisher Gelegenheit geboten war. Sophie ist von Natur heiter, ja in ihrer Kindheit war sie sogar ausgelassen. Aber ihre Mutter hat sich bemüht, ihr leichtsinniges Wesen nach und nach zu dämpfen, damit nicht bald ein viel leicht zu plötzlich eintretender Wechsel sie über den Augenblick belehren möchte, welcher es zu gebieterischer Notwendigkeit gemacht hätte. Sie ist seitdem sehr sittsam und sogar noch vor der Zeit zurückhaltend geworden; und jetzt, wo dieser Zeitpunkt gekommen ist, fällt es ihr nun weit leichter, den bereits angenommenen Ton beizubehalten, als es ihr geworden wäre, ihn erst anzunehmen, ohne die Ursache dieses Wechsels durchblicken zu lassen. Es bietet einen anmutigen Anblick dar, wenn mitunter die alten Gewohnheiten in ihr wieder wach werden und sie sich der vollen Lebhaftigkeit ihrer Kindheit überläßt, dann sich plötzlich wieder besinnt, verstummt, die Augen niederschlägt und errötet. Es ist doch wohl in der Ordnung, daß die Grenzscheide zwischen beiden Lebensaltern ein wenig Anteil an jedem von beiden hat.

Sophie ist zu empfänglich für alle Eindrücke, um eine stets gleichmäßige Laune bewahren zu können, aber sie besitzt zu viel Herzensgüte, um andere darunter leiden zu lassen; ihr allein bereitet es manch trübe Stunde. Ein einziges verletzendes Wort reicht hin, ihr das Herz schwer zu machen, wenn sie ihre gedrückte Stimmung auch nicht zu erkennen gibt; sie wird suchen, sich der Gesellschaft zu entziehen, um sich ausweinen zu können. Der Vater oder die Mutter braucht sie aber unter ihrem Tränenstrome nur zu rufen und ein einziges Wort zu sagen, so wird[408] sie augenblicklich wieder erscheinen, um zu spielen und zu lachen, während sie geschickt die Augen trocknet und ihr Schluchzen zu unterdrücken sucht.

Nicht einmal von Eigensinn ist sie völlig frei. Wenn sie ihre Laune ein wenig auf die Spitze treibt, so artet dieselbe leicht in Trotz aus, und sie pflegt sich in solchen Augenblicken zu vergessen. Laßt ihr indes nur Zeit, sich zu besinnen, und ihr werdet euch überzeugen, daß die Art und Weise, ihr Unrecht wieder gutzumachen, ihr fast als ein Vorzug angerechnet werden muß. Erhält sie Strafe, so ist sie fügsam und unterwürfig, und man erkennt, daß sie sich weniger über die Strafe als über ihren Fehler schämt. Sagt man ihr nichts, so wird sie trotzdem niemals verabsäumen, ihr Versehen selbst zu verbessern, und noch dazu mit solcher Offenheit und so großer Anmut, daß es nicht möglich ist, ihr noch länger böse zu sein. In Gegenwart des niedrigsten Dieners würde sie den Boden küssen, ohne daß ihr diese Erniedrigung schwer würde, und sobald sie Verzeihung erhalten hat, legen ihre Freude und ihre Liebkosungen an den Tag, von welcher Last sich ihr gutes Herz befreit fühlt. Mit einem Worte, sie erträgt mit Geduld das ihr zugefügte Unrecht und macht ihre eigenen Versehen mit Freuden wieder gut. In solcher Weise äußert sich der liebenswürdige Charakter ihres Geschlechts, bevor wir ihn verdorben haben. Das Weib hat die Bestimmung, gegen den Mann nachgiebig zu sein und sogar seine Ungerechtigkeit zu ertragen. Dahin werdet ihr nie einen Knaben bringen; sein inneres Gefühl erhebt und empört sich gegen die Ungerechtigkeit. Die Natur hat ihn nicht dazu bestimmt, es zu ertragen:

Gravem

Pelidae stomachum cedere nescii.181

Sophie besitzt Religion, aber eine vernünftige und einfache Religion, die sich in wenige Glaubenssätze zusammenfassen[409] läßt und noch weniger Andachtsübungen verlangt; oder sie widmet vielmehr, da ihr die Pflege der Moral als die hauptsächliche Uebung erscheint, ihr ganzes Leben dem Dienste Gottes, indem sie sich nur Gutes zu tun bemüht. Aller Unterricht, den ihr ihre Eltern über diesen Punkt erteilten, zielte darauf hin, sie an eine achtungsvolle Unterwerfung zu gewöhnen, indem sie ihr beständig wiederholten: »Meine Tochter, diese Kenntnisse eignen sich nicht für dein Alter; dein Mann wird dich darüber belehren, sobald es an der Zeit sein wird.« Anstatt ihr übrigens lange Reden über die Frömmigkeit zu halten, lassen sie es dabei bewenden, sie ihr durch ihr eigenes Beispiel zu predigen, und dieses Beispiel ist ihr tief ins Herz gegraben.

Sophie liebt die Tugend; diese Liebe ist förmlich zur herrschenden Leidenschaft geworden. Sie liebt sie, weil es für sie nichts Schöneres als die Tugend gibt. Sie liebt sie, weil in der Tugend der Ruhm des Weibes besteht, und weil ihr eine tugendhafte Frau fast den Engeln gleich erscheint. Sie liebt sie als den einzigen Weg zum wahren Glücke, und weil ihr das Leben eines sittenlosen Weibes nur wie eine ununterbrochene Kette von Elend, Hilflosigkeit, Unglück, Schmach und Schande vorkommt. Sie liebt sie endlich noch um deswillen, weil dieselbe ihrem von ihr so hochgeachteten Vater und ihrer so zärtlichen und würdigen Mutter teuer ist. Nicht zufrieden damit, durch ihre eigene Tugend glücklich zu sein, wünschen die Eltern, es auch durch die ihrer Tochter zu werden, und das Hauptglück letzterer wurzelt wieder in der Hoffnung, zu dem Glücke der Eltern beitragen zu können. Alle diese Gefühle erfüllen sie mit einer Begeisterung, die ihre Seele erhebt und alle ihre kleinen Neigungen einer so edlen Leidenschaft unterordnet. Bis zu ihrem letzten Atemzuge wird Sophie keusch und züchtig sein; sie hat es sich im Grunde ihres Herzens zugeschworen, und hat es in einer Zeit geschworen, wo sie schon ein Bewußtsein davon hatte, wie schwierig es[410] ist, einen solchen Schwur zu halten; sie hat es sich zugeschworen, als sie sich gerade von einer solchen Verbindlichkeit hätte lossagen müssen, wäre ihre Sinnlichkeit danach angetan gewesen, die Herrschaft über sie zu gewinnen.

Sophie hat nicht das Glück, eine liebenswürdige Französin zu sein, die, kalt von Temperament und kokett aus Eitelkeit, mehr darauf ausgeht zu glänzen als zu gefallen, und mehr nach Zeitvertreib hascht als wahre Freude sucht. Nur das Bedürfnis zu lieben verzehrt sie; es drängt sich ihr auf und beunruhigt ihr Herz inmitten der Festlichkeiten. Ihr früherer Frohsinn ist von ihr gewichen; sie findet kein Vergnügen mehr an den ausgelassenen Spielen; statt von der Einsamkeit Langweile zu befürchten, sucht sie dieselbe auf. Ihre Gedanken weilen hier bei dem, der sie ihr dereinst versüßen soll. Alle, die ihr gleichgültig sind, belästigen sie. Sie sehnt sich nicht nach Anbetern, wohl aber nach einem Geliebten. Sie möchte lieber einem einzigen braven Manne gefallen und ihm immer gefallen, als in den Ruf einer Modedame kommen, die doch nur einen Tag glänzt, um schon am nächsten Tage dem Hohngelächter preisgegeben zu werden.

Das Urteil der Frauen entwickelt sich weit früher als das der Männer. Da sie sich fast von Kindesbeinen an beständig in Verteidigungszustande verhalten müssen, und ihnen ein so schwer zu bewahrendes Gut anvertraut ist, so muß ihnen das Gute und Böse notwendigerweise früher bekannt sein. Da sich Sophie infolge ihrer glücklichen Anlagen in jeder Beziehung zeitiger entwickelt hat, so hat sich auch ihr Urteil früher als bei anderen Mädchen ihres Alters ausgebildet. Hierin liegt durchaus nichts Außerordentliches; die Reife tritt nicht überall in derselben Zeit ein.

Sophie ist über die Pflichten und Rechte ihres wie unseres Geschlechtes belehrt. Sie kennt die Fehler der Männer und die Laster der Frauen; aber sie kennt auch ebensogut die entgegengesetzten Eigenschaften und Tugenden und hat sie ihrem Herzen tief eingeprägt. Man kann unmöglich[411] eine höhere Idee von einer sittsamen Frau haben, als die ist, welche sie sich gebildet hat, allein diese Idee vermag ihr keine Furcht einzuflößen. Natürlich weilen ihre Gedanken mit größerem Wohlgefallen bei einem Ehrenmanne, einem Manne von Verdienst. Sie ist es sich bewußt, daß sie für einen solchen Mann geschaffen und seiner würdig ist, ist es sich bewußt, daß sie ihm dasselbe Glück zu bereiten imstande ist, welches sie ihm verdanken wird. Sie fühlt es, daß sie ihn recht gut herausfinden wird, und daß es jetzt nur darauf ankommt, daß er sich zeige.

Die Frauen sind die natürlichen Richter über das Verdienst der Männer, wie letztere es wieder umgekehrt über das der Frauen sind. Das beruht auf einem gegenseitigen Recht, und beide Teile kennen es sehr wohl. Sophie ist mit diesem Rechte bekannt und macht von ihm Gebrauch, allein mit einer Bescheidenheit, wie sie ihrer Jugend, ihrer Unerfahrenheit und ihrer Stellung zukommt. Sie urteilt nur über solche Dinge, die ihre Fassungskraft nicht übersteigen, und auch dann nur, wenn es zur Entwicklung irgendeines nützlichen Grundsatzes dienen kann. Von Abwesenden, namentlich wenn es Frauen sind, spricht sie nur mit äußerster Behutsamkeit. Sie hält sich überzeugt, daß es Frauen zur Schmäh- und Spottsucht führt, wenn sie über ihr eigenes Geschlecht sprechen. Solange sie sich darauf beschränken, das unsrige zu ihrem Gesprächsthema, zu wählen, werden sie stets billig denkend sein. Sophie bleibt deshalb in diesen Schranken. Spricht sie jedoch einmal über Frauen, so geschieht es nur, um alles Gute zu sagen, was sie von ihnen weiß. Sie glaubt ihrem Geschlechte diese Ehre schuldig zu sein. Weiß sie jedoch nichts Gutes zu sagen, so beobachtet sie über solche Frauen ein vollkommenes Stillschweigen, und das ist verständlich genug.

Sophie besitzt wenig Weltkenntnis; allein sie ist höflich und aufmerksam und entfaltet bei allem, was sie tut, eine große Anmut. Ihr glückliches Naturell kommt ihr besser[412] zustatten als alle Kunst. Sie hat eine gewisse Feinheit an sich, die sich nicht aus Regeln herleiten läßt noch der Mode unterworfen ist, die mit der letzteren keinen Wechsel erleidet, noch alles dem leidigen Herkommen zuliebe tut, sondern ihre Quelle in dem wahren Verlangen, zu gefallen, hat, und deshalb auch wirklich gefällt. Alle triviale Höflichkeitsbezeigungen sind ihr fremd, und sie hat ebensowenig das Bestreben, gewähltere zu erfinden. Sie führt nie Redensarten im Munde, wie: »Ich bin Ihnen sehr verbunden«, »Sie erzeigen mir viel Ehre«, »Bemühen Sie sich nicht« usw. Eine Aufmerksamkeit, eine ihr erwiesene Höflichkeit erwidert sie mit einer Verneigung oder mit einem einfachen »Ich danke Ihnen«. Allein dies Wort, von einem solchen Munde gesprochen, wiegt wohl ein anderes auf. Für einen wirklichen Dienst läßt sie ihr Herz sprechen, und dieses ergeht sich nicht in Komplimenten. Nie hat sie sich durch das französische Herkommen verleiten lassen, das gezierte Wesen nachzuahmen, wie beim Gehen aus einem Zimmer in das andere ihre Hand auf den Arm eines Sechzigjährigen zu legen, dem sie am liebsten selbst als Stütze dienen möchte. Wenn ein süßlicher Geck so ungezogen ist, ihr diesen Dienst anzubieten, so läßt sie den dienstfertigen Herrn auf der Treppe und schwingt sich mit zwei Sätzen ins Zimmer, indem sie ihm zuruft, daß sie gottlob nicht hinke. Obgleich sie nicht groß ist, hat sie ihre Schuhe nie mit hohen Absätzen versehen lassen; ihre Füßchen sind in der Tat auch niedlich genug, daß sie sich ohne dieselben behelfen kann.

Nicht nur Frauen, sondern auch verheirateten oder älteren Männern gegenüber beobachtet sie Schweigen und Ehrerbietung. Nur aus Gehorsam wird sie einen Platz über denselben einnehmen und sich, sobald es tunlich ist, wieder unter sie setzen, denn sie weiß, daß die Rechte des Alters vor denen ihres Geschlechts den Vortritt behaupten, daß das Alter die Weisheit, welche vor allem Ehre verdient, für sich geltend machen kann.[413]

Bei jungen Leuten ihres Alters ist es freilich etwas anderes; ihnen gegenüber muß sie einen anderen Ton anschlagen, um ihnen Achtung abzugewinnen, und sie weiß ihn zu treffen, ohne das bescheidene Wesen aufzugeben, welches ihr im Verkehre mit denselben ziemt. Benehmen auch sie sich bescheiden und zurückhaltend, so wird sie ihnen gegenüber gern die liebenswürdige Vertraulichkeit der Jugend bewahren. Ihre unschuldsvollen Unterhaltungen werden sich bei allem Mutwillen stets in den Schranken des Anstands halten. Wenn sie einen ernsten Charakter annehmen, so verlangt sie, daß sie auch nützlich seien. Arten sie jedoch in fades Geschwätz aus, so wird sie diese bald abbrechen; denn sie verachtet namentlich die seichten Redensarten der Galanterie, die sie als tiefe Beleidigung ihres Geschlechts betrachtet. Sie ist sich dessen sehr wohl bewußt, daß sich der Mann, den sie sucht, solcher Redensarten nicht bedient, und nie wird sie leicht von einem anderen dulden, was mit dem Charakter desjenigen, dessen Bild sich ihrem Herzen tief eingeprägt hat, nicht in Einklang steht. Die hohe Meinung, die sie von den Rechten ihres Geschlechts hat, die Seelenhoheit, welche ihr die Reinheit ihrer Gesinnungen verleiht, die Tatkraft der Tugend, welche sich in ihr regt und sie mit der Gewißheit erfüllt, daß sie Achtung verdient, bewirken, daß sie nur mit Unwillen die süßlichen Reden anhört, mit denen man sie zu unterhalten bemüht ist. Sie nimmt sie nicht etwa mit anscheinendem Zorne auf, sondern mit jenem ironischen Beifall, der die Redner verwirrt, oder mit einem kalten Ton, auf den man am allerwenigsten gefaßt ist. Sollte ein schöner Phöbus seine Artigkeiten an sie verschwenden, sollte er geistreicherweise ihren Geist, ihre Schönheit, ihre Anmut, das unschätzbare Glück, ihr zu gefallen, herausstreichen, so ist sie ganz das Mädchen dazu, ihn zu unterbrechen und höflich zu ihm zu sagen: »Mein Herr, das sind Dinge, die mir besser bekannt sind als Ihnen. Wenn wir einander nichts Merkwürdigeres[414] mitzuteilen haben, so glaube ich, daß wir hiermit unsere Unterhaltung schließen können.« Diese Worte mit einer tiefen Verneigung begleiten und sich sofort zwanzig Schritte entfernt befinden, ist für sie nur das Werk eines Augenblicks. Fragt nur eure galanten Herren, ob es eine so leichte Sache ist, längere Zeit mit seinem Geschwätze vor einem solchen Widerspruchsgeiste zu prunken.

Das heißt aber noch gar nicht, daß sie sich etwa aus fremdem Lobe nichts mache, wenn dasselbe nur aufrichtig gemeint ist, und sie annehmen kann, daß man wirklich so gut von ihr denkt, als man ihr sagt. Wer es durchblicken lassen will, daß ihre Vorzüge Eindruck auf ihn gemacht haben, muß erst selbst Vorzüge aufweisen können. Eine auf Achtung gegründete Huldigung vermag ihrem stolzen Herzen zu schmeicheln, aber jede nur artige Spöttelei wirkt abstoßend auf sie. Sophie ist nicht dazu geschaffen, sich zum Uebungsstoff für die kleinen Talente eines Tropfes herzugeben.

Bei einer so großen Reife des Urteils und bei einer Entwicklung, wie man sie in jeder Hinsicht nur bei einem zwanzigjährigen Mädchen erwarten kann, wird sie schon in einem Alter von fünfzehn Jahren von ihren Eltern nicht mehr als Kind behandelt werden. Kaum bemerken sie aus den ersten Zeichen, daß sich bei ihr jene Unruhe der Jugend eingestellt hat, so werden sie sich beeilen, dieselbe, ehe sie noch weiter um sich zu greifen imstande ist, aufzuheben. Sie werden liebevolle und verständige Gespräche mit ihr anknüpfen. Solche liebevollen und verständigen Gespräche sind gerade für ihr Alter und ihren Charakter recht geeignet. Ist ihr Charakter so, wie ich ihn mir eben vorstelle, weshalb sollte dann nicht ihr Vater ungefähr folgendermaßen zu ihr sagen dürfen: »Sophie, du bist jetzt ein erwachsenes Mädchen; man wird es aber nicht, um immer ein Mädchen zu bleiben. Wir wünschen, daß du glücklich wirst, wünschen es um unsertwillen, da unser Glück auf dem deinigen beruht.[415] Das Glück eines rechtschaffenen Mädchens besteht darin, das Glück eines rechtschaffenen Mannes zu begründen. Wir müssen deshalb daran denken, dich zu vermählen; wir müssen frühzeitig daran denken, denn von der Ehe hängt das Lebensschicksal ab, und man hat nie zuviel Zeit, daran zu denken.

Nichts ist schwieriger als die Wahl eines guten Gatten, wenn es nicht etwa die einer guten Gattin ist. Du, Sophie, wirst solch ein seltenes Weib sein, du wirst den Ruhm unseres Lebens und das Glück unserer alten Tage ausmachen. Aber mit welchen Vorzügen du auch ausgestattet sein magst, so wird es auf Erden trotzdem nicht an Männern fehlen, die noch mehr Vorzüge als du besitzen. Es gib keinen, der sich durch deinen Besitz nicht geehrt fühlen würde, es gibt aber viele, deren Hand dir noch zu größerer Ehre gereichen würde. Nun kommt es darauf an, aus dieser Zahl einen herauszufinden, der dir gefällt, ihn kennen zu lernen und dich wiederum mit ihm bekannt zu machen.

Das höchste eheliche Glück hängt von so vielen Rücksichten und Verhältnissen ab, daß es eine Torheit wäre, sie alle vereint sehen zu wollen. Es ist nun zunächst nötig, sich der wichtigsten zu vergewissern; finden sich dann noch die anderen dazu, so zieht man den größtmöglichen Nutzen aus ihnen, sind sie jedoch nicht vorhanden, nun, so setzt man sich darüber hinweg. Auf Erden gibt es einmal kein vollkommenes Glück. Allein das größte Unglück und zugleich dasjenige, dem man immer aus dem Wege gehen kann, ist, sich durch eigene Schuld unglücklich machen.

Es gibt Verhältnisse, die von der Natur bestimmt sind, dann solche, die auf menschlichen Einrichtungen beruhen, und endlich solche, die sich allein auf die allgemeine Meinung zurückführen lassen. Ueber die beiden letzteren Gattungen steht den Eltern, über die erste den Kindern die Entscheidung zu. Bei den Ehen, die nach dem Willen der Väter geschlossen werden, richtet man sein Augenmerk nur[416] auf die von den menschlichen Einrichtungen und Meinungen ausgehenden Verhältnisse. Den Hauptgegenstand bei der Ehe bildet dann nicht die Person, sondern die Verhältnisse und das Vermögen derselben. Doch in beiden kann eine Veränderung eintreten; nur die Personen bleiben immer; überall tragen sie sich mit hin. Dem Vermögen zum Trotz beruht das Glück oder Unglück einer Ehe nur auf den persönlichen Eigenschaften.

Deine Mutter war vornehmem Stande, ich war reich. Dies waren die einzigen Rücksichten, von welchen sich unsere Eltern bei unserer Vereinigung leiten ließen. Ich habe mein Vermögen verloren, sie hat ihren Namen aufgeben müssen. Was hilft es ihr heute, wo sie von ihrer Familie vergessen ist, als Edelfräulein geboren zu sein? Die Vereinigung unserer Herzen hat uns jedoch in unserem Unglück aber alles getröstet. Die Uebereinstimmung unserer Neigungen hat uns diese Abgeschiedenheit wählen lassen. Hier leben wir in unserer Armut glücklich; wir finden ineinander für alles Ersatz. Du, Sophie, bist unser gemeinsamer Schatz; wir preisen den Himmel, daß er uns in dir einen Schatz gegeben und uns alles übrige genommen hat. Sieh, mein Kind, wohin die Vorsehung uns geleitet: die Verhältnisse, welche die Veranlassung zum Abschluß unserer Ehe gaben, sind verschwunden; unser Glück ist nur durch die begründet worden, welche man gar nicht in Anschlag brachte.

Es ist die Aufgabe derer, welche in den Ehestand treten wollen, sich einen passenden Lebensgefährten zu wählen. Gegenseitige Neigung muß das erste Band sein, welches sie verknüpft. Ihrer Augen, ihrer Herzen müssen sie sich als ihrer ersten Führer bedienen; denn da, sobald sie sich vereinigt haben, ihre höchste Pflicht darin besteht, einander zu lieben, und da es nicht von unserer Willkür abhängt, und zu lieben oder nicht zu lieben, so zieht diese Pflicht notwendig die andere nach sich, daß man sich schon vor der Vereinigung liebt. Das ist ein unumstößliches Naturrecht.[417]

Diejenigen, welche es durch so viele bürgerliche Gesetze eingeschränkt haben, richteten ihren Augenmerk mehr auf eine scheinbare Ordnung als auf das Eheglück und die Sittlichkeit der Bürger. Du siehst, Sophie, daß wir dir keine schwer zu erfüllende Moral predigen. Sie zielt nur darauf ab, dich zur Herrin deiner selbst zu machen, und es uns zu ermöglichen, die Wahl deines Gatten allein in deine Hand zu legen.

Nachdem ich dir nun unsere Gründe auseinandergesetzt habe, weshalb wir dir volle Freiheit lassen wollen, ist es auch in der Ordnung, daß ich dich auf diejenigen aufmerksam mache, von denen du dich leiten lassen mußt, um von dieser Freiheit einen weisen Gebrauch zu machen. Du bist, liebe Tochter, gut und vernünftig, zeichnest dich durch Redlichkeit und Frömmigkeit aus, besitzest die Talente, welche sittsamen Frauen geziemen, und es fehlt dir nicht an Anmut. Allein du bist arm. Obwohl du die schätzenswertesten Güter dein eigen nennen kannst, gehen dir doch gerade diejenigen ab, welche man am höchsten schätzt. Strebe deshalb nur nach dem Erreichbaren und richte die Ziele deines Ehrgeizes nicht etwa nach deinen oder unseren Urteilen, sondern nach der Meinung der Menschen. Wenn es sich hierbei nur um eine Gleichheit der Vorzüge handelte, so wüßte ich nicht, wozu ich deinen Hoffnungen Schranken setzen sollte. Erhebe sie indes nicht über deine Vermögensverhältnisse und vergiß nicht, daß dich diese auf die unterste Stufe verweisen. Sollte ein Mann, der deiner würdig ist, diese Ungleichheit nicht als ein Hindernis betrachten, so mußt du alsdann tun, was er nicht tun wird. Dann mußt du, Sophie, dem Beispiele deiner Mutter folgen und nur in eine Familie hineinheiraten, welche sich dadurch geehrt fühlt. Du bist niemals Zeuge unseres Reichtums gewesen, da du erst während unserer Armut geboren bist. Du versüßest sie uns und teilst sie ohne Kummer. Schenke meinen Worten Glauben, Sophie, hasche nicht nach Gütern,[418] für deren Verlust wir den Himmel, der sie uns genommen hat, aufrichtig preisen; erst nachdem wir unseren Reichtum verloren hatten, ist das Glück bei uns eingekehrt.

Du bist zu liebenswürdig, um niemandem zu gefallen, und deine Dürftigkeit ist nicht derart, daß sie einem Ehrenmann Hindernisse in den Weg legen könnte. Du wirst gesucht werden und vielleicht von Leuten, die deiner nicht wert sind. Würden sie sich dir so zeigen, wie sie in Wirklichkeit sind, so würdest du sie nach ihrem Werte schätzen; all ihr äußerer Prunk würde dich nicht lange täuschen. Obgleich du indes ein richtiges Urteil hast und dich auf wahres Verdienst verstehst, so fehlt es dir doch an Erfahrung, und du weißt nicht, in wie hohem Grade sich die Menschen zu verstellen vermögen. Ein gewandter Schurke kann, um dich zu bezaubern, deine Neigungen studieren und in deiner Gegenwart Tugenden heucheln, die er durchaus nicht besitzt. Ehe du dich dessen versähest, würde er dich verderben, Sophie, und du würdest deinen Irrtum nur erkennen, um ihn zu beweinen. Der gefährlichste aller Fallstricke und der einzige, dem die Vernunft nicht zu entgehen vermag, ist der der Sinnlichkeit. Solltest du je das Unglück haben, eine Beute derselben zu werden, so würdest du dich nur von Illusionen und Täuschungen umringt sehen, dein Auge würde geblendet, dein Urteil getrübt, dein Wille irregeleitet werden, ja sogar dein Irrtum würde dir teuer sein, und wenn du endlich imstande wärest, ihn einzusehen, würdest du nicht mehr umkehren wollen. Meine Tochter, ich überlasse dich deiner Vernunft, aber nicht dem Triebe deines Herzens. Solange dein Blut noch nicht in Wallung geraten ist, bleibe dein eigener Richter; sobald sich aber die Liebe in dir regt, laß deine Mutter die Sorge für dich übernehmen.

Ich schlage dir eine Uebereinkunft vor, die dir unsere Achtung beweisen und die natürliche Ordnung unter uns wiederherstellen soll. Es ist bei uns üblich, daß die Eltern[419] den Gatten für ihre Tochter wählen und letztere nur zum Scheine fragen. Wir wollen unter uns das umgekehrte Verfahren beobachten; du sollst wählen und uns nachher fragen. Benutze also dein Recht, Sophie, benutze es ungehindert und verständig. Der Gatte, der dir gefallen soll, muß von dir und nicht von uns gewählt werden. Uns kommt jedoch das Urteil zu, ob du dich nicht über die Verhältnisse täuschest, und ob du nicht unwissentlich etwas anderes tust, als du beabsichtigst. Geburt, Vermögen, Rang, öffentliche Meinung sollen auf unser Urteil keinen Einfluß ausüben. Nimm dir einen rechtschaffenen Mann, dessen Persönlichkeit dir gefällt und dessen Charakter mit dem deinigen übereinstimmt; wer er im übrigen auch sein mag, wir werden ihn als unseren Schwiegersohn anerkennen. Hat er gesunde Arme, reine Sitten und Liebe zu seiner Familie, so wird sein Vermögen stets ausreichend sein. Adelt er seinen Stand durch Tugend, so wird es demselben in unseren Augen nicht an Glanz fehlen. Und wenn die ganze Welt uns tadeln sollte, was kann uns daran gelegen sein? Wir jagen nicht nach dem öffentlichen Beifall, uns genügt dein Glück.«

Leser, ich weiß nicht, welche Wirkung eine solche Ansprache auf die nach eurer Weise erzogenen Mädchen ausüben würde. Was Sophie anlangt, so wird sie in Worten keine Erwiderung darauf finden können; Scham und Rührung würden es ihr nicht so leicht gestatten, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Allein ich bin vollkommen überzeugt, daß diese Worte ihr ganzes Leben lang in ihrem Herzen haften werden, und daß, wenn man sich auf einen menschlichen Vorsatz verlassen kann, es ihr Entschluß ist, sich der Achtung ihrer Eltern würdig zu machen.

Selbst den schlimmsten Fall angenommen, daß sie ein feuriges Temperament besitzt, welches ihr ein langes Harren peinlich macht, so behaupte ich trotzdem, daß ihr Urteil, ihre Kenntnisse, ihr Geschmack, ihr Zartgefühl und namentlich[420] die Gefühle, mit denen ihr Herz seit ihrer Kindheit genährt ist, ein Gegengewicht gegen das Ungestüm ihrer Sinnlichkeit bilden werden, welches ausreichende Kraft besitzt, sie zu besiegen oder ihr doch wenigstens lange Zeit zu widerstehen. Sie würde lieber als Märtyrerin ihres Zustandes sterben, als ihre Eltern durch ihre Vermählung mit einem Manne ohne Verdienst zu betrüben und sich dem Unglück einer unpassenden Ehe auszusetzen. Sogar die ihr eingeräumte Freiheit verleiht ihr einen höheren Seelenadel und macht sie bei der Bestimmung ihres künftigen Gebieters wählerischer. Neben dem Feuer einer Italienerin und der Empfindsamkeit einer Engländerin besitzt sie, um Herz und Sinne zu bezähmen, den Stolz einer Spanierin, die selbst bei der Umschau nach einem Geliebten nicht leicht den findet, welchen sie ihrer für würdig hält.

Freilich vermag nicht jeder zu fühlen, welche Spannkraft die Liebe zum Sittsamen der Seele zu geben imstande ist, und welche Stärke man in sich finden kann, wenn man aufrichtig tugendhaft sein will. Es gibt Leute, welchen alles Große wie ein Traumbild vorkommt, und welche mit ihrem niedern und gemeinen Verstande nie einsehen können, was selbst eine bis zur Ueberspanntheit getriebene Tugend noch über die menschlichen Leidenschaften vermag. Solchen Leuten gegenüber darf man nur in Beispielen reden. Desto schlimmer für sie, wenn sie eigensinnigerweise auch diese in Abrede stellen wollen. Wenn ich ihnen sagte, daß Sophie keineswegs ein Wesen meiner Einbildung ist, daß nur ihr Name auf meiner Erfindung beruht, daß dagegen ihre Erziehung, ihre Sitten, ihr Charakter, ja selbst ihre Gestalt in vollem Ernste existiert haben, und daß ihr Gedächtnis noch heutigestags einer rechtschaffenen Familie Tränen kostet, so würden sie mir ohne Zweifel keinen Glauben schenken. Welche Gefahr kann ich aber schließlich dabei laufen, wenn ich offen und ehrlich die Geschichte eines Mädchens zu Ende erzähle, welches Sophie so ähnlich sah, daß seine Geschichte[421] ebensogut die Sophiens sein könnte, ohne daß uns dies wundernehmen dürfte? Möge man sie für wahr halten oder nicht, das tut wenig zur Sache. Ich werde dann, wenn man einmal so will, Erdichtungen berichtet, aber dabei zugleich meine Methode erklärt haben und gerade auf mein Ziel losgegangen sein.

Das junge Mädchen besaß außer dem Temperamente, welches ich Sophie soeben beilegte, auch im übrigen alle die nämlichen Eigenschaften, welche es dieses Namens würdig erscheinen lassen konnten, weshalb ich ihm denselben auch geben werde. Nach der berichteten Unterredung schickten die Eltern in der richtigen Erwägung, daß sich in dem Dörfchen, in welchem sie ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatten, keine passende Partie darbieten würde, Sophie nach der Stadt, um einen Winter bei einer Tante zuzubringen, welche man heimlich über den Zweck dieser Reise in Kenntnis setzte, denn die hochherzige Sophie trug im Grunde ihres Herzens den edlen Stolz, sich selbst zu bezwingen, und wie sehr sie sich auch nach einem Gatten sehnte, so würde sie doch lieber als Jungfrau gestorben sein, als daß sie sich entschlossen hätte, sich selbst nach einem umzusehen.

Um den Absichten ihrer Eltern zu entsprechen, stellte ihre Tante sie in bekannten Familien vor, führte sie in die Gesellschaft ein, nahm mit ihr an Festlichkeiten teil, zeigte ihr die Welt oder zeigte vielmehr sie der Welt, denn Sophie kümmerte sich um all dieses geräuschvolle Treiben äußerst wenig. Jedoch konnte man wahrnehmen, daß sie junge Männer von gefälligem Aeußern, deren Benehmen zugleich Anstand und Sittsamkeit verriet, nicht floh. Gerade in ihrem zurückhaltenden Wesen lag eine gewisse Kunst, dieselben an sich zu ziehen, die fast einen Anstrich von Koketterie hatte. Nachdem sie sich jedoch zwei- oder dreimal mit ihnen unterhalten, bewies sie ihnen gegenüber einer Art Abneigung. Bald vertauschte sie dieses anspruchsvolle Wesen, welches die Huldigungen gleichsam herauszufordern scheint,[422] mit einem demütigeren Benehmen und mit einer mehr zurückweisenden Höflichkeit. Fortwährend auf sich selbst aufmerksam, gab sie ihnen keine Gelegenheit mehr, ihr auch nur den geringsten Dienst zu erweisen. Darin lag deutlich genug für sie ausgedrückt, daß sie nicht Lust hätte, ihre Geliebte zu sein.

Nie haben gefühlvolle Herzen an lärmenden Vergnügungen Gefallen gefunden, an diesem eitlen und unfruchtbaren Glücke solcher Menschen, denen es an Gefühl fehlt und welche sich einbilden, sein Leben betäuben heiße es genießen. Als Sophie nicht fand, was sie suchte, und daran verzweifelte, es auf diesem Wege zu finden, langweilte sie sich in der Stadt. Sie liebte ihre Eltern zärtlich, und da sie nichts für die Trennung von ihnen zu entschädigen vermochte, da nichts imstande war, ihr Bild aus ihrer Erinnerung auszulöschen, so kehrte sie lange vor dem zu ihrer Rückkehr bestimmten Zeitpunkte zu ihnen zurück.

Kaum hatte sie ihre Obliegenheiten im väterlichen Hause wieder aufgenommen, als man bemerkte, daß sich, obwohl sie noch immer dasselbe Benehmen beobachtete, ihre Laune geändert hatte. Bald zeigte sie sich zerstreut und ungeduldig, bald war sie traurig und träumerisch, ja, sie verbarg sich auch wohl, um zu weinen. Man gab sich anfangs dem Glauben hin, sie liebe und schäme sich dessen. Als man jedoch mit ihr darüber sprach, stellte sie es vollständig in Abrede. Sie beteuerte, niemanden gesehen zu haben, der imstande gewesen wäre, Eindruck auf ihr Herz zu machen, und Sophie war keiner Lüge fähig.

Inzwischen nahm ihre Mattigkeit unaufhörlich zu, so daß ihre Gesundheit darunter zu leiden begann. Ihre Mutter, über diese Veränderung beunruhigt, entschloß sich endlich, nach der Ursache zu forschen. Sie sprach mit ihr unter vier Augen und schlug ihr gegenüber jenen gewinnenden Ton an, behandelte sie mit jener unwiderstehlichen Zärtlichkeit, welche nur Mutterliebe einzugeben vermag.[423]

»Liebe Tochter, du, die du unter meinem Herzen geruht hast und mir unablässig im Herzen liegst, schütte das Geheimnis des deinigen in den Busen deiner Mutter aus. Was wären das für Geheimnisse, die eine Mutter nicht wissen dürfte? Wer wird deinen Kummer beweinen, wer wird ihn mit dir teilen, wer wird ihn dir tragen helfen, wenn nicht Vater und Mutter? Ach, mein Kind, willst du, daß mich dein Kummer in die Grube bringt, ohne daß ich ihn erfahre?«

Weit davon entfernt, ihrer Mutter ihren Kummer verhehlen zu wollen, kannte sie vielmehr keinen höheren Wunsch, als in ihr eine Trösterin und Vertraute zu finden. Indes hielt die Scham sie vom Reden ab, und ihr Zartgefühl fand keine Worte, um einen ihrer so wenig würdigen Zustand, wie die Aufregung, welche ihre Sinne ihr zum Trotz beunruhigte, zu beschreiben. Kurz, ihre Scham selbst diente der Mutter als Anzeichen, und so gelang es denn, ihr jenes demütigende Geständnis zu entreißen. Statt sie durch ungerechte Vorwürfe zu kränken, tröstete sie Sophie, beklagte sie und weinte mit ihr. Sie war zu verständig, ihr ein Uebel, welches doch nur infolge ihrer Tugend so schmerzlich auftrat, als Verbrechen anzurechnen. Weshalb aber unnötigerweise ein Uebel tragen, für welches es ein so leichtes und erlaubtes Heilmittel gibt? Weshalb machte sie keinen Gebrauch von der Freiheit, welche man ihr eingeräumt hatte? Weshalb nahm sie keinen Bewerber als Gatten an? Weshalb wählte sie keinen? War es ihr denn nicht bekannt, daß ihr Schicksal nur von ihr allein abhing, und daß ihre Wahl, wie sie auch immer ausfallen mochte, genehmigt worden wäre, da sie nur eine passende treffen konnte? In der Stadt, nach welcher man sie geschickt, hatte sie nicht bleiben wollen. Mehrere Partien hatten sich ihr dargeboten, aber sie hatte sie alle ausgeschlagen. Worauf wartete sie also? Was wollte sie eigentlich? Welch unlösbarer Widerspruch?[424]

Die Antwort war einfach. Hätte es sich nur um einen Nothelfer für die Jugend gehandelt, so wäre die Wahl bald getroffen worden; aber es ist gar nicht so leicht, sich einen Herrn für das ganze Leben zu wäh len, und da sich diese beiden Wahlen nun einmal nicht voneinander trennen lassen, so muß man wohl warten und oft seine Jugend verlieren, ehe man den Mann findet, an dessen Seite man seine Lebenstage zubringen will. In dieser Lage befand sich Sophie. Sie bedurfte eines Geliebten, aber dieser Geliebte sollte gleichzeitig ihr Gatte sein, und in Hinblick auf das Herz, welches das ihrige allein zu befriedigen vermochte, war der eine fast ebenso schwer zu finden als der andere. Alle jene so blühenden Jünglinge hatten nur das für sie passende Alter, alle übrigen Eigenschaften aber, welche sie hätten als eine passende Partie erscheinen lassen können, fehlten ihnen. Ihr oberflächlicher Geist, ihre Eitelkeit, ihre Ausdrucksweise, ihre lockeren Sitten, ihre leichtfertigen Nachäffereien flößten ihr Widerwillen gegen dieselben ein. Sie suchte einen Mann und fand nur Affen; sie suchte ein Herz und fand keins.

»Wie unglücklich bin ich!« sagte sie zu ihrer Mutter; »es ist für mich ein Bedürfnis, zu lieben, und ich sehe nichts, was mir gefällt. Mein Herz stößt mich von allen zurück, zu welchen mich meine Sinne hinziehen. Ich sehe nicht einen, der nicht mein sinnliches Verlangen erregt, und nicht einen, der es nicht bald wieder unterdrückt. Eine Neigung, die sich nicht auf Achtung gründet, kann keinen Bestand haben. Ach, unter ihnen befindet sich nicht der Mann, den deine Sophie braucht! Sein reizendes Bild schwebt mir schon lange vor der Seele. Nur ihn kann ich lieben, nur ihn kann ich glücklich machen, nur mit ihm allein kann ich glücklich werden. Lieber will ich mich im unaufhörlichen Kampfe verzehren, lieber will ich unglücklich und unvermählt sterben, als voller Verzweiflung an der Seite eines Mannes, welchen ich nicht zu lieben vermöchte[425] und nur unglücklich machen würde. Besser ist es, nicht mehr zu leben, als nur zu leben, um zu leiden.«

Ueber diese eigentümlichen Anschauungen betroffen, fand sie ihre Mutter zu sonderbar, um nicht dahinter ein Geheimnis zu vermuten. Sophie war weder geziert noch lächerlich. Wie ließ sich nun dieses überspannte Zartgefühl bei ihr erklären, bei ihr, die man von Kindheit an zu nichts so sehr angehalten hatte als dazu, sich in die Leute zu schicken, mit welchen sie zu leben hatte, und aus der Not eine Tugend zu machen? Dies Musterbild eines liebenswürdigen Mannes, von welchem sie so bezaubert war, und welches in allen ihren Unterhaltungen immer wieder auftauchte, brachte ihre Mutter auf die Vermutung, daß diese Laune irgendeinen anderen ihr unbekannten Grund haben mußte, und daß Sophiens Bekenntnis nicht vollständig gewesen war. Die Aermste, ihrem geheimen Kummer fast unterliegend, trachtete nur danach, ihr Herz auszuschütten. Als die Mutter in sie dringt, zaudert sie zwar anfangs, aber endlich ergibt sie sich, geht, ohne ein Wort zu sagen, hinaus und kehrt einen Augenblick später mit einem Buch in der Hand zurück. »Beklage deine unglückliche Tochter; ihr Schmerz ist unheilbar, ihre Tränen können nicht versiegen. Du verlangst die Ursache zu erfahren. Nun wohl, da ist sie!« Mit diesen Worten wirft sie ein Buch auf den Tisch. Die Mutter nimmt es und schlägt es auf: es waren »Telemachs Abenteuer«. Anfangs vermochte sie dieses Rätsel nicht zu lösen. Aus einigen Fragen und sehr dunkel gehaltenen Antworten merkt sie endlich zu ihrem leicht begreiflichen Erstaunen, daß ihre Tochter die Nebenbuhlerin der Eucharis ist.

Sophie liebte Telemach und liebte ihn noch dazu mit unheilbarer Leidenschaft. Als ihr Vater und ihre Mutter ihre wunderliche Neigung erfuhren, lachten sie darüber und glaubten sie wieder zur Vernunft bringen zu können. Sie irrten sich jedoch. Das Recht stand nicht ganz auf ihrer[426] Seite; Sophie hatte ebenfalls recht und verstand das ihrige zur Geltung zu bringen. Wie oft vermochten ihr die Eltern nichts zu erwidern, wenn sie sich auf deren eigene Gründe berief und ihnen bewies, daß sie selber die Schuld an all diesem Unheil trügen, weil sie sie nicht für einen Mann ihres Jahrhunderts erzogen hätten; wenn sie ihnen den Nachweis führte, daß sie notwendig die Denkweise ihres Gatten annehmen oder ihn zu der ihrigen würde bekehren müssen, daß ihr die Eltern ersteres durch die Art ihrer Erziehung unmöglich gemacht hätten, letzteres aber genau das wäre, wonach sie strebte. »Gebt mir«, sagte sie, »einen Mann, welcher von meinen Grundsätzen durchdrungen ist, oder den ich für dieselben erwärmen kann, und ich werde ihn heiraten. Weshalb wollt ihr mir aber bis dahin böse sein? Bedauert mich. Obgleich ich unglücklich bin, so bin ich deswegen doch noch keine Närrin. Hängt das Herz vom Willen ab? Hast du, lieber Vater, dies nicht selbst geleugnet? Ist es meine Schuld, wenn ich etwas liebe, was nicht vorhanden ist? Ich bin keine Phantastin; ich will keinen Fürsten, suche keinen Telemach. Ich weiß, daß er nur ein Gebild der Dichtung ist. Allein ich suche jemand, der ihm gleicht. Und weshalb sollte es einen solchen Mann nicht geben, da ich doch im Dasein bin, ich, die ich es deutlich fühle, daß mein Herz dem seinigen so ähnlich ist? Nein, laßt uns die Menschheit nicht in so hohem Grade entehren, laßt uns nicht dem Wahne huldigen, daß ein liebenswürdiger und tugendhafter Mann nur der Traumwelt angehöre! Er existiert, er lebt, er sucht mich vielleicht, sucht eine Seele, die er lieben kann. Aber wer ist er? Wo ist er? Ich weiß es nicht. In dem Kreise derer, welche ich gesehen habe, ist er nicht zu finden; ohne Zweifel wird er auch unter denen nicht sein, die mir noch vor Augen kommen werden. O, meine Mutter, weshalb hast du mich mit solcher Liebe zur Tugend erfüllt? Wenn ich nur sie zu lieben vermag, dann ist mein Unrecht geringer als das eurige.«[427] Soll ich etwa diese traurige Erzählung bis zur Katastrophe fortführen? Soll ich die langen Zwistigkeiten mitteilen, welche ihr vorausgingen? Soll ich schildern, wie die Mutter die Geduld verliert und sich ihre frühere freundliche Begegnung der Tochter in Strenge verkehrt? Soll ich beschreiben, wie der Vater allmählich in Zorn gerät, seine früheren Versprechen vergißt und die tugendhafteste aller Töchter wie eine Ueberspannte behandelt? Soll ich euch endlich eine Schilderung der Unglücklichen selbst entwerfen, die sich um der Verfolgung willen, welcher sie sich ihres Traumbildes wegen ausgesetzt sieht, nur um so inniger der Liebe zu demselben überläßt, während sie langsamen Schrittes dem Tode entgegengeht und in dem Augenblicke in das Grab sinkt, in welchem man sie vor den Altar zu schleppen beabsichtigt? Nein, ich will dieses traurige Bild nicht weiter ausmalen. Ich brauche nicht so weit zu gehen, um an einem, meinem Dafürhalten nach, hinreichend schlagenden Beispiele nachzuweisen, daß trotz der Vorurteile, welche ein Ausflug der Sitten unseres Jahrhunderts sind, die Frauen von der Begeisterung für das Sittliche und Schöne nicht weniger ergriffen werden als die Männer, und daß es nichts gibt, was man unter der Leitung der Natur von ihnen ebensogut erlangen könne als von uns Männern.

Man wird mich hier vielleicht unterbrechen, um mir die Frage vorzulegen, ob es denn die Natur ist, welche uns befiehlt, so viele Mühe anzuwenden, um ein übermäßiges sinnliches Verlangen zu unterdrücken. Ich sage hierauf: Nein, behaupte aber zugleich, daß es ebensowenig die Natur ist, welche uns ein so übermäßiges Verlangen einpflanzt. Alles, was nicht in ihr wurzelt, läuft ihr zuwider; ich habe dies tausendmal bewiesen.

Laßt uns nun zu unseres Emils Sophie zurückkehren. Beschäftigen wir uns von neuem mit diesem liebenswürdigen Mädchen, um zu sehen, daß sie eine weniger lebhafte[428] Einbildungskraft besitzt, und daß ein glücklicheres Los ihrer wartet. Ich beabsichtigte eine gewöhnliche Frau zu schildern, aber indem ich ihrer Seele einen größeren Adel verlieh, habe ich ihre Vernunft verwirrt. Ich selbst habe einen Irrtum begangen. Laßt uns wieder einlenken. Sophie hat nur ein gutes Gemüt in einer gewöhnlichen Seele. Alles, was sie vor anderen Frauen voraus hat, ist das Ergebnis ihrer Erziehung.


* * *


Ich habe mir die Aufgabe gestellt, in diesem Buch alles zu sagen, was überhaupt ausführbar ist, indem ich es dem freien Ermessen eines jeden überlasse, unter dem dargebotenen Guten sich das herauszuwählen, was sich für ihn am meisten eignet. Schon von Anfang an hatte ich mein Augenmerk darauf gerichtet, frühzeitig Emils Gefährtin heranzubilden und sie füreinander und miteinander zu erziehen. Allein nach reiflicherer Ueberlegung bin ich zu der Einsicht gelangt, daß alle dergleichen allzu frühzeitigen Maßregeln unzweckmäßig sind, und daß es töricht ist, zwei Kinder zur Vereinigung miteinander zu bestimmen, bevor sich erkennen läßt, ob diese Vereinigung mit der Ordnung der Natur in Einklang steht, und ob ihre gegenseitigen Verhältnisse der Schließung eines solchen Bundes günstig sind. Man darf nicht verwechseln, was im wilden Zustande natürlich ist, und was im Zutand unserer bürgerlichen Gesellschaft. Im ersten Zustande paßt jede Frau für jeden Mann, weil sich beide Teile noch das ursprüngliche gemeinsame Wesen erhalten haben. Im zweiten jedoch, wo die Entwicklung jedes Charakters unter der Einwirkung der sozialen Einrichtungen vor sich geht, und jeder Geist nicht nur infolge der Erziehung, sondern auch vermittels eines gut oder schlecht geleiteten Zusammentreffens der natürlichen Begabung mit der Erziehung seine eigentümliche und bestimmte Form erhalten hat, kann man erst dann daran[429] denken, sie zu vereinigen, wenn man sie miteinander bekannt gemacht hat, um sich zu überzeugen, ob sie auch in jeder Hinsicht füreinander passen, oder um wenigstens diejenige Wahl treffen zu können, welche in den meisten Punkten passend erscheint.

Ein Uebelstand ist es nun, daß der gesellschaftliche Zustand bei der Entwicklung der Charaktere auf die Rangunterschiede Rücksicht nimmt, und daß man, da jene beiden Zustände einander so unähnlich sind, auf die Charaktere um so verderblicher einwirkt, je größere Unterschiede man in die Verhältnisse hineinträgt. Davon schreiben sich die unpassenden Ehen und die daraus hervorgehende Sittenlosigkeit her. Hieraus kann man die klare Folgerung ziehen, daß sich die natürlichen Gefühle um so mehr abstumpfen, je mehr man sich von der Gleichheit entfernt. Je mehr sich die Kluft zwischen Hohen und Niedrigen erweitert, desto mehr lockert sich das eheliche Band. Je mehr Reiche und Arme es gibt, desto weniger Väter und Gatten gibt es. Weder Herr noch Sklave haben eine Familie mehr, jeder von beiden hat nur seinen eigenen Stand im Auge.

Wollt ihr diesem Uebelstand abhelfen und dazu beitragen, daß die Ehen glücklich werden, so erstickt die Vorurteile, vergeßt die menschlichen Einrichtungen und fragt die Natur um Rat. Vereinigt nicht Leute, die nur in bezug auf Rang und Stellung zueinander passen, die aber in keiner Hinsicht mehr zueinander passen, sobald ihre gesellschaftliche Stellung eine Aenderung erleidet. Verbindet vielmehr solche Personen miteinander, die sich in jeglicher Lebenslage, in jedem Lande, in welchem sie ihren Wohnsitz aufschlagen mögen, in jeder gesellschaftlichen Stellung, in die sie eintreten mögen, in gegenseitiger Liebe zueinander hingezogen fühlen. Ich behaupte keineswegs, daß die konventionellen Verhältnisse für die Ehe gleichgültig sind, aber so viel behaupte ich, daß der Einfluß der natürlichen Verhältnisse sie in so hohem Grade überwiegt, daß er allein[430] über das Geschick des Lebens entscheidet, und daß es eine Uebereinstimmung der Neigungen, Temperamente, Gefühle und Charaktere gibt, welche einen verständigen Vater, und möge er Prinz oder Monarch sein, bestimmen müßte, seinem Sohn ohne Schwanken das Mädchen zu geben, mit welchem er in allen diesen Punkten harmonierte, und wenn der Vater desselben auch eine unehrliche Hantierung betriebe, wenn er selbst der Henker wäre. Ja, ich behaupte, daß zwei Gatten, deren Vereinigung nach diesen Gesichtspunkten stattfand, selbst dann, wenn sie allem erdenkbaren Unglück ausgesetzt wären, in ihrer gemeinsamen Trauer ein wahrhafteres Glück genießen würden, als wenn sie sich im Besitze aller Güter der Erde befänden, während ihre Herzen dabei durch Zwietracht vergiftet wären.

Statt also für meinen Emil schon von Kindheit an eine Gattin zu bestimmen, habe ich so lange gewartet, bis ich die kennen lernte, welche sich für ihn eignet. Diese Bestimmung geht also nicht von mir, sondern von der Natur aus. Meine Aufgabe besteht nur darin, die Wahl zu finden, die sie getroffen hat. Meine Aufgabe, wiederhole ich noch einmal, nicht die des Vaters; denn als er mir seinen Sohn anvertraute, hat er mich in seine Stelle, in seine Rechte treten lassen. Ich bin im wahren Sinn Emils Vater, da ich ihn erst zum Menschen gemacht habe. Ich würde es abgelehnt haben, seine Erziehung zu übernehmen, wenn man mir nicht das Recht eingeräumt hätte, ihn nach seiner eigenen, das heißt nach meiner Wahl, verheiraten zu können. Nur die Freude, das Glück eines Menschen zu begründen, vermag uns für die Mühe zu entschädigen, die wir haben anwenden müssen, um ihn in den Stand zu setzen, es zu werden.

Glaubt aber ebensowenig, daß ich etwa so lange gezögert habe, eine Gemahlin für Emil zu finden, bis ich ihn aufforderte, sie zu suchen. Dies vorgebliche Suchen dient nur als Vorwand, um ihm Gelegenheit zu verschaffen, die[431] Frauen kennen zu lernen, damit er den Wert derjenigen, die sich für ihn eignet, empfinden kann. Sophie ist längst gefunden; vielleicht hat Emil sie bereits gesehen, aber er wird sie erst wieder erkennen, wenn es an der Zeit ist.

Obwohl die Gleichheit des Standes für die Ehe nicht unumgänglich erforderlich ist, so verleiht sie doch, wenn die übrigen Verhältnisse angemessen sind, diesen einen neuen Wert. Während sie hinter allen übrigen zurückstehen muß, neigt sie doch die Wagschale zu ihren eigenen Gunsten, sobald alles übrige gleich ist.

Ein Mann kann, wofern er nicht Monarch ist, sich seine Gattin nicht aus jedem Stande wählen; denn die Vorurteile, von denen er sich frei zu halten gewußt hat, wird er doch bei den anderen vorfinden. So wäre es leicht möglich, daß manches Mädchen für ihn passen würde, welches er deshalb doch nicht erhielte. Es gibt also Grundsätze der Klugheit, welche einem vernünftigen Vater bei seiner Wahl die richtigen Schranken bezeichnen müssen. Er darf nicht darauf ausgehen, sein Kind über seinen Stand zu verheiraten, denn das steht nicht in seinem Belieben. Und wenn es ihm möglich wäre, so sollte er es nicht einmal wollen; denn was kümmert sich ein junger Mann, wenigstens der meinige, wohl um den Rang? Und wenn er sich trotzdem über seinen Stand erhebt, so sieht er sich tausend wirklichen Uebeln ausgesetzt, welche sich ihm zeitlebens fühlbar machen werden. Ich sage sogar, daß er nicht einmal die Absicht hegen darf, Güter verschiedener Natur, wie Adel und Geld, als Ausgleichungsmittel zu benutzen, weil jedes von beiden den Wert des anderen weit weniger erhöht, als es von ihm Einbuße erleidet. Ich behaupte ferner, daß man bei einer gemeinsamen Schätzung nie einig werden wird, und endlich, daß der höhere Wert, den jeder dem Gute, das er einsetzt, beilegt, Unfrieden zwischen zwei Familien und so oft sogar zwischen zwei Eheleuten stiftet.[432]

In bezug auf die ehelichen Verhältnisse macht es einen großen Unterschied aus, ob der Mann über oder unter seinen Stand heiratet. Der erste Fall widerstreitet durchaus der Vernunft, der zweite läßt sich eher mit ihr in Einklang bringen. Da die Familie nur durch ihr Haupt eine Stelle in der Gesellschaft behauptet, so richtet sich die Stellung der ganzen Familie nach der des Familienhauptes. Nimmt der Mann sich ein Weib aus niederem Stande, so steigt er damit nicht herab, sondern hebt seine Gattin zu dem seinigen empor. Wählt er sich dagegen seine Lebensgefährtin aus einem höheren Stande, so zieht er sie herab, ohne sich zu erhöhen. Demnach wird ihm im ersteren Fall ein Vorteil zuteil, ohne daß er gleichzeitig einen Nachteil erleidet, während ihm der zweite Fall nur Nachteil ohne einen denselben wieder aufwiegenden Vorteil bringt. Ferner liegt es in der Ordnung der Natur, daß die Frau dem Manne gehorche. Heiratet er also in einen niedrigeren Stand hinein, so sind die natürliche und bürgerliche Ordnung in voller Uebereinstimmung, und alles geht gut. Dagegen stehen sie im offenen Widerspruche zueinander, wenn er eine Frau aus höherem Stande heimführt und sich dadurch in die Alternative versetzt sieht, entweder sein Recht zu beeinträchtigen oder gegen die Dankbarkeit zu verstoßen, sich undankbar oder verächtlich zu zeigen. Die Frau, welche dann Autorität beansprucht, wirft sich zum Tyrannen ihres Gebieters auf, und der zum Sklaven erniedrigte Herr muß sich für das lächerlichste und elendste aller Geschöpfe halten. So geht es den unglücklichen Günstlingen, welche die asiatischen Könige mit ihrer Verbindung beehren und peinigen, und die, wie das Gerücht geht, wenn sie bei ihren Frauen schlafen wollen, nur am Fußende das Bett besteigen dürfen.

Ich bin darauf gefaßt, daß viele Leser, die sich noch lebhaft erinnern, daß ich dem Weibe ein natürliches Talent, den Mann zu beherrschen, beigemessen habe, mich hier des Widerspruchs beschuldigen werden. Indes befinden sie sich[433] im Irrtum. Es liegt doch wohl ein großer Unterschied zwischen der unbefugten Anmaßung der Herrschaft und der Leitung dessen, der befiehlt. Die Herrschaft der Frau ist eine Herrschaft der Sanftmut, der Gewandtheit und Gefälligkeit. Ihre Befehle bestehen in ihren Liebkosungen, ihre Drohungen in ihren Tränen. Sie soll im Hause wie ein Minister im Staate herrschen, indem sie sich das auftragen läßt, was sie zu tun gedenkt. In diesem Sinne kann es als eine ausgemachte Tatsache gelten, daß die besten Haushaltungen diejenigen sind, in welchen die Frau am meisten Autorität besitzt. Allein wenn sie die Stimme ihres Herrn nicht kennen will, wenn sie darauf ausgeht, sich seine Rechte gewaltsam anzueignen, und selbst zu befehlen gedenkt, so ist die Folge dieser Verkehrung der natürlichen Ordnung nur Elend, Aergernis und Schande.

So bleibt denn einem Manne nur die Wahl zwischen seinesgleichen und den unter ihm Stehenden übrig, wiewohl ich glaube, daß hinsichtlich der letzteren noch eine gewisse Einschränkung gemacht werden muß, denn es ist schwierig, aus der Hefe des Volkes eine Gattin zu finden, die geeignet ist, das Glück eines rechtschaffenen Mannes zu begründen; nicht etwa deshalb, weil man in den niedrigeren Ständen einen lasterhafteren Lebenswandel als in den höheren führte, sondern weil in ihnen die Idee des Schönen und Sittsamen nicht so ausgebildet ist, und weil die Ungerechtigkeit der höheren Stände sogar ihre Laster den niedrigeren im Lichte des Rechten zeigt.

Von Natur ist der Mensch nicht zum Denken geneigt. Denken ist eine Kunst, die er wie alle übrigen Künste, ja sogar noch schwieriger als diese, erlernt. Ich kenne in Ansehung beider Geschlechter nur zwei wirklich voneinander abweichende Klassen: eine denkende und eine nicht denkende, und dieser Unterschied rührt fast einzig und allein von der Erziehung her. Ein Mann, der der ersten dieser beiden Klassen angehört, darf unter keinen Umständen in die zweite[434] hineinheiraten, denn der größte Reiz des geselligen Verkehrs fehlt ihm im Umgang mit seiner Frau, wenn seine Wahl so ausgefallen ist, daß er sich genötigt sieht, allein zu denken. Leute, welche ihr ganzes Leben hindurch vollauf mit der Arbeit für das tägliche Brot beschäftigt sind, haben keinen anderen Gedanken als den an ihre Arbeit und ihren Vorteil, und ihr ganzer Geist scheint in ihren Armen aufgegangen zu sein. Die Unwissenheit schadet weder ihrer Rechtschaffenheit noch ihrer Sittlichkeit, sondern ist ihnen häufig sogar förderlich. Oft findet man sich durch Nachdenken über seine Pflichten mit denselben ab und setzt am Ende Redensarten an Stelle der Sache selbst. Das Gewissen ist der helldenkendste aller Philosophen. Man braucht nicht erst Ciceros Abhandlung über die Pflichten zu kennen, um ein rechtschaffener Mensch zu sein, und die sittsamste Frau von der Welt weiß vielleicht am wenigsten, was Sittsamkeit ist. Indes beruht es deshalb nicht weniger auf Wahrheit, daß allein ein gebildeter Geist den Umgang angenehm macht; und es läßt sich für einen Familienvater, der sich in seiner Häuslichkeit am wohlsten fühlt, nichts Betrübenderes denken, als wenn er sich daheim auf sich selbst beschränkt sieht und sich niemandem verständlich machen kann.

Wie soll außerdem eine Frau, die nicht an Denken gewöhnt ist, imstande sein, ihre Kinder zu erziehen? Wie soll sie erkennen, was ihnen frommt? Wie soll sie ihnen Liebe zu Tugenden einflößen, die sie selbst nicht kennt, Liebe zu Vorzügen, von denen sie keine Vorstellung hat? Sie wird keine anderen Erziehungsmittel als Liebkosungen oder Drohungen anwenden können, wird sie entweder unverschämt oder furchtsam machen. Sie wird sie zu Zieraffen oder wilden Rangen, nie aber zu verständigen und liebenswürdigen Kindern erziehen.

Es taugt deshalb für einen gebildeten Mann nicht, sich ein ungebildetes Weib zu nehmen und folglich auch nicht,[435] in einen Stand hineinzuheiraten, in dem man keine Bildung haben kann. Allein hundertmal lieber würde ich ein Mädchen von einfacher und gewöhnlicher Erziehung nehmen als eine Gelehrte und einen Schöngeist, die in meinem Hause einen literarischen Gerichtshof errichten und sich zur Präsidentin desselben aufwerfen würde. Ein weiblicher Schöngeist ist die Geißel ihres Gatten, ihrer Kinder, ihrer Freunde, ihrer Diener, ja aller Welt. Bei dem hohen Fluge, zu dem sich ihr genialer Geist erhebt, erscheinen ihr die Pflichten, die sie als Weib zu verrichten hat, verächtlich, und sie läßt es deshalb ihr erstes sein, nach Art des Fräuleins von Lenclos den Mann zu spielen. Außerhalb ihres Hauses benimmt sie sich stets lächerlich und wird deshalb mit vollem Rechte hart beurteilt, weil beides nicht ausbleiben kann, wenn man aus seinem Stande heraustritt und für den, welchen man einzunehmen sucht, nicht geschaffen ist. Alle diese Frauen von hohen Talenten können nur für Toren ein Gegenstand der Bewunderung sein. Man kennt stets den Künstler oder Freund, der bei ihren Arbeiten die Feder oder den Pinsel führt, kennt den verschwiegenen Gelehrten, der ihnen ihre Orakelsprüche im geheimen diktiert. All dieses scharlatanartige Wesen ist einer rechtschaffenen Frau unwürdig. Schon die Geltendmachung wirklicher Talente würde erniedrigend für sie sein. Ihre Würde besteht darin, daß ihr Name nicht im Munde der Leute ist, ihr Ruhm liegt in der Achtung ihres Gatten, ihre Freuden haben im Glücke ihrer Familie ihre Quelle. Leser, ich berufe mich auf dich selbst: sei aufrichtig. Was flößt dir beim Eintritt in das Zimmer einer Frau eine bessere Meinung von ihr ein, was veranlaßt dich, ihr mit höherer Achtung zu nahen: wenn du sie mit den Arbeiten ihres Geschlechts, mit allerlei Wirtschaftssorgen beschäftigt und von den Kleidungsstücken ihrer Kin der umringt siehst, oder wenn du sie Verse drechselnd an ihrem Putztische antriffst, umgeben von allerlei Flugschriften und Blättchen, die mit allen möglichen[436] Farben bemalt sind? Jedes überstudierte Mädchen bekommt, wenn es einmal nur vernünftige Männer auf Erden geben wird, nie einen Mann.

Quaeris, cur nolim te ducere, Galla? Diserta es.182

(Du fragst, Galla, weshalb ich dich nicht heiraten mag? Du bist gelehrt.)

Nach diesen Erwägungen verdient zunächst die äußere Gestalt Berücksichtigung. Sie ist das erste, was das Auge auf sich lenkt, und das letzte, was Beachtung verdient, obgleich sie immerhin in Anschlag zu bringen ist. Große Schönheit ist in der Ehe meiner Ansicht nach eher ein Uebelstand als wünschenswert. Sie verliert infolge des Besitzes gar schnell an Wert; nach Verlauf von sechs Wochen hat sie in den Augen des Besitzers keinen Reiz mehr, aber ihre Gefahren dauern, solange sie besteht. Ist eine schöne Frau nicht zugleich ein Engel, so ist ihr Gatte der unglücklichste der Männer; und wäre sie wirklich ein Engel, wie wollte sie es verhindern, daß er nicht unaufhörlich von Feinden umlagert wäre? Wenn ein Uebermaß von Häßlichkeit nicht Widerwillen erregte, so würde ich sie einem Uebermaß von Schönheit vorziehen, denn in kurzer Zeit existiert weder die eine noch die andere für den Ehemann, da sich für ihn die Schönheit in eine Unannehmlichkeit, die Häßlichkeit aber in einen Vorteil verwandelt. Aber freilich ist eine Häßlichkeit, die abstoßend wirkt, ein großes Unglück; statt daß sich das Gefühl des Widerwillens, welches sie einflößt, vermindern sollte, steigert es sich fortwährend und geht endlich in Haß über. Eine solche Ehe wird zur Hölle; lieber tot als so verheiratet sein!

Strebt in allem, selbst die Schönheit nicht ausgenommen, nach der Mittelstraße! Eine gefällige und einnehmende Gestalt, welche nicht Liebe, wohl aber Zuneigung einflößt, verdient unstreitig den Vorzug. Sie ist ohne Nachteil für[437] den Mann, und der Vorteil kommt beiden Gatten zugute. Die Anmut verliert nicht so schnell ihren Wert wie die Schönheit, sie besitzt Lebenskraft, sie erneuert sich unaufhörlich, und nach einer dreißigjährigen Ehe gefällt eine rechtschaffene Frau voller Anmut ihrem Manne noch ebenso wie am ersten Tage.

Das sind die Erwägungen, welche mich für die Wahl Sophiens bestimmt haben. Gleich Emil ein echtes Kind der Natur, ist sie für ihn mehr als jede andere geschaffen. Sie wird die wahre Frau eines wahren Mannes sein. Nach Geburt und Verdienst ist sie ihm ebenbürtig, nach dem Vermögen aber steht sie unter ihm. Sie bezaubert nicht auf den ersten Blick, gefällt aber von Tag zu Tage mehr. Ihr größter Reiz wirkt erst nach und nach; er entfaltet sich nur in der Vertraulichkeit des Umgangs, und ihr Gatte wird ihn mehr als irgendein anderer empfinden. Ihre Erziehung ist weder glänzend noch vernachlässigt. Sophie hat Geschmack ohne große Gelehrsamkeit, Talente ohne künstlerische Ausbildung derselben, Urteil ohne Kenntnisse. Ihr Geist besitzt nicht hohes Wissen, vermag aber alles Wissenswerte in sich aufzunehmen. Er ist ein gut zubereitetes Erdreich, welches nur des Samenkornes harrt, um reiche Frucht zu bringen. Außer dem Rechenbuche von Barrème und dem Telemach, welcher ihr zufällig in die Hände fiel, hat sie nie ein Buch gelesen. Allein kann sie wohl als ein Mädchen, das imstande war, sich für Telemach zu begeistern, ein Herz ohne Empfindung und einen Geist ohne Zartgefühl haben? O, liebenswürdige Unwissende, glücklich, wem das Los zuteil wird, dich zu unterrichten! Sie wird nicht die Lehrerin ihres Mannes, sondern seine Schülerin sein. Weit davon entfernt, ihn ihren Neigungen unterwerfen zu wollen, wird sie vielmehr die seinigen annehmen. Dadurch wird sie sich ihm teuer machen, als wenn sie Gelehrsamkeit besäße. Er wird die Freude haben, sie in allem zu unterrichten. Es ist nun endlich an der[438] Zeit, daß sie einander kennen lernen; wir wollen deshalb Sorge tragen, sie einander zu nähern. –

Traurig und träumerisch scheiden wir von Paris. Diese Stätte des ewigen Geschwätzes vermag uns nicht zu fesseln. Verächtlich blickt Emil auf die große Stadt zurück und sagt unwillig: »Wie viele Tage in vergeblichem Suchen verloren! Ach, hier ist es nicht, wo die Frau nach meinem Herzen weilt! Sie wissen es gar wohl, teurer Freund, doch ist Ihnen an meiner Zeit nichts gelegen, und an meinen Leiden nehmen Sie wenig Anteil.« Ich sehe ihn scharf an und sage zu ihm, ohne Aufregung zu verraten: »Emil, glaubst du wirklich, was du da sagst?« Sofort fällt er mir voller Verwirrung um den Hals und drückt mich lautlos in seine Arme. Das ist stets seine Antwort, wenn er unrecht hat.

So ziehen wir denn als echte fahrende Ritter durchs Land; nicht etwa insofern, daß wir wie jene auf Abenteuer ausgehen, vor denen wir vielmehr durch unsere Abreise von Paris die Flucht ergreifen, sondern in der Weise, daß wir ihre Irrfahrten nachahmen, uns an keine Regel bindend, bald mit verhängten Zügeln dahinsprengend, bald langsam einherschlendernd. Wer die Art und Weise, die ich einzuschlagen pflege, beobachtet hat, wird den Geist meiner Methode wohl endlich begriffen haben, und ich setze außerdem voraus, daß keiner meiner Leser in so hohem Grade von der jetzigen Sitte eingenommen sein wird, um uns zutrauen zu können, daß wir beide im bequemen und festverschlossenen Postwagen schnarchend auf der staubigen Landstraße daherrollen werden, ohne uns umzusehen und zu beobachten, indem wir den Zwischenraum vom Ort unserer Abreise bis zu dem der Ankunft gleichsam überspringen und trotz der Geschwindigkeit unserer Fahrt doch nur Zeit verlieren, während wir uns einbilden, Zeit zu ersparen.

Man hört fortwährend die Behauptung, das Leben sei kurz, und demgegenüber mache ich die auffallende Bemerkung,[439] daß sich die Menschen geradezu anstrengen, es erst recht kurz zu machen. Da sie die Zeit nicht auszukaufen verstehen, beklagen sie sich über den eiligen Flug derselben, und trotzdem sehe ich, daß sie ihre Ansicht nach zu langsam dahinfließt. Ausschließlich mit dem Ziele beschäftigt, nach welchem sie streben, schauen sie mit Bedauern auf den Zwischenraum, der sie von demselben trennt. Der eine wünscht, es möchte erst morgen sein, ein anderer, es möchte ein Monat, wieder ein anderer, es möchten zehn Jahre verflossen sein. Niemand will für heute leben, niemand ist mit der Minute, in der er lebt, zufrieden, allen scheint sie zu langsam dahinzuschleichen. Wenn sie sich beklagen, daß die Zeit zu schnell dahineile, so sprechen sie eine Lüge aus. Sie möchten gern alles dahingeben, wenn sie dafür die Fähigkeit erlangen könnten, den Lauf der Zeit zu beschleunigen. Sie würden gern ihr Vermögen daran setzen, wenn sie ihr ganzes Leben in dieser Weise sprungweise verzehren könnten, und es würde vielleicht keinen einzigen geben, der seine Lebensjahre nicht auf wenige Stunden abgekürzt hätte, wenn er die Macht besessen, diejenigen zu entfernen, welche ihm Langeweile erregten oder ihn bei seiner Ungeduld auch nur von dem ersehnten Augenblicke trennten. So vergeudet mancher fast die Hälfte seines Lebens nur damit, daß er unaufhörlich von Paris nach Versailles, von Versailles nach Paris, von der Stadt auf das Land, vom Lande in die Stadt und von einem Viertel in das andere zieht, welcher wegen seiner Zeit sehr in Verlegenheit geraten würde, wenn er nicht das Geheimnis kennte, sie in der geschilderten Weise zu verlieren, und der sich nur deshalb von seinen Geschäften entfernt, um sich damit beschäftigen zu können, sie zu suchen. Er glaubt die Zeit, welche er jetzt mehr darauf verwendet, und mit der er sonst doch nichts anzufangen wüßte, als Gewinn betrachten zu können; oder er eilt wohl gar auch nur, um zu eilen, und kommt plötzlich mit der Post in keiner anderen Absicht angefahren, als um[440] gleich wieder mit ihr zurückzukehren. Sterbliche, werdet ihr denn nie aufhören, die Natur zu lästern? Weshalb wollt ihr euch beklagen, daß das Leben so kurz ist, da es eurer Ansicht nach noch nicht kurz genug ist? Wenn ein einziger unter euch ist, welcher seine Begierden in dem Grade zu mäßigen versteht, daß er nie den Wunsch hegt, die Zeit möge verfließen, dann wird sie ihm auch nie zu kurz vorkommen. Leben und Genießen werden für ihn identische Begriffe sein, und selbst, wenn er im frühen Alter stürbe, wird er mit Befriedigung über den Verlauf seiner Lebenstage seine Augen schließen.183

Wenn mir meine Methode auch nur diesen einen Vorteil bringen würde, so müßte ich sie schon deshalb einer jeden anderen vorziehen. Ich habe meinen Emil nicht zum Wünschen und Erwarten, sondern zum Genießen erzogen. Auch da, wo seine Wünsche über die Gegenwart hinausschweifen, geschieht es doch nicht mit einer so leidenschaftlichen Hitze, daß ihm der scheinbar so träge Verlauf der Zeit unerträglich würde. Er wird nicht allein die Freude genießen, Wünsche zu hegen, sondern wird auch zugleich einen Genuß darin finden, der Erfüllung derselben entgegenzugehen. Außerdem sind seine Leidenschaften so gemäßigt, daß er mit seinen Gedanken stets mehr da weilen wird, wo er ist, als wo er künftig sein wird.

Wir reisen also nicht mit Extrapost, sondern wie einfache Wanderer. Wir denken nicht allein an die beiden Endpunkte unserer Reise, sondern auch an den Weg, der zwischen ihnen liegt. Die Reise selbst gewährt uns Genuß; sitzen wir doch nicht mißgestimmt und wie eingepfercht in einem kleinen festverschlossenen Käfig, noch reisen wir mit der Weichlichkeit und Ruhe der Frauen. Wir sperren uns[441] nicht gegen die freie Luft ab, noch berauben wir uns des Anblicks der uns umringenden Gegenstände, noch lassen wir uns um die Gelegenheit bringen, sie nach Herzenslust und so oft es uns gefällt in Augenschein zu nehmen. Emil wird seinen Fuß nie in einen Postwagen setzen, nie mit der Post fahren, wenn nicht die größte Eile nötig ist. Aber was könnte Emil wohl je zur Eile bestimmen? Nur ein Einziges, der Lebensgenuß. Soll ich etwa noch hinzufügen Gutes zu tun, wenn sich ihm die Möglichkeit darbietet? Nein, denn darin liegt ja eben der Lebensgenuß.184

Ich kann mir nur eine Art zu reisen vorstellen, die noch angenehmer als das Reisen zu Pferde ist, nämlich das Reisen zu Fuß. Man bricht nach Belieben auf, rastet, wenn es einem behagt, und macht größere oder kleinere Tagesreisen, je nach Lust und Laune. Man betrachtet die ganze Gegend; wendet sich bald zur Rechten, bald zur Linken, untersucht alles, was einen ergötzt, und macht an allen Aussichtspunkten halt. Sehe ich einen Fluß, so wandere ich sein Ufer entlang; bemerke ich einen Laubwald, so suche ich seinen Schatten; gewahre ich eine Grotte, so lenke ich meine Schritte nach ihr; stoße ich auf einen Steinbruch, so untersuche ich sein Gestein. Ueberall, wo es mir gefällt, weile ich. In demselben Augenblicke, wo ich mich zu langweilen beginne, setzte ich meinen Wanderstab weiter. Ich bin weder von den Pferden noch vom Postillon abhängig. Ich brauche mich des halb nicht an die fahrbaren Straßen und bequemen Wege zu binden. Ich komme überall hin, wohin sich ein Mensch den Weg zu bahnen vermag, ich sehe alles, was ein Mensch sehen kann, und da ich lediglich von[442] mir abhängig bin, so genieße ich alle Freiheit, die irgendein Mensch nur genießen kann. Hält mich schlechtes Wetter auf und bemächtigt sich meiner Langeweile, so nehme ich Pferde. Uebernimmt mich Müdigkeit... Aber Emil ermüdet nicht so leicht, er ist kräftig; und weshalb sollte er auch ermüden, da er es nie so eilig hat? Wenn er unterwegs haltmacht, wie könnte er dann Langeweile empfinden? Die Gegenstände seiner Unterhaltung trägt er beständig bei sich. Er sucht einen Meister auf und arbeitet; er setzt seine Arme in Bewegung, um seinen Füßen Ruhe zu gewähren.

Zu Fuß reisen heißt reisen wie Thales, Plato und Pythagoras. Es ist mir schwer faßlich, wie sich ein Philosoph entschließen kann, anders zu reisen und sich selbst um die Gelegenheit zu bringen, die Reichtümer zu erforschen, über welche sein Fuß dahinschreitet und welche die Natur in verschwenderischer Fülle vor seinen Blicken ausbreitet. Wer, der nur ein wenig Gefallen am Landbau findet, hätte nicht Lust, die Erzeugnisse, welche dem Klima der durchwanderten Gegenden eigentümlich sind, sowie die Art ihrer Kultur kennen zu lernen? Wer kann, wenn er auch nur im geringen Grade ein Freund der Naturgeschichte ist, sich wohl entschließen, über ein Erdreich hinzuschreiten, ohne es einer Untersuchung zu unterziehen, einen Felsen zu erklettern, ohne ein Stück davon abzuschlagen, Gebirge zu durchwandern, ohne Pflanzen zu sammeln, mit dem Fuß an Kiesel zu stoßen, ohne nach Fossilien zu suchen? Eure Philosophen, welche sich vor den Damen mit ihren naturwissenschaftlichen Kenntnissen brüsten, haben dieselben in Naturalienkabinetten eingesammelt; sie wissen allerlei Firlefanzereien, sind mit den Namen bekannt, haben aber keinen Begriff von der Natur. Emils Kabinett ist dagegen weit reicher ausgestattet als die umfangreichsten königlichen Sammlungen, denn sein Kabinett umfaßt die ganze Erde. Jedes Ding befindet sich hier an seinem rechten Platze. Der Naturkenner, der diesem Kabinett seine Sorge widmet, hat alles[443] in die schönste Ordnung gebracht. Daubenton185 würde es nicht besser machen können.

Wie mannigfaltige Vergnügen vereint man doch bei dieser angenehmen Art zu reisen, ganz abgesehen davon, daß die Gesundheit dadurch gekräftigt und die Laune heiterer wird. Ich habe stets die Beobachtung gemacht, daß die Reisenden, welche sich bequemer weicher Wagen bedienen, träumerisch, übelgelaunt, mürrisch oder leidend aussehen, während die Fußgänger beständig heiter, guter Dinge und mit allem zu frieden sind. Wie lacht das Herz, wenn man sich der Nachtherberge naht! Wie schmackhaft erscheint das einfachste Mahl! Mit welchem Behagen gönnt man seinen Gliedern bei Tische die verdiente Ruhe! Wie sanft schläft es sich auch in schlechtem Bette! Wer nur darauf ausgeht, sein Ziel zu erreichen, mag immerhin mit der Post fahren, wer aber reisen will, der muß zu Fuß gehen.

Wenn Sophie nicht, noch ehe wir fünfzig Stunden weit auf diese Weise gewandert sind, vergessen ist, so fehlt es mir entweder an Geschicklichkeit, oder Emil besitzt nur äußerst geringe Wißbegierde, denn bei seinen vielen Elementarkenntnissen müßte es eigentümlich zugehen, wenn er sich nicht versucht fühlen sollte, sich deren noch mehr zu erwerben. Man ist nur in dem Maße wißbegierig, als man Kenntnisse besitzt, und er weiß gerade genug, um Lust zum Lernen zu haben.

So werden wir denn rastlos von diesem zu jenem geführt, und gelangen mittlerweile immer weiter. Ich habe uns für unseren ersten Ausflug ein weites Ziel gesteckt. Der Vorwand dazu liegt auf der Hand. Da wir Paris verlassen, müssen wir ein Weib in der Ferne suchen.

Eines Tages sind wir mehr als gewöhnlich in den Tälern und auf den Bergen, wo kein Pfad mehr zu entdecken war, umhergeirrt und können den Rückweg nicht wiederfinden. Das hat indes wenig zu sagen, denn auch[444] jeder andere Weg ist uns recht, wenn er nur zum Ziele führt. Wenn sich aber der Hunger meldet, muß man irgendwo unterzukommen suchen. Glücklicherweise treffen wir einen Bauer, der uns in seine Hütte führt. Mit großem Appetit greifen wir bei dem dürftigen Mahle zu. Als er gewahrt, daß wir so ermattet und hungrig sind, sagt er zu uns: »Wenn der liebe Gott Ihre Schritte nach der anderen Seite des Hügels gelenkt hätte, würden Sie eine bessere Aufnahme gefunden haben. Sie würden in ein Haus des Friedens getreten sein, würden so menschenfreundliche... so liebe Leute kennen gelernt haben... Sie haben zwar kein besseres Herz als ich, sind aber reicher, obgleich verlautet, daß sie früher in noch weit größerem Wohlstande gelebt haben... Nun, sie haben, Gott sei Dank, nicht mit Entbehrungen zu kämpfen, und lassen die ganze Gegend an dem, was ihnen geblieben ist, teilnehmen.«

Bei dieser Erzählung von den guten Leuten wird Emils Herz freudig erregt. »Mein Freund,« beginnt er, indem er mich anblickt, »lassen Sie uns das Haus aufsuchen, dessen Besitzer von der Nachbarschaft gesegnet werden. Ich würde mich sehr freuen, sie kennen zu lernen; vielleicht wird es ihnen ebenfalls Freude bereiten, unsere Bekanntschaft zu machen. Ich halte mich überzeugt, daß sie uns freundlich aufnehmen werden. Gehören sie zu den Unsrigen, so werden wir auch die Ihrigen sein.«

Nachdem uns die Lage des Hauses beschrieben war, machen wir uns auf den Weg und irren im Walde umher. Unterwegs überrascht uns ein heftiger Regenguß. Er hält uns zwar auf, vermag uns aber von unserem Vorhaben nicht zurückzubringen. Endlich finden wir uns wieder zurecht und gelangen, als schon der Abend einbricht, bei dem beschriebenen Hause an. Unter den Gebäuden des Dörfchens, in welchem es liegt, ist es das einzige, das sich bei aller Einfachheit durch ein gewisses stattliches Aeußere auszeichnet. Wir nennen unsere Namen und bitten um gastfreundliche[445] Aufnahme. Man führt uns zum Hausherrn. Er fragt uns aus, aber in höflichster Form. Ohne ihm den Zweck unserer Reise zu verraten, teilen wir ihm doch die Ursache unseres Umwegs mit. Aus der Zeit seines früheren Wohlstandes hat er sich die Sicherheit des Blicks bewahrt, aus dem Benehmen der Menschen ihren Stand zu erkennen. Wer einmal in der großen Welt gelebt hat, täuscht sich hierin selten. Unser Aeußeres muß ihm wohl empfehlenswert erscheinen, und so wird uns denn der Eintritt gestattet.

Man weist uns ein zwar sehr kleines, aber äußerst sauberes und günstig gelegenes Zimmer an; es wird eingeheizt, wir finden Leinenzeug und frische Wäsche, kurz alles, was uns not tut. »Wie,« sagt Emil ganz erstaunt, »sollte man nicht glauben, daß wir erwartet wären? O, wie recht hatte jener Bauer! Welche Zuvorkommenheit, welche Güte, welche Fürsorge! Und noch dazu für Unbekannte. Mir ist's, als wäre ich in die Zeiten Homers versetzt.« – »Erkenne es dankbar an,« erwidere ich ihm, »wundere dich aber deshalb nicht. Ueberall sind Fremde willkommen, wo sie eine seltene Erscheinung sind. Je weniger Gelegenheit sich darbietet, Gastfreundschaft zu üben, desto gastfreier wird man. Der Zulauf der Gäste zerstört die Gastfreundschaft. Zu den Zeiten Homers reiste man nicht viel, und die Reisenden fanden deshalb überall eine freundliche Aufnahme. Wir sind vielleicht die einzigen Fremden, die sich seit Jahr und Tag hier haben blicken lassen.« – »Das tut nichts zur Sache,« versetzte er, »es ist sogar ein Lob, die Gäste entbehren zu können, und sie trotzdem stets freundlich aufzunehmen.«

Nachdem wir unsere Kleider getrocknet und einigermaßen in Ordnung gebracht haben, begeben wir uns wieder zu dem Herrn des Hauses. Er stellt uns seiner Gattin vor; sie empfängt uns nicht allein mit Höflichkeit, sondern auch mit Güte. Emil hat die Ehre, ihre Blicke vorzugsweise[446] auf sich zu lenken. Eine Mutter in ihrer Lage sieht einen Mann seines Alters selten ohne Unruhe oder wenigstens ohne Neugier in ihr Haus treten.

Uns zuliebe läßt man das Abendbrot früher auftragen. Beim Eintritt in den Speisesaal bemerken wir fünf Gedecke. Als wir Platz nehmen, bleibt ein Stuhl leer. Plötzlich tritt ein junges Mädchen ein, verneigt sich tief und setzt sich bescheiden, ohne ein Wort zu äußern. Emil, mit Befriedigung seines Hungers und mit Antworten beschäftigt, grüßt sie, plaudert und ißt weiter. Der eigentliche Zweck seiner Reise liegt seinen Gedanken so fern, daß er sich noch weit vom Ziele glaubt. Die Unterhaltung dreht sich um uns Wanderer und um unser Mißgeschick, uns verirrt zu haben. »Mein Herr,« sagt unser freundlicher Wirt zu Emil, »Sie scheinen mir ein liebenswürdiger und verständiger junger Mann zu sein, und das erinnert mich daran, daß Sie und Ihr Begleiter bei uns fast in ähnlicher Lage, nämlich müde und durchnäßt, angelangt sind, wie einst Telemach und sein Mentor auf der Insel der Kalypso.« – »In Wahrheit können wir wenigstens sagen,« erwidert Emil, »daß uns die Gastfreundschaft der Kalypso zuteil wird,« und sein Mentor fügt noch hinzu: »Zugleich finden wir auch die Reize der Eucharis.« Obwohl nun Emil die Odyssee kennt, hat er doch den Telemach nicht gelesen. Er weiß deshalb nicht, wer Eucharis ist. Dagegen bemerke ich, daß das junge Mädchen wie mit Blut übergossen ist, starr auf ihren Teller blickt und kaum zu atmen wagt. Die Mutter, welcher die Verlegenheit ihrer Tochter nicht entgeht, macht dem Vater ein Zeichen, und dieser gibt dem Gespräch eine andere Richtung. Während er von seiner Zurückgezogenheit redet, öffnet er uns allmählich sein Herz immer mehr und erzählt von den Begebenheiten, um derentwillen er dieselbe aufgesucht, von den Unglücksfällen seines Lebens, von der Standhaftigkeit seiner Gemahlin, von dem Troste, welchen sie in ihrer Verbindung[447] gefunden, von dem friedlichen und ruhigen Leben, welches sie in ihrer Einsamkeit führen, ohne dabei auch nur mit einem Worte des jungen Mädchens zu erwähnen. Seine Erzählung, welche man nicht ohne Interesse anzuhören vermag, macht einen angenehmen und zugleich rührenden Eindruck. Emil hört, bewegt und gerührt, zu essen auf, um desto gespannter zuhören zu können. Und als sich nun am Schlusse der redlichste der Männer mit strahlender Freude über die aufrichtige Zuneigung der ehrenwertesten aller Frauen ergeht, ergreift der junge Reisende leidenschaftlich die Hand des Gatten und drückt sie, während er mit der anderen die Hand der Wirtin nimmt, sich begeistert über sie neigt und mit seinen Tränen netzt. Die kindliche Lebhaftigkeit des jungen Mannes erfüllt alle Zeugen mit Entzücken. Die Tochter des Hauses jedoch, für dieses Zeichen seines guten Herzens empfänglicher als irgendein anderer, glaubt Telemach in ihm zu sehen, wie er von den Leiden des Philoktet ergriffen ist. Verstohlen schaut sie zu ihm herüber, um seine Gestalt zu prüfen, und findet nichts, was diesen Vergleich Lügen straft. Sein ungezwungenes Wesen verrät Freimütigkeit ohne Anmaßung; in seinem Benehmen spricht sich eine große Lebhaftigkeit aus, ohne daß dieselbe jedoch auf Leichtsinn schließen läßt. Seine natürliche Güte verleiht seinem Blicke etwas Sanftes, gibt seinen Zügen etwas Rührendes. Als ihn das junge Mädchen Tränen vergießen sieht, vermag es kaum seine eigenen zurückzuhalten. Aber eine geheime Scham gibt ihm selbst bei diesem so schönen Vorwande die Kraft, sich zu beherrschen. Schon macht es sich Vorwürfe über die Tränen, die es nur mit Mühe zurückdrängen kann, als ob es ein Unrecht wäre, Tränen für seine Familie zu vergießen.

Die Mutter, welche ihre Tochter seit Beginn des Mahles nicht aus den Augen gelassen hat, bemerkt den Zwang, den sie sich antun muß, und befreit sie aus ihrer Verlegenheit, indem sie sie mit einem Auftrage fortschickt. Schon in der[448] nächsten Minute kehrt das junge Mädchen zurück, aber so außer aller Fassung, daß seine Verwirrung aller Augen sichtbar ist. Sanft redet die Mutter es deshalb an und sagt: »Sophie, fasse dich; wirst du denn nie aufhören, das Unglück deiner Eltern zu beweinen? Du, die du ihnen ein Trost in demselben bist, darfst dich dem Kummer nicht mehr hingeben als sie selbst.«

Bei dem Namen Sophie hättet ihr sehen können, wie Emil erbebte. Von dem Klang eines ihm schon so teuren Namens betroffen, fährt er plötzlich wie aus einem tiefen Schlafe auf und wirft der, welche ihn sich zu führen unterfängt, einen aufmerksamen Blick zu. Sophie, o Sophie! Bist du es, die mein Herz liebt? Bist du es, die mein Herz liebt? Er betrachtet und beobachtet sie mit einer Art Furcht und Mißtrauen. Er sieht vor sich nicht genau das Bild, welches er sich von ihr entworfen hat; er kann sich nicht klar darüber werden, ob die, auf der seine Blicke ruhen, das Bild seiner Phantasie übertrifft oder nicht erreicht. Er studiert jeden ihrer Züge, belauscht jede Bewegung, jede Gebärde und findet für alles tausend verwirrende Auslegungen. Die Hälfte seines Lebens würde er darum geben, wenn sie nur ein einziges Wort reden wollte. Unruhig und aufgeregt blickt er mich an. In seinen Augen lese ich hundert Fragen, aber auch hundert Vorwürfe. Er scheint mir mit jedem Blicke sagen zu wollen: »Leite mich, solange es noch Zeit ist; wenn mein Herz sich erst ergibt und sich nachher getäuscht findet, werde ich diesen Schlag zeitlebens nicht überwinden können.«

Emil ist wohl in der ganzen Welt der Mensch, welcher sich am wenigsten zu verstellen versteht. Wie sollte er wohl in der größten Verwirrung seines Lebens dazu imstande sein, umgeben von vier Zuschauern, deren Blicke prüfend auf ihm ruhen und unter denen gerade der scheinbar zerstreuteste in Wirklichkeit der aufmerksamste ist? Sophiens scharfem Auge entgeht seine Verwirrung nicht, und seine[449] Blicke lassen sie erraten, daß sie die Ursache derselben ist. Sie bemerkt zwar, daß seine Unruhe noch nicht die Folge seiner erwachenden Liebe ist, allein was hat das zu sagen? Er beschäftigt sich doch schon mit ihr, und das ist ihr vorderhand genügend. Sie würde sich sehr unglücklich fühlen, wenn er sich ungestraft mit ihr beschäftigen könnte.

Die Mütter haben ebenso scharfe Augen wie ihre Töchter, und außerdem steht ihnen die Erfahrung zur Seite. Sophiens Mutter lächelt über den Erfolg unserer Pläne. Sie liest in den Herzen der beiden jungen Leute, begreift, daß es jetzt an der Zeit ist, das des neuen Telemach für immer zu gewinnen, und veranlaßt ihre Tochter deshalb zum Reden. Dieselbe antwortet mit ihrer natürlichen Sanftmut in schüchternem Tone, was den Eindruck, welchen sie auf Emil ausübt, nur noch zu erhöhen vermag. Beim ersten Tone dieser Stimme fühlt er sich für immer gefesselt. Ja, das ist seine Sophie, er kann nicht länger daran zweifeln. Wäre es nicht der Fall, so würde es nun zu spät sein, er könnte nicht mehr zurück.

Unwiderstehlich umstricken jetzt die Reize des bezauberndes Mädchens sein Herz, und in langen Zügen beginnt er das Gift einzusaugen, mit dem sie ihn berauscht. Er redet nicht mehr, er antwortet nicht mehr. Er sieht nur Sophie, er hört nur Sophie. Spricht sie ein Wort, so öffnet er unwillkürlich den Mund; senkt sie die Augen, so senkt er sie ebenfalls. Hört er sie seufzen, so seufzt er mit. Es ist Sophiens Seele, die ihn zu beseelen scheint. Welche Aenderung ist in der seinigen in wenigen Augenblicken vor sich gegangen! Jetzt hat Sophie nicht mehr zu zittern nötig, die Reihe ist nun an ihn gekommen. Lebe wohl, Freiheit, Unbefangenheit, Offenheit! Verwirrt, verlegen, schüchtern, wagt er nicht mehr um sich zu schauen, weil er zu sehen fürchtet, daß er der Gegenstand der allgemeinen Beobachtung ist. Voller Scham, sein Geheimnis zu verraten, wünscht er sich unsichtbar machen zu können, nur damit er imstande[450] wäre, sich unbemerkt an ihr satt zu sehen. Sophie dagegen kommt immer mehr von ihrer Furcht vor Emil zurück. Sie erkennt ihren Sieg und freut sich seiner.

No 'l mostra già, ben che in suo cor ne rida.186

Ihre Haltung ist unverändert dieselbe geblieben, allein trotz ihrer sittsamen Miene und ihrer gesenkten Augen klopft ihr zärtliches Herz vor Freude und sagt ihr, daß Telemach gefunden ist.

Wenn ich hier auf die vielleicht zu natürliche und zu einfache Geschichte ihrer unschuldigen Liebe eingehe, so wird man möglicherweise geneigt sein, solche Einzelheiten als ein nichtiges Spiel zu betrachten. Indes hat man unrecht. Man berücksichtigt den Einfluß nicht genug, welchen der Beginn von ernsten Beziehungen zwischen einem Manne und einer Frau auf beider ganzes Leben ausüben muß. Man übersieht, daß ein erster Eindruck, der so lebhaft wie der der Liebe oder der anfänglich noch ihre Stelle vertretenden Zuneigung ist, bleibende Folgen hat, deren Verkettung man im Verlaufe der Jahre allerdings nicht wahrnimmt, die aber trotzdem bis zum Tode in unaufhörlicher Wirksamkeit sind. In den Abhandlungen über Erziehung gibt man uns viel unnützen und pedantischen Wortkram über rein eingebildete Pflichten der Kinder, aber man übergeht stillschweigend den wichtigsten und schwierigsten Teil der ganzen Erziehung, die Krisis nämlich, welche bei dem Uebergang aus der Kindheit in das Mannesalter stattfindet. Wenn ich vorliegende Abhandlung durch irgendeine Stelle habe nützlich machen können, so wird der Grund dazu vor allem darin liegen, daß ich mich über diesen wesentlichen Teil, der leider von allen anderen übergangen zu werden pflegt, ausführlich ausgesprochen habe, und daß ich mich von diesem Unternehmen[451] durch kein falsches Zartgefühl habe abhalten, noch durch die Schwierigkeiten der Ausdrucksweise zurückschrecken lassen. Wenn ich gesagt habe, was man tun muß, so habe ich gesagt, was zu sagen meine Pflicht ist. Ich kümmere mich sehr wenig darum, ob ich deshalb einen Roman geschrieben habe. Ein Roman, der die menschliche Natur zu seinem Gegenstande hat, muß gewiß zu den guten gerechnet werden. Wenn man aus dieser Schrift nicht mehr herausfindet, liegt dann etwa die Schuld an mir? Sie sollte die Geschichte meines Geschlechts sein. Ihr, die ihr verderbt, macht freilich einen Roman aus meinem Buche.

Eine andere Erwägung, welche die erste noch verstärkt, ist, daß es sich ja hier nicht um einen jungen Mann handelt, den man von Kindheit an zum Spielball der Furcht, der Lüsternheit, des Neides, des Stolzes und all der Leidenschaften, deren man sich bei der gewöhnlichen Erziehung als Werkzeuge bedient, gemacht hat, daß es sich im Gegenteil um einen jungen Mann handelt, dessen Herz hier nicht allein zum erstenmal in Liebe erglüht, sondern der überhaupt zum erstenmal die Gewalt einer Leidenschaft kennen lernt; daß endlich von dieser Leidenschaft, der einzigen vielleicht, welche er in seinem ganzen Leben in ihrer vollen Tiefe empfindet, die letzte Gestalt abhängt, welche sein Charakter annehmen darf. Seine Denkart, seine Gefühle, seine Neigungen, welche eine dauernde Leidenschaft in eine bestimmte Richtung gedrängt hat, sollen jetzt eine Festigkeit gewinnen, die nichts mehr zu erschüttern vermag.

Begreiflicherweise verbrachten Emil und ich die auf einen solchen Abend folgende Nacht nicht völlig mit Schlafen. Weshalb denn nicht? Kann die bloße Uebereinstimmung des Namens auf einen vernünftigen Mann eine so große Macht ausüben? Gibt es etwa nur eine Sophie in der Welt? Gleichen sich alle wie dem Namen so auch der Seele nach? Ist eine jede, die ihm unter die Augen treten wird, seine Sophie? Ist er ein Narr, daß er für eine Unbekannte,[452] mit welcher er noch kein Wort gewechselt hat, eine so leidenschaftliche Liebe faßt? Warte, junger Mann, prüfe, beobachte! Du weißt ja noch nicht einmal, in wessen Hause du dich befindest, und wenn man auf dich hören wollte, so sollte man glauben, du wärest schon in deinem eigenen.

Jetzt ist es nicht mehr an der Zeit, Belehrungen zu erteilen, und sie sind auch nicht dazu angetan, Gehör zu finden. Sie sind nur Veranlassung, dem jungen Mann ein neues Interesse für Sophie einzuflößen, da sie das Verlangen in ihm rege machen, seine Neigung zu rechtfertigen. Diese Gleichheit der Namen, diese scheinbar zufällige Begegnung, selbst meine Zurückhaltung reizen nur seine Leidenschaft. Schon erscheint ihm Sophie zu achtungswert, als daß er sich nicht für überzeugt hielte, es würde ihm gelingen, sie mir in einem solchen Lichte zu zeigen, daß auch ich sie liebgewinnen müßte.

Allem Vermuten nach wird sich Emil am nächsten Morgen bemühen, auf seinen schlichten Reiseanzug eine mehr als gewöhnliche Sorgfalt zu verwenden. Es kann gar nicht ausbleiben. Namentlich nötigt mir die Geschäftigkeit, mit welcher er von der dem Hause gehörenden Wäsche Gebrauch macht, ein Lächeln ab. Ich durchschaue seine Gedanken. Indem er Maßregeln ergreift, die eine Rückerstattung, einen Umtausch nötig machen, sucht er bereits, wie ich mit Freuden sehe, eine Ursache zum Briefwechsel herbeizuführen, der ihm die Berechtigung gibt, hierher zurückzuschicken oder wohl gar selbst zurückzukehren.

Ich hatte mit Sicherheit erwartet, auch Sophie ihrerseits in gewählterer Kleidung erscheinen zu sehen. Indes hatte ich mich getäuscht. Diese gewöhnliche Art der Koketterie ist ein Notbehelf für diejenigen, welche nur gefallen wollen. Die Koketterie der wahren Liebe ist geläuterter und erhebt ganz andere Ansprüche. Sophie ist noch einfacher, ja selbst nachlässiger als den Abend vorher gekleidet, wenn auch mit der ausgesuchtesten Sauberkeit. In einer solchen[453] Nachlässigkeit vermag ich nur Koketterie zu erblicken, weil ich darin etwas Gesuchtes sehe. Sophie begreift recht wohl, daß in einer gewählteren Kleidung eine Art Erklärung liegen würde, ahnt indes nicht, daß eine nachlässigere Kleidung ebenfalls eine Erklärung ist, in welcher sich deutlich zu erkennen gibt, daß man sich nicht damit begnügt, durch den Anzug zu gefallen, sondern daß man auch durch seine Person Gefallen erregen will. Was fragt der Liebende auch nach der Kleidung, wenn er nur wahrnimmt, daß man sich mit ihm beschäftigt? Ihrer Herrschaft schon sicher, geht Sophie nicht mehr darauf aus, Emils Aufmerksamkeit durch ihre Reize zu erregen, wenn er nicht selber ein Auge für sie hat. Sie findet ihr Genüge nicht mehr daran, sie ihm sichtbar zu machen, sie verlangt schon, daß er sie voraussetzen soll. Hat er nicht schon genug erblickt, um sich gezwungen zu sehen, die übrigen zu ahnen?

Es läßt sich annehmen, daß sich während unserer nächtlichen Unterhaltung Sophie und ihre Mutter gleichfalls nicht stumm verhalten haben, gab es doch Geständnisse zu entlocken und gute Ratschläge zu erteilen. Am folgenden Morgen versammelt man sich deshalb wohl vorbereitet. Noch keine zwölf Stunden sind verstrichen, seit sich unsere jungen Leute zum erstenmal gesehen haben; noch kein einziges Wort haben sie miteinander gewechselt, und schon kann man bemerken, daß sie einander verstehen. Ihr Entgegenkommen deutet auf keine Vertraulichkeit hin, es verrät Verlegenheit und Schüchternheit; sie reden einander nicht an, ihre niedergeschlagenen Augen scheinen einander zu vermeiden, allein gerade das ist ein Zeichen ihres Einverständnisses. Sie gehen sich aus dem Wege, aber wie verabredetermaßen; sie fühlen schon das Bedürfnis, sich in den Schleier des Geheimnisses zu hüllen, ehe es noch etwas zu verheimlichen gibt. Als wir uns verabschieden, bitten wir um die Erlaubnis, das Geliehene persönlich zurückbringen zu dürfen. Emils Mund erbittet diese Erlaubnis[454] vom Vater und von der Mutter, während sich seine unruhigen Augen auf die Tochter heften und sie noch weit inständiger darum bitten. Sophie sagt nichts, gibt kein Zeichen, scheint nichts zu sehen noch zu hören, allein sie errötet, und dieses Erröten ist eine noch klarere Antwort als die ihrer Eltern.

Man gestattet uns wiederzukommen, ohne uns jedoch zum Bleiben einzuladen. Dies Verhalten ist ganz schicklich; man gibt wohl Reisenden, die um ein Nachtlager verlegen sind, Herberge, allein es paßt sich nicht, daß ein Liebender im Hause seiner Geliebten schläft.

Kaum haben wir das uns so liebgewordene Haus im Rücken, so schmiedet Emil schon Pläne, in der Umgegend seinen Wohnsitz aufzuschlagen. Die nächste Strohhütte scheint ihm schon zu entfernt zu liegen; er hätte Lust, sich ein Nachtlager im Schloßgraben zu suchen. »Unbesonnener Jüngling,« sage ich zu ihm im Tone des Mitleids, »wie, hast du dich von der Leidenschaft schon verblenden lassen? Schon setzest du dich über Schicklichkeit und Vernunft hinweg! Unglücklicher! Du glaubst zu lieben, und gehst selber darauf aus, die Ehre deiner Geliebten zu beflecken! Was wird man von ihr sagen, wenn man in Erfahrung bringt, daß ein junger Mann, der soeben erst ihr Haus verlassen hat, in der Umgebung desselben schläft? Du liebst sie, wie du behauptest. Kannst du es dir also wohl zur Aufgabe stellen, ihren Ruf zerstören? Vergiltst du so die Gastfreundschaft, die ihre Eltern dir erwiesen haben? Willst du derjenigen, von der du dein Glück erwartest, Schande bereiten?« – »Ach,« versetzte er lebhaft, »was frage ich nach dem leeren Gerede der Menschen und ihrem ungerechten Urteil! Haben Sie selbst mich nicht gelehrt, keinen Wert darauf zu legen? Wer kann besser als ich wissen, wie sehr ich Sophie ehre und wie ich nur darauf sinne, ihr meine Achtung zu erweisen? Meine Liebe soll ihr nicht zum Schimpf, sondern zur Ehre gereichen, sie soll ihrer[455] würdig sein. Wenn mein Herz und meine Aufmerksamkeiten ihr überall die verdiente Huldigung darbringen, wie kann darin ein Schimpf für sie liegen?« – »Lieber Emil,« erwidere ich, ihn umarmend, »du stellst dich bei deinem Urteile nur auf deinen Standpunkt; lerne aber auch dich auf ihren zu versetzen. Vergleiche die Ehre des einen Geschlechts nicht mit der des anderen; bei beiden gelten ganz verschiedene Grundsätze. Diese Grundsätze sind gleich berechtigt und vernünftig, weil sie in gleicher Weise aus der Natur abgeleitet werden, und weil die nämliche Tugend, die dich für deine eigene Person das Gerede der Menschen verachten läßt, dir die Pflicht auferlegt, es in bezug auf deine Geliebte zu achten. Deine Ehre beruht in dir allein, die ihrige dagegen ist an das Urteil anderer geknüpft. Ihre Ehre nicht fleckenlos erhalten, hieße deine eigene verletzen, und du würdest nicht handeln, wie du es dir selbst schuldig bist, wenn du die Schuld trügest, daß man nicht so gegen sie handelt, wie man es ihr schuldig ist.«

Indem ich ihm darauf die Gründe dieses Unterschieds erkläre, bringe ich es ihm zum Bewußtsein, welche Ungerechtigkeit darin liegen würde, ihnen keinen Wert beizumessen. Wer hat ihm denn schon die Versicherung gegeben, daß er Sophie, deren Gesinnungen gegen ihn er durchaus noch nicht kennt, deren Herz oder deren Eltern vielleicht schon früher über ihre Hand verfügt haben, wirklich als Gemahlin heimführen wird, sie, welche er kaum kennt und die vielleicht in keinem der Stücke, die allein die Ehe glücklich machen können, mit ihm harmoniert? Weiß er nicht, daß jedes Aergernis für ein Mädchen ein unauslöschlicher Flecken ist, welchen nicht einmal seine Vermählung mit dem, welcher ihn verschuldet hat, auszuwischen vermag? Welcher von Liebe beseelte Mann wünscht wohl die, welche er liebt, zu verderben? Welcher redliche Mann kann ein Gefallen darin finden, daß eine Unglückliche zeitlebens den Unstern, ihm gefallen zu haben, beweinen muß?[456]

Erschreckt über die Folgen, die ich ihm vorhalte, glaubt schon der junge Mann, der sich immer gern in Extremen bewegt, nie fern genug von Sophiens Wohnsitze sein zu können. Er verdoppelt seine Schritte, um schneller zu entfliehen; er sieht sich um, ob uns auch niemand gehört hat. Er würde sein Glück tausendmal für die Ehre seiner Geliebten zum Opfer bringen. Lieber wollte er sie in seinem Leben nicht wiedersehen, als daß er ihr auch nur ein einziges Mal Veranlassung zum Kummer gäbe. – Es ist die erste Frucht der Mühe, die ich seit seiner Jugend darauf verwandt habe, sein Herz zu bilden, daß es zu lieben fähig ist.

Es handelt sich also darum, einen weder zu nah noch zu fern gelegenen Aufenthaltsort aufzufinden. Wir gehen selbst auf Entdeckungen aus, ziehen Erkundigungen ein und erfahren, daß zwei starke Stunden von hier eine Stadt liegt. Wir machen uns auf den Weg, um uns lieber dort als in den näher gelegenen Dörfern, wo unser Aufenthalt Verdacht erregen könnte, nach einer Wohnung umzusehen. Voller Liebe, Hoffnung, Freude und vor allem voller edler Gesinnungen, langt endlich Sophiens Verehrer daselbst an. Jetzt lasse ich es mein Bemühen sein, seine entstehende Leidenschaft allmählich auf das Gute und Ehrenwerte zu lenken und allen seinen Neigungen den Antrieb zu geben, dieselbe Richtung einzuschlagen.

Ich nähere mich dem Ziele der mir gestellten Aufgabe, ja, ich sehe es schon in der Ferne vor mir. Alle Hauptschwierigkeiten sind überwunden, alle Haupthindernisse aus dem Wege geräumt. Die einzige Schwierigkeit, die mir noch übrigbleibt, besteht darin, daß ich nicht etwa durch das übereilte Bestreben, mein Werk zu vollenden, es verderbe. Laßt uns bei der Unsicherheit des menschlichen Lebens namentlich die falsche Klugheit vermeiden, die Gegenwart der Zukunft zu opfern. Häufig heißt das nichts anderes als das, was ist, dem opfern, was nie sein wird. Laßt uns den Menschen in allen Lebensaltern glücklich machen,[457] damit er nicht etwa nach vielen Sorgen dem Tode zur Beute fällt, ohne es je geworden zu sein. Und gibt es eine zum Lebensgenuß geeignete Zeit, so ist es sicherlich das Ende der Jünglingsjahre, wo sich die leiblichen wie die geistigen Fähigkeiten zu ihrer größten Kraft entfaltet haben, und wo der Mensch inmitten seiner Lebensbahn von ferne die beiden Endpunkte wahrnimmt, die ihm die Kürze derselben zum Bewußtsein bringen. Wenn die unerfahrene Jugend sich täuscht, so liegt ihr Irrtum nicht darin, daß sie überhaupt auf Genuß ausgeht, sondern darin, daß sie ihn da sucht, wo er nicht zu finden ist, und daß sie sich nicht nur eine elende Zukunft bereitet, sondern auch nicht einmal die Gegenwart zu benutzen versteht.

Betrachtet meinen Emil in seinem zurückgelegten zwanzigsten Jahre. Er ist von schönem Wuchs, gesundem Leib und Seele, stark, behend, geschickt, kräftig, voller Gefühl, Verstand, Güte und Menschenfreundlichkeit. Er zeichnet sich durch gute Sitten und Geschmack aus, liebt das Schöne, tut das Gute. Er ist frei von der Herrschaft grausamer Leidenschaften, unabhängig von dem Joche der allgemeinen Meinung, aber dem Gesetze der Weisheit unterworfen. Er ist nachgiebig gegen die Stimme der Freundschaft, besitzt alle nützlichen und außerdem mehrere gefällige Talente. Nach Reichtum fragt er nicht viel, da er seine Hilfsquellen in seinen Armen trägt und sich nicht der Furcht hinzugeben braucht, es könne ihm je an Brot fehlen, was sich auch ereignen möge. Jetzt zeigt er sich uns freilich im Rausch einer erwachenden Leidenschaft. Sein Herz öffnet sich der ersten Liebesglut. Seine süßen Illusionen zaubern ihm eine neue Welt von Freuden und Genüssen vor. Er liebt ein liebenswürdiges Mädchen, liebenswürdiger noch seinem Charakter als seiner Person nach. Er hofft, er rechnet auf Gegenliebe, die man ihm seinem Gefühle nach schuldig ist. Aus der Uebereinstimmung der Herzen, aus dem Zusammentreffen edler Gesinnungen ist ihre erste Neigung aufgekeimt.[458] Diese Neigung soll Bestand haben. Mit Vertrauen, mit einer Art Genugtuung überläßt er sich diesem reizendsten Wahn, ohne Furcht, ohne Bedauern, ohne Gewissensbisse, ohne eine andere Unruhe als diejenige, welche sich dem Gefühle des Glückes unzertrennlich beigesellt. Was kann seinem Glücke wohl fehlen! Beobachtet, überlegt, denket nach über das, was ihm noch nötig ist, und was man ihm zu dem, was er schon besitzt, noch hinzufügen könnte. Alle Güter, die sich gleichzeitig erlangen lassen, sind sein eigen. Nur auf Kosten eines anderen könnte man sie um ein neues vermehren. Er ist so glücklich, wie ein Mensch nur sein kann. Soll ich einem so süßen Glücke sofort wieder ein Ende machen? Soll ich ein so reizendes Vergnügen stören? Ach, der ganze Wert seines Lebens beruht auf dem Glücke, das er jetzt empfindet. Womit wäre ich imstande, ihm das zu ersetzen, was ich ihm raubte? Selbst wenn ich seinem Glücke die Krone aufsetzte, würde ich den größten Reiz desselben zerstören. Dieses höchste Glück ist in der Erwartung hundertmal süßer als im Genuß. O, lieber Emil, liebe und laß dich lieben! Gib dich einem langen Genusse hin, bevor du in den Besitz trittst! Erfreue dich zugleich der Liebe und Unschuld! Schaffe dir auf Erden ein Paradies, solange du noch auf das andere hoffst! Ich werde diese glückliche Zeit deines Lebens nicht verkürzen; ich werde im Gegenteil einen Zauberschleier über dieselbe decken und sie, soviel in meiner Macht steht, verlängern. Leider muß sie ein Ende haben und muß sogar in kurzer Zeit ein Ende nehmen. Allein ich werde wenigstens alles aufbieten, daß sie dir nie aus dem Gedächtnis entschwindet, und du nie bereuest, ihr Glück genossen zu haben.

Emil vergißt nicht, was wir zurückzubringen haben. Sobald die geliehene Wäsche wieder instand gesetzt ist, mieten wir Pferde und reiten in vollem Trabe ab. Diesmal wünschte er schon beim Abreiten das Ziel erreicht zu haben. Sobald sich das Herz den Leidenschaften öffnet,[459] öffnet es sich auch gleichzeitig der Langweile des Lebens. Habe ich jedoch meine Zeit nicht verloren, so wird er wohl sein ganzes Leben nicht in diesem Zustande zubringen.

Unglücklicherweise ist der Weg beschwerlich und die Gegend zum Reiten wenig geeignet. Wir verirren uns und er gewahrt es zuerst. Ohne die Geduld zu verlieren, ohne in Klagen auszubrechen, verwendet er seine ganze Aufmerksamkeit darauf, wieder auf den rechten Weg zu kommen. Lange irrt er umher, bis er sich zurechtfindet, aber immer mit der gleichen Kaltblütigkeit. In euren Augen wird das nicht als etwas Besonderes gelten, in meinen aber gilt es als ein hoher Beweis seiner Selbstbeherrschung, da ich sein hitziges Temperament kenne. Ich erblicke darin die Frucht der Sorgfalt, mit der ich es mir seit seiner Kindheit habe angelegen sein lassen, ihn gegen die Schläge des Unvermeidlichen abzuhärten.

Endlich langen wir an. Die Aufnahme, welche uns zuteil wird, ist noch einfacher und verbindlicher als das erstemal. Wir gehören ja jetzt schon zu den alten Bekannten. Emil und Sophie begrüßen sich mit einer gewissen Verlegenheit und reden nur wenig miteinander. Was hätten sie sich auch wohl in unserer Gegenwart sagen können? Die Unterhaltung, nach der sie sich sehnten, bedarf keiner Zeugen. Wir machen im Garten einen Spaziergang. Diesem Garten dienen als Lustplatz sehr umfangreiche Gemüsebeete, als Park ein aus großen und schönen Obstbäumen jeglicher Art bestehender Obstgarten, nach verschiedenen Richtungen hin von hübschen Bächen und Rabatten mit blühenden Blumen bedeckt. »Ein herrlicher Ort,« ruft Emil aus, der seinen Homer stets im Kopfe hat und beständig in Begeisterung schwebt, »ich glaube den Garten des Alkinous zu sehen.« Sophie wünscht zu wissen, wer Alkinous ist, und die Mutter stellt dieselbe Frage. »Alkinous«, sage ich zu ihnen, »war ein König von Korkyra, dessen Garten, den Homer beschrieben hat, in den Augen von Leuten, die auf Geschmack Anspruch[460] machen, für zu einfach und zu schmucklos gilt.187 Dieser Alkinous besaß eine liebenswürdige Tochter, welcher den Tag vor der gastfreien Aufnahme eines Fremden im Hause ihres Vaters träumte, daß sie sich bald vermählen würde.« Sophie gerät in Verwirrung, errötet, schlägt die Augen nieder, beißt sich auf die Zunge; die Verlegenheit, die sich ihrer bemächtigt, läßt sich nicht beschrieben. Der Vater, der ein Gefallen daran zu finden scheint, sie noch zu vermehren, ergreift das Wort und erzählt, daß die junge Prinzessin selbst die Wäsche im Flusse gewaschen habe. »Kannst du wohl glauben,« fährt er fort, »daß sie es sogar nicht unter ihrer Würde gehalten hat, die schmutzigen Servietten zu berühren, obwohl sie einen unangenehmen Speisegeruch[461] verbreiteten?« Sophie, auf welche dieser Hieb gemünzt ist, vergißt plötzlich ihre natürliche Schüchternheit und entschuldigt sich mit größter Lebhaftigkeit. Der Papa wisse recht wohl, daß sie die ganze kleine Wäsche, wenn man ihr den Willen gelassen hätte,188 allein übernommen, ja mit Freuden noch mehr getan haben würde, wenn man ihr den Auftrag dazu erteilt. Bei diesen Worten sieht sie mich verstohlen und mit einer gewissen Unruhe an. Ich kann mich eines Lächelns nicht erwehren, da ich in ihrem arglosen Herzen den Aufruhr erkenne, der ihr diese Worte eingegeben hat. Ihr Vater ist grausam genug, diese Unbesonnenheit erst recht auffallend zu machen, indem er sie mit spöttischem Tone fragt, aus welchem Grunde sie eigentlich das Gespräch auf sich selber lenke, und was sie denn mit der Tochter des Alkinous gemein habe? Verlegen und zitternd wagt sie kaum noch zu atmen oder den Blick zu jemand zu erheben. Reizendes Mädchen, jetzt ist es zu spät, dich zu verstellen; unbewußt hast du dich bereits erklärt.

Zu Sophiens Glück ist diese kleine Szene indes bald vergessen oder scheint es wenigstens zu sein. Emil allein hat von dem ganzen Vorgange nichts begriffen. Der Spaziergang wird fortgesetzt, und unseren jungen Leuten, die uns anfangs zur Seite geblieben waren, wird es schwer, sich nach unseren langsamen Schritten zu richten. Nach und nach gewinnen sie einen Vorsprung, nähern sich, knüpfen ein Gespräch an, und endlich sehen wir sie ziemlich weit vor uns. Sophie scheint aufmerksam und gesetzt; Emil redet und macht außerordentlich feurige Gestikulationen. Die Unterhaltung scheint beiden keine Langeweile zu bereiten. Nach Verlauf einer guten Stunde treten wir den Rückweg an; auf unseren Ruf kommen sie, wenn auch ziemlich langsam, zurück, und es entgeht uns nicht, daß sie die[462] Zeit noch auf das beste benutzen. Bevor sie jedoch in Hörweite gelangt sind, stockt endlich plötzlich ihre Unterhaltung, und sie verdoppeln ihre Schritte, um wieder mit uns zusammenzutreffen. Emil redet uns offen und freundlich an; seine Augen strahlen vor Freude, indes richtet er sie mit einiger Unruhe auf Sophiens Mutter, um zu sehen, wie sie dieselbe empfangen wird. Sophie weiß nicht ein ebenso ungezwungenes Benehmen zu beobachten. Der Gedanke, sich mit einem jungen Manne allein in einem traulichen Zusammensein befunden zu haben, scheint sie bei ihrer Ankunft noch immer verlegen zu machen, sie, die schon so oft mit anderen jungen Herzen allein gewesen ist, ohne darüber in Verlegenheit zu geraten, und ohne daß man darin etwas Unrechtes erblickt hätte. Sie eilt, ein wenig atemlos, auf ihre Mutter zu, und äußert einige nichtssagende Worte, damit es so aussehen sollte, als wäre sie schon lange wieder da.

An der Heiterkeit, welche sich auf dem Antlitze dieser liebenswürdigen jungen Leute ausprägt, läßt sich erraten, daß diese Unterhaltung ihre jungen Herzen von einer großen Last befreit hat. Sie zeigen zwar nicht weniger Zurückhaltung gegeneinander, allein in derselben spricht sich nicht mehr eine so große Verlegenheit aus wie vorher. Sie wurzelt nur noch in Emils Ehrfurcht, in Sophiens Bescheidenheit und beider Sittsamkeit. Emil wagt einige Worte an sie zu richten, und sogar sie wagt bisweilen zu antworten, aber nie öffnet sie den Mund, ohne ihre Mutter dabei unverwandt anzublicken. Am unverkennbarsten tritt der Wechsel ihrer Gesinnung gegen mich zutage. Sie bezeigt mir eine zuvorkommendere Aufmerksamkeit, betrachtet mich mit Teilnahme, redet in wahrhaft herzlicher Weise mit mir und sucht alles hervor, was mir gefallen kann. Ich erkenne daraus, daß ich mir ihre Achtung errungen habe, und daß es ihr angelegen ist, sich die meinige zu verdienen. Es ist klar, daß Emil mit ihr über mich gesprochen hat;[463] ja man könnte fast auf den Gedanken kommen, daß sie bereits ein Komplott geschmiedet, mich zu gewinnen. Trotzdem ist dies nicht der Fall, denn auch Sophie läßt sich nicht so leicht gewinnen. Es wird für ihn vielleicht besser sein, daß ich bei ihr in Gunst stehe, als daß sie sich mein Wohlwollen erworben hat. Reizendes Paar!... Wenn ich erwäge, daß mein junger Freund trotz seines erregbaren Herzens selbst bei der ersten Unterredung mit seiner Geliebten meiner in so freundlicher Weise gedacht hat, so ernte ich den Lohn für meine Mühe. Seine Freundschaft hat mir alles vergolten.

Diese Besuche werden wiederholt. Die Unterhaltungen zwischen unseren jungen Leuten werden häufiger. Emil glaubt in seinem Liebesrausche seines Glückes schon sicher zu sein. Gleichwohl gelingt es ihm nicht, Sophie zu einem ausdrücklichen Geständnis zu bewegen. Sie hört ihn wohl an, erwidert aber nichts. Emil kennt den hohen Grad ihrer Sittsamkeit; diese große Zurückhaltung wundert ihn deshalb wenig. Er ist sich bewußt, bei ihr nicht schlecht angeschrieben zu stehen, und weiß überdies, daß die Väter ihre Kinder verheiraten. Er setzt voraus, Sophie warte erst auf einen Befehl ihrer Eltern, bittet um die Erlaubnis, um sie anhalten zu dürfen, und sie erhebt da gegen keinen Einwand. Er nimmt mit mir darüber Rücksprache, und in seinem Namen, ja in seiner Gegenwart bringe ich den Antrag vor. Welche Ueberraschung für ihn, als er vernimmt, daß die Entscheidung in Sophiens eigene Hand gelegt ist, und daß es lediglich in ihrem Willen liegt, ihn glücklich zu machen! Ihr Benehmen beginnt ihm rätselhaft zu werden. Seine Zuversicht nimmt ab. Er wird unruhig, gelangt zur Einsicht, daß er seines Erfolges noch nicht so sicher sei als er gedacht, und nun ergeht sich die zärtlichste Liebe in der rührendsten Sprache, um sie zu erweichen.

Emil ist nicht dazu angetan, zu erraten, was ihm schadet. Wenn man ihn nicht darauf aufmerksam macht,[464] wird er es in seinem ganzen Leben nicht erfahren, und Sophie ist zu stolz, um es ihm zu sagen. Die Schwierigkeit, welche sie zurückhält, würde für andere ein Sporn sein, ihm entgegenzukommen. Sie hat die Lehren ihrer Eltern nicht vergessen. Sie ist arm, während Emil, wie sie weiß, reich ist. Wieviel gehört deshalb dazu, daß er ihr Achtung abnötigt! Welche Vorzüge muß er besitzen, um diese Ungleichheit zu verwischen! Wie könnte es ihm aber einfallen, in seinem Reichtum ein Hindernis zu erblicken? Weiß Emil überhaupt nur, daß er reich ist? Kommt es ihm auch nur in den Sinn, sich danach zu erkundigen? Er hat, dem Himmel sei Dank, der Reichtümer nicht nötig, weil er auch ohne sie Wohltaten um sich zu verbreiten versteht. Zu dem Guten, was er tut, bedarf er nicht der Börse, sondern eines guten Herzens. Er widmet den Unglücklichen seine Zeit, seine Sorgfalt, seine Zuneigung, seine Person. Das Geld, welches er an die Dürftigen austeilt, wagt er kaum in Anschlag zu bringen.

Da er nicht weiß, welchem Umstand er ihre Ungunst zuschreiben soll, mißt er sich selbst die Schuld bei; denn wer würde sich wohl erkühnen, den Gegenstand seiner Verehrung einer Laune für fähig zu halten? Die Demütigung der Eigenliebe erhöht die Betrübnis über die unerwiderte Liebe. Er naht sich Sophien nicht mehr mit jener liebenswürdigen Zuversicht eines Herzens, das sich des ihrigen würdig fühlt. Er ist in ihrer Gegenwart schüchtern und ängstlich. Da er die Hoffnung aufgegeben hat, sie durch Zärtlichkeit zu rühren, sucht er sie durch Erregung ihres Mitleids zu erweichen. Mitunter ermüdet seine Geduld und droht dem Verdruß weichen zu wollen. Sophie scheint dann das heraufziehende Ungewitter zu ahnen und blickt ihn an. Dieser einzige Blick reicht hin, ihn zu entwaffnen und einzuschüchtern; er ist demütiger als zuvor.

Durch diesen beharrlichen Widerstand und dieses unüberwindliche Schweigen beunruhigt, schüttet er sein Herz[465] endlich in das seines Freundes aus. Hier legt er die Schmerzen seines von Kummer zerrissenen Herzens nieder. Er fleht um Beistand und Rat. »Welch undurchdringliches Geheimnis! Sie nimmt, wie sich nicht bezweifelt läßt, Anteil an meinem Geschick. Weit davon entfernt, mich zu meiden, ist sie vielmehr gern mit mir zusammen. Bei meiner Ankunft verrät sie Freude, bei meinem Scheiden Kummer. Meine Aufmerksamkeiten nimmt sie gütig auf; meine kleinen Dienste scheinen ihr zu gefallen; sie läßt sich herab, mir ihre Ansichten auseinanderzusetzen, ja mir bisweilen sogar ihre Befehle zu erteilen. Trotzdem weist sie all mein Bitten und Flehen zurück. Wenn ich mich von einer Vereinigung zu reden untersage, legt sie mir gebieterisch Schweigen auf, und wenn ich nur ein einziges Wort hinzufüge, verläßt sie mich augenblicklich. Welch befremdender Grund kann ihr den Wunsch eingeben, daß ich ihr angehöre, ohne daß sie von meinem Wunsche, sie die Meine nennen zu dürfen, etwas wissen will? Reden Sie mit ihr, Sie, den sie ehrt und liebt und dem sie kein Schweigen aufzuerlegen sie ehrt und liebt und dem sie kein Schweigen aufzuerlegen wagt; bewegen Sie sie dazu, endlich ihr Schweigen zu brechen. Erweisen Sie mir, Ihrem Freunde, diesen Dienst und krönen Sie damit Ihr Werk. Lassen Sie Ihre Sorgfalt nicht zum Unheil für Ihren Zögling ausschlagen! Ach, was er Ihnen zu verdanken hat, wird gerade die Quelle seines Elends werden, wenn Sie nicht sein Glück vollenden.«

Infolgedessen habe ich mit Sophie eine Unterredung und entreiße ihr ohne viel Mühe ein Geheimnis, welches mir, noch ehe sie mir enthüllt hatte, schon bekannt war. Schwieriger erlange ich die Erlaubnis, Emil davon Mitteilung machen zu dürfen. Schließlich erlange ich sie doch und mache von ihr Gebrauch. Ueber diese Erklärung gerät er in ein Erstaunen, von dem er sich gar nicht zu erholen vermag. Ein solches Zartgefühl ist ihm unverständlich. Er kann sich nicht vorstellen, wie einige Taler mehr oder[466] weniger auf Charakter und Verdienst von Einfluß sein sollen. Als ich ihm begreiflich zu machen suche, welchen Wert die Vorurteile darauf legen, bricht er in Lachen aus. Freudetrunken will er sich sofort auf den Weg machen, alles zerreißen, alles wegwerfen, auf alles verzichten, nur um die Ehre zu haben, mit Sophie an Armut wetteifern zu können und dadurch bei seiner Rückkehr würdig zu sein, ihr Gemahl zu werden.

»Wie!« sage ich, ihn zurückhaltend und nun ebenfalls über sein Ungestüm lachend, »wird denn dieser jugendliche Kopf nie zur Reife kommen? Wirst du nie ein richtiges Urteil gewinnen, nachdem du dein ganzes Leben lang philosophiert hast? Wie, begreifst du nicht, daß du deine Lage nur verschlimmern und Sophie nur noch halsstarriger machen würdest, wenn du dein unverständiges Vorhaben zur Ausführung brächtest? Daß du einige Güter mehr besitzest als sie, räumt dir freilich einen kleinen Vorzug vor ihr ein; wolltest du ihr sie aber alle zum Opfer bringen, so würdest du einen sehr großen Vorzug vor ihr voraus haben. Wenn sich nun ihr Stolz schon nicht dazu verstehen kann, dir für die ersteren Dank schuldig zu sein, wie sollte er es wohl über sich gewinnen, dir die letzteren zu verdanken zu haben? Wenn sie es nicht zu ertragen vermag, daß ihr je ihr Gatte den Vorwurf machen könnte, sie reich gemacht zu haben, wird sie dann wohl ertragen können, je von ihm den Vorwurf zu vernehmen, daß er sich ihretwillen in Armut gestürzt habe? O, Unglücklicher, möge nie der Verdacht in ihr aufsteigen, daß du dich mit diesem Plane getragen hast! Werde im Gegenteil aus Liebe zu ihr haushälterisch und sorgsam, damit sie dich nicht beschuldigen kann, du wollest sie durch List gewinnen und ihr das, was du doch durch deine eigene Fahrlässigkeit verlieren würdest, als ein freies Opfer darstellen.

Glaubst du denn wirklich, daß ihr große Reichtümer Furcht einjagen, und daß ihr Widerstand gerade durch deinen[467] Reichtum hervorgerufen wird? Nein, lieber Emil, die tiefere und mehr in das Gewicht fallende Ursache desselben liegt in der Wirkung, welche diese Reichtümer auf das Gemüt des Besitzers hervorbringen. Sie weiß, daß den Glücksgütern von ihren Besitzern der Vorzug vor allem übrigen gegeben wird. Allen Reichen gilt das Gold höher als das Verdienst. Bei dem gemeinsamen Einsatze von Geld und Dienstleistungen leben sie immer in dem Wahn, daß letztere unter dem Werte der Bezahlung bleiben, und sind überzeugt, daß man ihnen, wenn man auch sein ganzes Leben in ihrem Dienste verbracht, noch mehr als zuviel schulde, weil man ihr Brot gegessen habe. Was wirst du demnach zu tun haben, Emil, um sie von dieser Furcht zu befreien? Enthülle ihr dein ganzes Herz! Das ist allerdings nicht das Werk eines einzigen Tages. Zeige ihr in deiner edlen Seele die Schätze, welche sie über diejenigen zu trösten vermögen, die dir unglücklicherweise so reichlich zugefallen sind. Ueberwinde ihren Widerstand durch Beharrlichkeit und Zeit; zwinge sie durch erhabene und hochherzige Gesinnung, deine Reichtümer zu vergessen. Liebe sie, diene ihr, diene ihren ehrwürdigen Eltern. Beweise ihr, daß deine Aufmerksamkeiten nicht das Ergebnis einer törichten und vorübergehenden Leidenschaft, sondern der Ausfluß der Grundsätze sind, die mit unauslöschlicher Schrift in der Tiefe deines Herzens eingegraben stehen. Bringe dein von der Glücksgöttin verletztes Verdienst in würdiger Weise zu Ehren, das ist das einzige Mittel, diese mit dem Verdienst zu versöhnen, welches sie auf diese Weise erst recht ins Licht stellen muß.«

Man kann sich vorstellen, in welches Entzücken diese Unterredung den jungen Mann versetzt, mit welcher Zuversicht und Hoffnung sie ihn erfüllt, wie sehr sein ehrliches Herz sich glücklich schätzt, daß er, um Sophie zu gefallen, nur das zu tun braucht, was er von selbst tun würde, wenn es auch gar keine Sophie gäbe oder er sie nicht so innig liebte. Wer könnte sich, wenn er auch nur eine geringe[468] Kenntnis von Emils Charakter hat, sein Benehmen bei dieser Gelegenheit nicht vorstellen?

So bin ich denn der Vertraute meiner beiden jungen Leute und der Vermittler ihrer Liebe. Eine schöne Aufgabe für einen Erzieher! So schön in der Tat, daß ich in meinem ganzen Leben nichts verrichtet habe, was mich in meinen eigenen Augen so erhoben und mir eine so große Zufriedenheit mit mir selbst verliehen hätte. Uebrigens ist diese Beschäftigung mit mancherlei Annehmlichkeiten verknüpft. Ich bin im Hause nicht unwillkommen. Bei der Sorge, die es macht, die Liebenden in Ordnung zu halten, verläßt man sich ganz auf mich. Emil, der in ewiger Furcht schwebt, mir zu mißfallen, war nie so lenksam wie jetzt. Das junge Mädchen erdrückt mich förmlich mit ihren Freundschaftsbeziehungen, durch die ich mich jedoch nicht täuschen lasse, sondern von denen ich nur so viel als meiner Person geltend betrachte, als mir zukommt. Auf diese Weise entschädigt sie sich mittelbar für die Ehrfurcht, in welcher sie Emil erhält. In meiner Person überhäuft sie ihn mit tausenderlei zärtlichen Liebkosungen, die sie ihm nimmer erweisen würde, und wenn es ihr Leben gälte. Emil dagegen, der da weiß, daß ich nicht die Absicht habe, seinen Interessen zu schaden, ist entzückt darüber, daß ich in einem so guten Einvernehmen mit ihr lebe. Er tröstet sich, wenn sie auf einem Spaziergang seinen Arm ablehnt, sobald es nur geschieht, um aus Rücksicht für ihn den meinigen vorzuziehen. Er entfernt sich ohne Murren, nachdem er mir die Hand gedrückt und mit Mund und Augen ganz leise gesagt hat: »Freund, sprechen Sie für mich.« Aufmerksam folgt er uns mit den Augen. Er bemüht sich, unsere Gefühle auf unseren Gesichtern zu lesen und sich den Gang unseres Gesprächs aus unseren Gebärden zu erklären. Er weiß, daß alles, was wir reden, nur ihn betrifft. Gute Sophie, welche Freude gewährt es deinem aufrichtigen Herzen, wenn du dich, ohne von Telemach gehört zu werden,[469] mit seinem Mentor unterhalten kannst! Mit welch liebenswürdiger Offenherzigkeit lässest du ihn alles lesen, was dein zärtliches Herz bewegt! Mit welcher Freude zeigst du ihm deine ganze Achtung vor seinem Zögling! Mit welch rührender Unbefangenheit enthüllst du ihm noch weit süßere Gefühle! Mit welch erheucheltem Zorne verabschiedest du den aufdringlichen Verehrer wieder, wenn er sich von seiner Ungeduld hinreißen läßt, dich zu unterbrechen! Mit welch reizendem Unwillen wirfst du ihm seine Rücksichtslosigkeit vor, wenn er dich verhindern will, etwas Gutes von ihm zu sagen oder zu hören, und in meinen Antworten stets einen neuen Grund zu finden, ihn zu lieben!

Nachdem Emil es endlich so weit gebracht hat, daß er als erklärter Liebhaber geduldet wird, nimmt er auch alle Rechte eines solchen in Anspruch. Er plaudert, ist empfindlich, fleht, wird lästig. Wie streng man auch mit ihm reden, wie sehr man ihn auch quälen mag, er fragt wenig danach, wenn es ihm nur gelingt, sich Gehör zu verschaffen. Endlich setzt er es, wenn auch mit vieler Mühe, durch, daß Sophie sich ihrerseits geneigt zeigt, offen die Herrschaft einer Geliebten über ihn auszuüben, daß sie ihm vorschreibt, was er tun soll, daß sie befiehlt, anstatt zu bitten, daß sie genehmigt, anstatt zu danken, daß die Zahl und Zeit der Besuche festsetzt, daß sie ihm verbietet, vor dem bestimmten Tage zu kommen und seinen Besuch über die bestimmte Stunde auszudehnen. Und das alles faßt sie nicht etwa scherzhaft auf, sondern es ist ihr voller Ernst. Verstand sie sich anfangs nur mit Mühe dazu, diese Rechte anzunehmen, so beweist sie dagegen bei Ausübung derselben eine Strenge, die den armen Emil oft mit Bedauern erfüllt, sie ihr eingeräumt zu haben. Was sie aber auch immer anordnen mag, so erhebt er niemals Widerspruch dagegen, und oft blickt er mich, wenn er fortgeht, um zu gehorchen, mit freudestrahlenden Augen an, welche mir sagen sollen: »Du kannst dich jetzt selbst überzeugen, daß sie mich als[470] ihr Eigentum betrachtet.« Indessen wirft ihm die Hochmütige einen verstohlenen Blick zu und lächelt im geheimen über den Stolz ihres Sklaven.

Albano und Raffael, leihet mir den Pinsel der reinsten Wonne! Göttlicher Milton, lehre meine ungeübte Feder die Freuden der Liebe und der Unschuld schildern! Aber nein, verbergt vielmehr eure gleisnerische Kunst vor der heiligen Wahrheit der Natur. Wenn ihr nur fühlende Herzen und züchtige Seelen habt, dann könnt ihr eure Phantasie frei und unbesorgt über die Wonne der beiden jungen Liebenden umherschweifen lassen, welche sich unter den Augen ihrer Eltern und Führer ungescheut der süßen und doch so trügerischen Illusion überlassen, in dem Freudenrausch ihres Sehnens sich langsam dem Ziele nähern und aus Kränzen und Blumengewinden das Band schlingen, welches sie bis zum Grabe vereinigen soll. So viel bezaubernde Bilder müssen mich endlich selbst in eine Art Rausch versetzen; ohne Ordnung und bestimmte Reihenfolge bieten sich mir stets neue dar. Wer, der ein Herz hat, sollte sich nicht das köstliche Gemälde der verschiedenen Lagen des Vaters, der Mutter, der Tochter, des Erziehers, des Zöglings und aller Zusammenwirken zur Vereinigung des reizendsten Paares, dessen Glück Liebe und Tugend begründen können, zu entwerfen vermögen?

Jetzt, wo Emil alles hervorsucht, um zu gefallen, beginnt er zu fühlen, wie wertvoll die zur Erheiterung beitragenden Künste sind, welche er sich angeeignet hat. Sophie findet Freude am Gesang, und deshalb singt er mit ihr. Ja, er läßt es dabei nicht bewenden, er gibt ihr auch Unterricht in der Musik. Sie ist lebhaft und anmutig, hüpft gern umher, und folglich tanzt er mit ihr. Er verwandelt ihre kunstlosen Sprünge in zierlichen Tanz und bildet sie in dieser Kunst vollkommen aus. Diese Unterrichtsstunden sind reizend, ausgelassene Heiterkeit belebt sie und versüßt die schüchterne Zurückhaltung der Liebe. Einem Liebenden[471] ist es schon gestattet, solchen Unterricht mit Wonne zu geben; es ist ihm gestattet, als Herr seiner Herrin aufzutreten.

Man hat ein altes, völlig unbrauchbares Klavier. Emil bringt es wieder leidlich in Ordnung und stimmt es. Er versteht sich auf die Anfertigung musikalischer Instrumente ebensogut wie auf die Tischlerei. Hat er doch stets den Grundsatz befolgt, in allem, was er selbst verrichten kann, auf fremde Hilfe zu verzichten. Das Haus hat eine malerische Lage; er nimmt verschiedene Ansichten desselben auf, bei welchem ihm auch Sophie mitunter hilfreiche Hand leistet, und mit denen sie dann das Arbeitszimmer ihres Vaters schmückt. Die Rahmen sind freilich nicht vergoldet, aber es bedarf solcher auch gar nicht. Dadurch, daß Sophie Emil beim Zeichnen zuschaut und seine Arbeiten nachzeichnet, vervollkommnet sie sich mehr und mehr auch in dieser Kunst, denn auch in ihr nimmt sie ihn sich zum Muster. Sie pflegt alle ihre Talente, und ihre Anmut verschönert sie alle. Ihre Eltern erinnern sich wieder der Zeiten ihres früheren Reichtums, da sie von neuem die schönen Künste, die ihnen denselben allein wert machten, rings um sich glänzen sehen. Die Liebe hat ihr ganzes Haus geschmückt; sie allein ist der Zauberstab, unter dem darin wieder ohne Kosten und Mühe dieselben Freuden erblühen, welche sonst nur mit großem Geldaufwand und mit vielen Verdrießlichkeiten erkauft werden konnten.

Wie die Götzendiener den Gegenstand seiner Verehrung mit den Schätzen, die für ihn den höchsten Wert haben, bereichert und auf seinem Altare den Gott schmückt, den er anbetet, so will der Liebende die Reize seiner Geliebten, so vollkommen sie auch in seinen Augen ist, mit immer neuem Schmucke noch erhöhen. Sie bedarf desselben freilich nicht, um ihm zu gefallen, aber für ihn ist es ein Bedürfnis, sie zu schmücken. Er glaubt ihr damit eine neue Huldigung zu erweisen; seine Freude, sie zu betrachten, erhält dadurch einen neuen Reiz. Es kommt ihm so vor,[472] als nehme nichts Schönes seine richtige Stelle ein, wenn es nicht zum Schmuck der höchsten Schönheit dient. Es ist ein ebenso rührender wie lächerlicher Anblick zu sehen, mit welchem Eifer Emil Sophie in allem unterrichtet, was er weiß, ohne erst zu fragen , ob sie auch zu dem, was er ihr beibringen will, Lust hat, oder ob es sich überhaupt für sie eignet. Er spricht mit ihr von allem und erklärt ihr alles mit wahrhaft kindischem Eifer. Er bildet sich ein, sobald er es ihr nur sage, werde sie ihn augenblicklich verstehen. Er stellt sich schon im voraus vor, eine wie große Freude es ihm bereiten werde, mit ihr zu denken und zu philosophieren. Der Teil seiner Kenntnisse, den er vor ihren Augen nicht entfalten kann, erscheint ihm völlig unnütz. Es treibt ihm fast die Schamröte in die Wangen, wenn er etwas weiß, was sie nicht weiß.

Er erteilt ihr also Unterricht in der Philosophie, in der Naturkunde, in der Mathematik, in der Geschichte, kurz in allem. Sophie geht mit Freuden auf sein eifriges Bemühen ein und sucht daraus Nutzen zu ziehen. Wenn er es durchzusetzen vermag, daß er ihr den Unterricht vor ihr auf den Knien liegend erteilen darf, von welcher Glückseligkeit ist er dann erfüllt! Er glaubt den Himmel offen zu sehen. Gleichwohl ist diese Stellung, welche für die Schülerin noch peinlicher als für den Lehrer ist, für den Unterricht durchaus nicht die vorteilhafteste. Man weiß dann nicht, wohin man die Augen richten soll, um die ihnen folgenden zu vermeiden; begegnen sie sich aber, so geht es mit dem Unterrichte deshalb nicht besser.

Die Kunst zu denken ist den Frauen zwar nicht fremd, auf eine eingehendere Beschäftigung mit der Lehre vom Denken dürfen sie sich indes nicht einlassen. Obgleich Sophie alles begreift, bleibt doch nicht viel in ihr haften. Ihre größten Fortschritte macht sie in der Moral sowie in allen Dingen, bei welchen der Geschmack den Ausschlag gibt. In der Naturkunde behält sie nur einige allgemeine Gesetze und[473] gewinnt daneben eine unklare Vorstellung vom Weltgebäude. Betrachten sie auf ihren Spaziergängen die Wunder der Natur, so wagen ihre unschuldigen und reinen Herzen sich bisweilen bis zum Schöpfer derselben zu erheben. Sie fürchten seine Gegenwart nicht, sie schütten miteinander ihr Herz vor ihm aus.

Wie! Zwei Liebende in der Blüte ihres Lebens unterhalten sich bei ihrem traulichen Zusammensein von religiösen Dingen? Sie bringen ihre Zeit damit zu, ihren Katechismus aufzusagen! Wozu soll es dienen, das Erhabene in den Staub herabzuziehen? Ja, unstreitig tun sie es in der Illusion, die sie bezaubert hält: jeder erblickt in dem anderen ein vollkommenes Wesen, sie lieben sich, sie unterhalten sich mit Begeisterung von dem, was der Tugend erst Wert verleiht. Gerade die Opfer, die sie derselben bringen, machen sie ihnen teuer. Bei den Ausbrüchen ihrer Leidenschaft, die sie besiegen müssen, weinen sie mitunter gemeinschaftlich Tränen, reiner als der Tau des Himmels, und diese süßen Tränen gießen über ihr ganzes Leben einen eigenen Zauber. Sie leben in dem süßesten Wahne, der sich je menschlicher Seelen bemächtigen kann. Selbst die Entbehrungen, die sie sich dadurch auferlegen, daß sie ihrer Leidenschaft widerstehen, erhöhen ihr Glück und gereichen ihnen in ihren eigenen Augen zur Ehre. Ihr sinnlichen Menschen, ihr Körper ohne Seele, dereinst werden sie auch eure Freuden kennen lernen und lebenslänglich jene glückliche Zeit zurückwünschen, wo sie sich ihnen nicht hingegeben haben!

Ungeachtet dieses innigen Einverständnisses kommen doch bisweilen Meinungsverschiedenheiten, ja sogar kleine Zänkereien vor. Der Geliebten fehlt es nicht an Eigensinn, und der Geliebte braust leicht auf. Allein dergleichen kleine Stürme pflegen schnell vorüberzugehen und tragen nur dazu bei, die Eintracht zu befestigen. Die Erfahrung lehrt Emil, sich vor ihnen nicht allzusehr zu fürchten. Die Versöhnungsszenen[474] führen für ihn stets mehr Vorteil, als die Zwistigkeiten Nachteil herbei. Die Frucht der ersten berechtigt ihn zu der Hoffnung, daß auch die folgenden beständig denselben Ausgang nehmen werden. Hierin täuscht er sich allerdings, allein wenn er am Ende auch nicht stets einen gleich augenscheinlichen Vorteil daraus zieht, so hat er doch immer den Gewinn, daß er dabei wahrnehmen kann, wie sich Sophiens aufrichtiges Interesse, welches sie an seinem Herzen nimmt, mehr und mehr befestigt. Man wünscht in Erfahrung zu bringen, worin denn dieser Gewinn besteht. Ich gehe auf Erfüllung dieses Wunsches um so lieber ein, als mir dieses Beispiel Veranlassung gibt, einen sehr nützlichen Grundsatz aufzustellen und einen höchst unheilvollen zu bekämpfen.

Emil liebt, folglich ist er nicht verwegen. Noch besser wird man begreifen, daß die gebieterische Sophie nicht das Mädchen ist, ihm Freiheiten zu gestatten. Da indes die Klugheit in allen Dingen ihre Grenze hat, so kann man letztere weit eher einer zu großen Härte als einer zu großen Nachsicht zeihen, und selbst ihr Vater hegt mitunter die Besorgnis, daß ihr übertriebener Stolz noch in Hochmut ausarten könne. Selbst in ihren geheimsten Zwiegesprächen würde sich Emil nicht erdreisten, sie auch nur um die geringste Gunstbezeigung zu bitten, ja er nimmt nicht einmal den Anschein an, als ob er sich danach sehne. Wenn sie auf den Spaziergängen auch gern Arm in Arm mit ihm geht, ein Liebesbeweis, der aber nie den Charakter eines Rechts annehmen darf, so wagt er doch kaum bisweilen seufzend ihren Arm an seine Brust zu drücken. Nach langem Schwanken erkühnt er sich wohl einmal, verstohlenerweise einen Kuß auf ihr Kleid zu drücken, und hin und wieder ist er so glücklich, daß sie sich stellt, als ob sie es nicht bemerke. Als er sich jedoch eines Tages dieselbe Freiheit etwas offener herausnehmen will, kommt es ihr in den Sinn, sein Betragen höchst unartig zu finden.[475] Er beharrt bei seinem Vorsatz und sie wird ärgerlich. Im Unwillen entschlüpfen ihr einige harte Worte, welche Emil nicht unerwidert läßt. Der Rest des Tages vergeht unter Schmollen und man scheidet sehr mißvergnügt.

Sophie ist übler Laune. Ihre Mutter ist ihre Vertraute; wie sollte sie dieser ihren Kummer verhehlen? Es ist ihre erste Uneinigkeit, und eine einstündige Uneinigkeit ist eine gar wichtige Angelegenheit! Sie bereut ihren Fehler; die Mutter gibt ihr Erlaubnis, ihn wieder gutzumachen, und der Vater befiehlt es ihr.

Voller Unruhe erscheint Emil am folgenden Tage etwas früher als gewöhnlich. Sophie hilft ihrer Mutter bei ihrem Anzug, und der Vater befindet sich ebenfalls im Zimmer. Emil tritt ehrfurchtsvoll, aber mit trauriger Miene ein. Kaum haben ihn Vater und Mutter begrüßt, so dreht sich Sophie um und fragt ihn, während sie ihm die Hand reicht, mit zärtlichem Tone, wie er sich befinde. Es ist augenscheinlich, daß ihm dieses reizende Händchen so nur zum Kusse hingehalten wird. Er ergreift es zwar, küßt es aber nicht. Ein wenig beschämt zieht Sophie die Hand so anmutig wie möglich zurück. Emil, der sich auf das Benehmen der Frauen nicht versteht und nicht begreift, wozu der Eigensinn nützt, vergißt nicht so leicht und beruhigt sich nicht so schnell. Als der Vater Sophiens Verlegenheit bemerkt, bringt er sie durch seine Scherzworte noch vollends in Verwirrung. Beschämt und gedemütigt weiß die arme Sophie kaum noch, was sie tut, und würde die ganze Welt darum geben, wenn sie weinen dürfte. Je mehr sie sich zu beherrschen sucht, desto mehr schwillt ihr das Herz. Endlich entrinnt wider ihren Willen ihren Augen eine Träne. Emil sieht diese Träne, wirft sich vor Sophie auf die Knie, ergreift ihre Hand und küßt sie zu wiederholten Malen leidenschaftlich. »Wahrhaftig«, sagt der Vater unter lautem Lachen, »Sie behandeln sie viel zu gütig; ich würde alle diese Tollheiten weniger nachsichtig aufnehmen und den[476] Mund bestrafen, der mich beleidigt hätte.« Durch diese Rede ermutigt, schaut Emil die Mutter bittend an, und da er ein Zeichen der Einwilligung wahrzunehmen glaubt, nähert er sich zitternd Sophiens Gesicht, die jedoch, um den Mund zu retten, den Kopf wendet und ihm ihre rosige Wange hinhält. Jetzt wird er jedoch zudringlich, will sich damit nicht zufriedengeben und findet auch nur schwachen Widerstand. Welch ein Kuß, wenn er nicht unter den Augen einer Mutter geraubt wäre! Strenge Sophie, sei auf deiner Hut! Er wird dich oft um Erlaubnis bitten, dein Kleid küssen zu dürfen, in der Hoffnung, daß du ihm mitunter seine Bitte abschlägst.

Nach dieser exemplarischen Bestrafung verläßt der Vater eines Geschäftes wegen das Zimmer. Die Mutter schickt Sophie unter einem Vorwande hinaus, wendet sich darauf an Emil und sagt in gar ernstem Tone zu ihm: »Mein Herr, ich glaube, daß ein junger Mann von so guter Herkunft, der eine so vortreffliche Erziehung erhalten hat und sich sonst durch eine so edle Gesinnung und ein so sittlich reines Verhalten auszeichnet wie Sie, nicht darauf ausgeht, die Freundschaft, welche ihm eine Familie erweist, durch Entehrung derselben zu lohnen. Ich verlange weder übertriebene Zurückhaltung noch ein sprödes Wesen. Ich weiß, was man der lebhaften Jugend nachsehen muß. Der Vorgang, den ich unter meinen Augen geduldet habe, beweist es Ihnen zur Genüge. Befragen Sie Ihren Freund über Ihre Pflichten. Er wird Ihnen erklären, welch ein Unterschied zwischen den Tändeleien, welche die Gegenwart eines Vaters und einer Mutter gutheißt, und den Freiheiten besteht, die man sich in ihrer Abwesenheit herausnimmt, indem man ihr Vertrauen mißbraucht und dieselben Gunstbeweisungen, die unter ihren Augen völlig unschuldig sind, in Fallstricke verwandelt. Er wird Ihnen erklären, mein Herr, daß sich meine Tochter Ihnen gegenüber kein anderes Unrecht vorzuwerfen hat, als daß sie nicht gleich beim ersten[477] Male erkannte, was sie nie hätte dulden sollen. Er wird Ihnen erklären, daß alles, was man als eine Gunst aufnimmt, auch wirklich eine solche wird, und daß es eines Mannes von Ehre unwürdig ist, mit der Einfalt eines jungen Mädchens Mißbrauch zu treiben, um sich unter dem Schleier des Geheimnisses dieselben Freiheiten anzumaßen, die sie vor aller Welt Augen dulden darf. Denn weiß man auch, was der Anstand öffentlich zu tun gestattet, so weiß man doch nie, wobei derjenige, welcher sich zum alleinigen Richter seiner Einfälle aufwirft, unter dem Schatten des Geheimnisses stehenbleibt.«

Nach diesem durchaus gerechten Verweise, der im Grunde genommen mehr gegen mich als gegen meinen Zögling gerichtet war, geht die Mutter aus dem Zimmer und läßt mich in Bewunderung der seltenen Klugheit einer Frau, welche in einem Kuß auf den Mund ihrer Tochter, sobald sie zugegen ist, nichts findet, während sie darüber erschrickt, daß man sich im geheimen das Kleid derselben zu küssen erlaubt. Bei dem Gedanken an die Torheit unserer Grundsätze, welche stets die wahre Sittsamkeit dem äußern Anstand aufopfern, sehe ich erst den Grund ein, weshalb die Sprache um so keuscher ist, je verderbter die Herzen sind, und weshalb die Menschen den Anstand desto strenger beobachten, je unreineren Herzens sie sind.

Indem ich Emil bei dieser Gelegenheit die Pflichten einpräge, mit denen ich ihn schon früher hätte bekannt machen sollen, drängt sich mir eine neue Bemerkung auf, die Sophie vielleicht zur höchsten Ehre gereicht, die ich mich aber trotzdem hüten werde, ihrem Liebhaber mitzuteilen: die Bemerkung nämlich, daß ihr dieser vermeintliche Stolz, den man ihr zum Vorwurfe macht, augenscheinlich nur als eine sehr weise Vorsichtsmaßregel dient, um sich vor sich selbst zu bewahren. Da sie fühlt, daß ihr Temperament leider sehr leicht entzündlich ist, so fürchtet sie den ersten Funken und sucht ihn mit aller Macht fernzuhalten. Also[478] nicht Stolz, sondern gerade Demut treibt sie zu dieser Strenge. Die Demut übt über Emil die Herrschaft aus, die sie über Sophie nicht zu haben fürchtet; sie bedient sich seiner, um letztere zu bekämpfen. Besäße Sophie mehr Zutrauen zu sich selbst, so würde sie weniger stolz sein. Welches Mädchen in der Welt ist wohl, von diesem einzigen Punkte abgesehen, gefälliger und sanfter als sie? Wer erträgt geduldiger eine Beleidigung? Wer ist mehr auf seiner Hut, irgend jemand zu kränken? Wer macht geringere Ansprüche auf irgend etwas, außer auf die Tugend? Und gleichwohl ist sie auf ihre Tugend nicht stolz; sie verschanzt sich nur hinter einem angenommenen Stolz, um ihre Tugend zu bewahren. Kann sie sich ohne Gefahr der Neigung ihres Herzens überlassen, so überhäuft sie sogar ihren Geliebten mit Liebkosungen. Aber ihre verständige Mutter teilt alle diese Einzelheiten nicht einmal dem Vater mit: die Männer brauchen doch nicht alles zu wissen.

Weit davon entfernt, auf ihre Eroberung stolz zu scheinen, ist Sophie vielmehr noch freundlicher und weit anspruchsloser gegen jedermann geworden, den einzigen vielleicht ausgenommen, der gerade die Ursache dieses Wechsels ist. Das Gefühl der Unabhängigkeit schwellt nicht mehr ihr edles Herz. In bescheidenster Weise rühmt sie sich eines Sieges, welcher ihr die eigene Freiheit kostet. Sie hat ein weniger ungezwungenes Benehmen, und ihre Sprache ist schüchterner geworden, seitdem sie das Wort »Geliebter« nicht mehr ohne zu erröten anzuhören vermag. Aber durch diese Verlegenheit blickt doch eine gewisse Befriedigung hindurch und selbst in ihrer Scham liegt kein unangenehmes Gefühl. Namentlich tritt ein auffallender Unterschied in ihrem Benehmen hervor, wenn unvermutet jugendliche Gäste erscheinen. Seitdem sie dieselben nicht mehr fürchtet, hat die übertriebene Zurückhaltung, die sie ihnen gegenüber beobachtete, bedeutend nachgelassen. Jetzt, wo ihre Wahl entschieden ist, zeigt sie sich im Umgang mit ihr gleichgültigen[479] Herren artig und höflich. Da sie weniger hohe Anforderungen an sie stellt, seitdem sie kein Interesse mehr für sie fühlt, findet sie dieselben als Leute, die ihr nie etwas sein werden, liebenswürdig genug.

Wenn mit wahrer Liebe Koketterie vereinbar wäre, so würde ich sogar einige schwache Spuren derselben in der Art und Weise zu bemerken glauben, wie sich Sophie in Gegenwart ihres Geliebten ihnen gegenüber benimmt. Man sollte fast meinen, daß sie, nicht zufrieden mit der glühenden Leidenschaft, die sie durch eine köstliche Mischung von Zurückhaltung und Zärtlichkeit in ihm entzündet hat, auch eine ganz besondere Lust darin findet, diese Leidenschaft durch ein wenig Unruhe noch immer mehr anzustacheln. Man sollte meinen, sie gehe absichtlich darauf aus, ihre jungen Gäste zu erheitern, nur um Emil durch den Anblick einer Fröhlichkeit, die ihr so gut steht und die sie doch nie ihm gegenüber zu zeigen wagt, Qualen zu bereiten. Indes ist Sophie zu aufmerksam, zu gut und zu verständig, um ihn wirklich zu quälen. Um dieses gefährliche Reizmittel zu mildern, vertreten bei ihr Liebe und Sittsamkeit die Stelle der Klugheit. Sie versteht ihn in Unruhe zu versetzen, aber im rechten Augenblick auch wieder zu besänftigen, und wenn sie ihn auch bisweilen beunruhigt, so betrübt sie ihn doch niemals. Um der Besorgnis willen, die sie hegt, sie könne ihren Geliebten nie fest genug an sich fesseln, wollen wir die Sorge verzeihen, die sie ihm bisweilen bereitet.

Welche Wirkung werden nun aber diese kleinen Künste auf Emil ausüben? Wird er eifersüchtig werden, oder wird er es nicht werden? Das wäre jetzt zu untersuchen, denn dergleichen Abschweifungen gehören ebenfalls zu dem Gegenstande dieser Abhandlung und entfernen mich nur wenig von der Sache selbst.

Ich habe schon vorher den Nachweis geführt, daß diese Leidenschaft bei den Dingen, die lediglich auf der Meinung beruhen, in den Herzen der Menschen erwacht. Bei der[480] Liebe verhält es sich jedoch anders. Hier scheint die Eifersucht so nahe an Natur zu streifen, daß sich kaum annehmen läßt, sie habe ihre Quelle nicht in derselben. Selbst das Beispiel der Tiere, unter denen sich bei verschiedenen die Eifersucht bis zur Wut steigert, scheint dies unwiderleglich zu beweisen. Bringt etwa die Meinung der Menschen die Hähne dazu, sich zu zerfleischen, und die Stiere, sich bis auf den Tod zu bekämpfen?

Der Widerwille gegen alles, was unsere Freuden stört und trübt, ist, wie sich nicht bestreiten läßt, eine natürliche Regung. Bis zu einem gewissen Punkte verhält es sich mit dem Verlangen, den Gegenstand, der unser Gefallen erregt, ausschließlich zu besitzen, freilich ebenso. Wenn sich jedoch dieses zur Leidenschaft gewordenen Verlangen in Wut oder in eine mißtrauische und verletzende Laune, unter dem Namen Eifersucht, verwandelt, dann ist es etwas anderes. Diese Leidenschaft kann allerdings ihre Quelle in der Natur haben, aber es ist nicht immer der Fall; es ist notwendig, hierbei einen Unterschied zu machen.

Das der Tierwelt entnommene Beispiel habe ich bereits früher in meiner Abhandlung über die Ungleichheit (discours sur l'inégalité) weitläufig erörtert, und jetzt, wo ich von neuem darüber nachdenke, scheint mir die damals angestellte Untersuchung erschöpfend und überzeugend genug, um es wagen zu dürfen, meine Leser auf sie zu verweisen. Zu den Unterscheidungen, die ich in jener Schrift gemacht habe, will ich nur die Bemerkung hinzufügen, daß die Eifersucht, welche aus der Natur stammt, hauptsächlich von der geschlechtlichen Fähigkeit bedingt wird, so daß sie da, wo diese Fähigkeit unbegrenzt ist oder zu sein scheint, ihren Gipfelpunkt erreicht, denn dann betrachtet das Männchen, welches seine Rechte nach seinen Bedürfnissen abmißt, jedes andere Männchen nur als einen nicht zu duldenden Nebenbuhler. Da sich in diesen Tiergattungen die Weibchen den zuerst Kommenden ergeben, so gehören sie den Männchen[481] auch nur nach dem Rechte der Eroberung und verursachen deswegen ewige Kämpfe unter ihnen.

In den Gattungen dagegen, wo sich das Männchen nur ein Weibchen zugesellt, wo die Paarung folglich eine Art moralisches Band, eine Art Ehe hervorruft, setzt das Weibchen, da es dem Männchen seiner Wahl, dem es sich ergeben hat, angehört, gewöhnlich jedem anderen Widerstand entgegen. Da nun dem Männchen für die Treue des Weibchens der Umstand bürgt, daß es ihm ja nur aus Liebe den Vorzug geschenkt hat, so beunruhigt es sich auch weniger bei dem Anblick anderer Männchen und lebt mit ihnen friedlicher. In diesen Gattungen teilt das Männchen die Sorge für die Jungen, und nach einem jener Naturgesetze, welche man nicht ohne Rührung wahrnehmen kann, scheint das Weibchen dem Vater die Zuneigung, die er für seine Kinder hegt, vergelten zu wollen.

Lenken wir nun unsere Blicke auf das Menschengeschlecht in seiner ursprünglichen Einfachheit, so läßt sich an dem beschränkten Vermögen des Mannes sowie an der Mäßigkeit seines geschlechtlichen Verlangens leicht erkennen, daß ihn die Natur dazu bestimmt hat, sich mit einer einzigen Frau zu begnügen. Eine Bestätigung findet diese Annahme in der numerischen Gleichheit der Individuen beider Geschlechter, wenigstens in unserem Klima, eine Gleichheit, die bei den Tiergattungen nicht vorhanden ist, in denen die größere Fähigkeit der Männchen mehrere Weibchen um ein einziges schart. Obgleich der Mann nicht wie der Tauber brütet und ebensowenig Brüste hat, um zu säugen, weswegen er eigentlich in die Klasse der Vierfüßler gehört, so ist die Frau doch auch auf seine Hilfe angewiesen, denn die Kinder sind so lange schwach und ungeschickt, daß sie wie die Mutter nicht leicht der Liebe des Vaters und seiner um ihretwillen gern gebrachten Opfer entbehren könnten.

Alle diese übereinstimmenden Beobachtungen liefern demnach den Beweis, daß sich aus der leidenschaftlichen[482] Eifersucht der Männchen in manchen Tierklassen noch kein Schluß auf den Menschen ziehen läßt. Sogar in der Ausnahme der wärmeren Himmelsstriche, in denen fast überall die Vielweiberei zur Herrschaft gelangt ist, findet dies Prinzip nur eine noch größere Bestätigung, weil die größere Anzahl der Frauen die Männer zu tyrannischen Vorsichtsmaßregeln geführt und das Gefühl der eigenen Schwäche sie zur Anwendung eines Zwanges getrieben hat, um die Naturgesetze zu umgehen.

Unter uns, wo die gleichen Gesetze in diesem Punkte zwar weniger, dafür aber in einem entgegengesetzten und noch weit verabscheuungswerteren Sinne um so häufiger umgangen werden, hat die Eifersucht ihre Veranlassung mehr in den in der Gesellschaft herrschenden Leidenschaften als in dem ursprünglichen Naturtriebe. Bei den meisten galanten Verhältnissen übersteigt der Haß, den der Liebende gegen seine Nebenbuhler hegt, um vieles seine Liebe zur Geliebten. Wenn er befürchtet, nicht der einzige zu sein, der Erhörung gefunden hat, so ist dies die Wirkung jener Eigenliebe, deren Ursprung ich bereits nachgewiesen habe, und es leidet darunter mehr die Eitelkeit als die Liebe. Außerdem haben unsere ungeschickten Einrichtungen die Frauen zu einer solchen Verstellung189getrieben und ihre Gelüste in so hohem Grade entflammt, daß man sich kaum auf ihre erprobteste Zuneigung verlassen kann, und daß sie außerstande sind, einen Vorzug zu erkennen zu geben, welcher über die Furcht vor Nebenbuhlern zu beruhigen vermöchte.

Mit der wahren Liebe verhält es sich anders. In der schon erwähnten Schrift habe ich darauf aufmerksam gemacht,[483] daß dies Gefühl nicht so natürlich ist, als man wohl denkt. Es ist ein bedeutender Unterschied zwischen der süßen Gewohnheit, welche den Mann mit Zuneigung zu seiner Gefährtin erfüllt, und jener zügellosen Leidenschaft, welche sich an den eingebildeten Reizen eines Gegenstandes berauscht, der sich ihr ganz anders darstellt, als er in Wirklichkeit ist. Diese Leidenschaft, die den ausschließlichen Vorzug für sich in Anspruch nimmt, unterscheidet sich nur insofern von der Eitelkeit, als diese alles verlangt und nichts gewährt, weshalb sie stets unbillig auftreten wird, während die Liebe, die ebensoviel gewährt als sie verlangt, schon an sich ein von Billigkeit erfülltes Gefühl ist. Je mehr sie übrigens verlangt, desto mehr ist sie zur Leichtgläubigkeit geneigt. Dieselbe Illusion, welche sie hervorruft, bewirkt, daß sie sich leicht überreden läßt. Ist die Liebe voller Unruhe, so ist die Achtung dagegen voller Vertrauen, und nie bestand Liebe ohne Achtung in einem ehrbaren Herzen, weil jeder in dem Gegenstande seiner Liebe nur Eigenschaften liebt, auf die er den höchsten Wert legt.

Befindet man sich darüber im klaren, so kann man mit Sicherheit voraussagen, welcherlei Art von Eifersucht Emil fähig sein wird; denn da diese Leidenschaft kaum einen Keim in dem menschlichen Herzen hat, so wird die Gestalt, in der sie auftritt, einzig und allein von der Erziehung bestimmt. Liebt Emil und bemächtigt sich seiner die Eifersucht, so wird er nicht etwa zornig, aufgebracht und mißtrauisch, sondern zart, gefühlvoll und schüchtern sein. Er wird sich mehr beunruhigt als gereizt zeigen. Er wird es sich mehr angelegen sein lassen, seine Geliebte zu gewinnen, als seinen Nebenbuhler zu bedrohen. Er wird ihn als ein Hindernis auf die Seite zu schieben suchen, wenn es ihm möglich ist, ihn aber nicht als einen Feind hassen. Sollte er ihn indes doch hassen, so liegt die Ursache nicht in der Kühnheit, ihm ein Herz, auf welches er Anspruch erhebt, streitig machen zu wollen, sondern in der wirklichen Gefahr,[484] der er sich ausgesetzt sieht, es zu verlieren. Kein ungerechter Stolz wird sich in ihm törichterweise um deswillen gekränkt fühlen, daß man sich unterfängt, zu demselben Wesen wie er seine Blicke zu erheben. In der richtigen Einsicht, daß sich das Recht auf Bevorzugung einzig und allein auf das Verdienst gründet, und daß die Ehre in dem glücklichen Erfolge liegt, wird er sich doppelte Mühe geben, sich liebenswürdig zu machen, und wahrscheinlich wird er zum Ziele gelangen. Wenn die edle Sophie ihn in Unruhe versetzt und dadurch seine Liebe reizt, so wird sie auch dafür Sorge tragen, daß dieselbe nicht einen zu hohen Grad erreicht, und ihn zu entschädigen wissen. Die Nebenbuhler, welche nur geduldet wurden, ihn auf die Probe zu stellen, werden bald verabschiedet sein.

Aber wohin bin ich unmerklich geraten? O Emil, was ist aus dir geworden? Kann ich in dir meinen Zögling wieder erkennen? Wie tief gesunken zeigst du dich mir! Wo ist dieser so streng erzogene Jüngling, welcher den Einflüssen der Jahreszeiten trotze, seinen Körper durch die beschwerlichsten Arbeiten stählte und seine Seele allein unter die Gesetze der Weisheit stellte? Wo ist er, der, den Vorurteilen wie den Leidenschaften unzugänglich, nur die Wahrheit liebte, nur der Vernunft folgte und sich nur um sich selbst kümmerte? Jetzt, wo ihn ein müßiges Leben verweichlicht hat, läßt er sich von Frauen leiten! Ihre Belustigungen bilden seine Beschäftigung, ihr Wille gilt ihm als Gesetz! Ein junges Mädchen gebieten über sein Schicksal. Vor ihm liegt er im Staube und demütigt er sich! Der ernste Emil ist der Spielball eines Kindes!

So wechseln im Leben die Szenen. Jedes Alter wird von seinen besonderen Triebfedern in Bewegung gesetzt. Der Mensch aber bleibt stets derselbe. Im zehnten Jahre läßt er sich durch Kuchen lenken, im zwanzigsten durch eine Geliebte, im dreißigsten durch Vergnügungen, im vierzigsten durch Ehrgeiz, im fünfzigsten durch Habsucht. Wann aber[485] jagt er nur der Weisheit nach? Glücklich, wer wider seinen Willen ihr entgegengeführt wird! Was liegt an dem Führer, dessen man sich dabei bedient, wenn er uns nur zum Ziele bringt? Helden, ja sogar Weise haben der menschlichen Schwäche diesen Tribut bezahlt, und mancher, dessen Finger erst haben die Spindel drehen müssen, ist nichtsdestoweniger ein großer Mann geworden.

Wollt ihr die Wirkung einer vorteilhaften Erziehung auf das ganze Leben ausdehnen, so sorget dafür, daß die guten Gewöhnungen der Kindheit bis ins Jünglingsalter beibehalten werden, und ist euer Zögling, was er sein soll, so bemüht euch, daß er zu allen Zeiten derselbe ist. Das ist die letzte Vollendung, die euch eurem Werke noch zu geben übrigbleibt. Namentlich aus diesem Grunde ist es von Wichtigkeit, den jungen Leuten noch einen Führer zu lassen, denn sonst braucht man wohl kaum zu befürchten, daß sie ohne seine Anleitung keinen Gegenstand für ihre Liebe finden würden. Die Erzieher, und besonders auch die Väter, huldigen oft der irrtümlichen Anschauung, daß die eine Lebensweise die andere ausschließe, und daß man, sobald man erwachsen ist, sich von allem lossagen müsse, was man als Kind getan habe. Verhielte es sich in der Tat so, wozu würde dann wohl die der Kindheit gewidmete Sorgfalt nützen, da die gute oder schlechte Anwendung, welche man von ihr machen könnte, mit ihr aufhören würde, und da man mit einer völlig verschiedenen Lebensweise auch notwendig eine andere Denkart annehmen müßte?

Wie nur schwere Krankheiten imstande sind, die Gedächtniskraft zu schwächen, so vermögen auch nur große Leidenschaften eine Lockerung der Sitten zu bewirken. Obgleich unser Geschmack und unsere Neigungen einem Wechsel unterworfen sind, so wird uns derselbe, der mitunter sehr schnell eintritt, doch durch die Art des Uebergangs weniger fühlbar gemacht. Die Aufeinanderfolge unserer Neigungen muß in derselben Weise stattfinden, in welcher ein geschickter[486] Maler bei der Abstufung der Farben verfährt, indem er unmerkliche Uebergänge hervorzubringen weiß, die Tinten mischt und verteilt, und damit keine derselben zu grell absticht, mehrere über sein ganzes Gemälde verbreitet. Diese Regel findet in der Erfahrung ihre Bestätigung. Unmäßige Leute ändern täglich ihre Neigungen, ihren Geschmack, ihre Gesinnung, und zeigen nur in der Gewohnheit des Wechselns Beständigkeit. Der maßvolle Mann dagegen kommt regelmäßig auf seine alten Gewohnheiten zurück, und verliert selbst im Alter nicht den Geschmack an Freuden, die er als Kind liebte.

Könnt ihr es dahin bringen, daß die jungen Leute beim Uebergang in ein neues Lebensalter auf das zurückgelegte nicht mit Verachtung blicken, daß sie trotz der Annahme neuer Gewohnheiten den alten nicht entsagen und ihre Freude darin finden, stets das zu tun, was gut ist, ohne Rücksicht auf die Zeit, in welcher sie es begonnen haben, dann allein werdet ihr euer Werk als gesichert betrachten und bis ans Ende ihrer Tage derselben versichert sein können, denn der am meisten zu fürchtende Umschwung vollzieht sich gerade in dem Alter, über welches ihr jetzt zu wachen habt. Wie man sich fortwährend nach ihm zurücksehnt, so verliert man in der Folge auch nur schwer die Neigungen, welche man in ihm gewonnen hat, während man sich ihnen, wenn eine Unterbrechung in ihnen eintrat, zeitlebens nicht wieder hingibt.

Die meisten Gewohnheiten, zu deren Annahme ihr eurer Ansicht nach die Kinder und jungen Leute bestimmt habt, sind gar keine wirklichen Gewohnheiten, weil sie dieselben nur gezwungenerweise angenommen haben und sie unlustig beobachten, und weil sie deshalb nur auf die Gelegenheit warten, sie wieder ablegen zu können. Aus dem Umstande, daß man sich gezwungen sieht, sich im Gefängnis aufzuhalten, gewinnt man den Aufenthalt in demselben noch nicht lieb. Statt den Widerwillen zu vermindern, erhöht[487] ihn dann eine solche Gewohnheit nur noch. Ganz anders verhält es sich mit Emil. Da er schon in seiner Kindheit alles, was er tat, nur aus freiem Antrieb und mit Freuden tat, so wird er, wenn er jetzt als Mann die frühere Tätigkeit beibehält, mit der Herrschaft der Gewohnheit die Süßigkeit der Freiheit verbinden. Das tätige Leben, die Arbeit der Arme, Leibesübung und Bewegung sind ihm in so hohem Grade zur Notwendigkeit geworden, daß er ihnen, ohne darunter zu leiden, nicht würde entsagen können. Ihn mit einem Male zu einer weichlichen und sitzenden Lebensweise zu zwingen, hieße ihn einsperren, in Fesseln schlagen, in einem gewaltsamen und unnatürlichen Zustande halten. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß seine Gemütsstimmung wie seine Gesundheit in gleicher Weise darunter leiden würden. Kaum vermag er in einem wohlverschlossenen Zimmer frei zu atmen. Ihm ist freie Luft, Bewegung und Anstrengung ein Bedürfnis. Selbst wenn er vor Sophie auf den Knien liegt, kann er sich nicht enthalten, hin und wieder einen verstohlenen Blick in das Freie zu werfen und zu wünschen, die Fluren mit ihr durchstreifen zu können. Trotzdem bleibt er, weil er einmal bleiben muß. Aber er ist unruhig, erregt und scheint mit sich selbst im Kampfe zu liegen; er bleibt, weil er gefesselt ist. Ihr werdet freilich den Einwand erheben, daß das doch gewiß Bedürfnisse seien, die durch meine Schuld eine Herrschaft über ihn ausübten, Beschränkungen, die ich ihm auferlegt hätte. Das ist allerdings wahr: ich habe ihn angehalten, sich dem Zustande des Menschen zu unterwerfen.

Emil liebt Sophie. Aber welche Reize haben ihn hauptsächlich angezogen? Ihre natürliche Güte, ihre Tugend, ihre Liebe zum Sittlichen. Sollte es wohl für ihn als ein Verlust gelten können, wenn er diese Liebe an seiner Geliebten schätzt? Und um welchen Preis hat Sophie ihrerseits seine Liebe angenommen? Um den Preis aller Gefühle, welche dem Herzen ihres Geliebten natürlich sind: die[488] Wertschätzung aller wahren Güter, Mäßigkeit, Einfachheit, edle Uneigennützigkeit, Verachtung alles Prunks und der Reichtümer. Emil besaß diese Tugenden bereits, noch ehe ihn die Liebe zu ihrer Uebung hätte bestimmen können. Worin hätte er sich also wirklich geändert? Es sind für ihn nur neue Gründe hinzugetreten, so zu sein, wie er ist. Das ist aber auch der einzige Punkt, in welchem er von dem, was er war, jetzt verschieden sein mag.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand, welcher mein Buch mit einiger Aufmerksamkeit gelesen hat, wähnen könnte, alle Verhältnisse in der Lage Emils seien ein bloßes Ergebnis des Zufalls. Ist es wohl ein Spiel des Zufalls, daß bei der großen Schar liebenswürdiger Mädchen in den Städten gerade die, welche ihm gefällt, fern in tiefster Zurückgezogenheit weilt? Ist es Zufall, daß er sie trifft, Zufall, daß sie füreinander passen, Zufall, daß sie nicht am nämlichen Orte wohnen können? Treibt auch dabei der Zufall sein Spiel, daß er erst in weiterer Entfernung von ihr eine Wohnung findet? Kann es Zufall sein, daß er sie so selten sieht und das Vergnügen, hin und wieder ihren Anblick genießen zu können, mit so vielen Mühseligkeiten erkaufen muß? Nach eurer Behauptung verweichlicht er sich, aber er härtet sich im Gegenteil ab. Er muß so kräftig sein, wie er es meiner Erziehung zu verdanken hat, um all den Beschwerden, welche er um Sophie willen ertragen muß, gewachsen zu sein.

Er wohnt zwei starke Stunden von ihr. Diese Entfernung dient ihm in ähnlicher Weise wie der Blasebalg der Schmiede. Durch sie härte ich die Pfeile der Liebe. Wohnten sie Tür an Türe, oder brauchte er sich zu ihrem Besuche nur auf die weichen Polster eines herrschaftlichen Wagens zu setzen, so würde ihm seine Liebe freilich keine Unbequemlichkeit verursachen, so würde er nach Pariser Art lieben. Hätte Leander aber wohl für Hero sterben wollen, wenn ihn das Meer nicht von ihr geschieden hätte? Leser, erspart[489] mir alle weiteren Worte! Fehlt es euch nicht an Verständnis für meine Lehren, so werdet ihr meine Regeln bis ins einzelne zur Genüge befolgen.

Bei den ersten Besuchen, die wir Sophie abstatteten, mieteten wir uns Pferde, um unser Ziel schneller zu erreichen. Wir finden diese Art zu reisen bequem und bedienen uns deshalb der Pferde öfter. Beim fünften Male hatte man uns erwartet. Ueber eine halbe Stunde vom Hause gewahren wir Leute vor uns auf dem Wege. Emil schaut aufmerksam nach ihnen hin, und das Herz beginnt ihm zu klopfen. Er reitet näher, erkennt Sophie, springt eilig vom Pferde, läuft, fliegt und liegt in wenigen Augenblicken der liebenswürdigen Familie zu Füßen. Emil liebt schöne Pferde; das seinige ist etwas wild; es fühlt sich frei und sprengt quer über das Feld fort. Ich reite hinterher, hole es mit Mühe ein und bringe es zurück. Da sich Sophie unglücklicherweise vor Pferden fürchtet, wage ich nicht, mich ihr zu nähern. Emil sieht nichts, allein Sophie flüstert ihm ins Ohr, welche Mühe sich sein Freund um seinetwillen habe geben müssen. Ganz beschämt eilt Emil herbei, ergreift die Pferde und bleibt zurück. Es ist ganz in der Ordnung, daß die Reihe einen jeden trifft. Er reitet voraus, um unsere Tiere den Dienstleuten zu übergeben. Da er sich gezwungen sieht, Sophie zurückzulassen, so kommt ihm das Reiten nicht mehr so angenehm vor. Außer Atem kehrt er zurück und begegnet uns auf halbem Wege.

Bei unserem nächsten Besuche will Emil von Pferden nichts mehr wissen. »Weshalb denn?« frage ich ihn; »wir brauchen ja nur einen Diener mitzunehmen, dem wir ihre Wartung übertragen können.« – »Ach,« versetzte er, »warum sollen wir der achtbaren Familie solche Ueberlast bereiten? Sie wissen ja, daß sie für unser aller, der Pferde wie Männer, Unterhalt sorgen will.« – »Es ist wahr,« erwidere ich, »sie besitzen die edle Gastfreundschaft der Dürftigkeit. Während die Reichen, die bei all ihrem äußeren Prunke[490] doch habsüchtig sind, nur ihre Freunde bei sich aufzunehmen, gewähren die Armen sogar den Pferden ihrer Freunde Unterkunft.« – »So lassen Sie uns denn zu Fuß gehen,« entgegnete er. »Sollten Sie sich das nicht zutrauen, Sie, der Sie stets so bereitwillig die ermüdenden Vergnügungen Ihres Kindes teilen?« – »Herzlich gern,« erwidere ich sofort, »auch muß man nach meinem Bedünken bei seinen Liebesgängen nicht mit so großem Geräusch auftreten!«

Als wir näherkommen, bemerken wir, daß uns Mutter und Tochter noch weiter als das erstemal entgegengekommen sind. Wie im Fluge sind wir bei ihnen. Emil ist wie aus dem Wasser gezogen. Eine teure Hand trocknet ihm mit dem Taschentuche freundlich die Wangen. Und wäre die ganze Welt voller Pferde, so würden wir uns von nun an nie wieder versucht fühlen, uns derselben zu bedienen.

Indes empfinden wir es ziemlich hart, daß wir nie den Abend miteinander verleben können. Der Sommer neigt sich seinem Ende entgegen und die Tage beginnen abzunehmen. Was wir auch immer sagen mögen, so gestattet man uns doch nie, erst bei Nacht unseren Heimweg anzutreten, und wenn wir uns nicht gleich des Morgens einstellen wollen, so müssen wir fast gleich nach unserer Ankunft wieder scheiden. Da man uns allseitig bedauert und sich unsertwegen beunruhigt fühlt, gerät die Mutter endlich auf den Gedanken, daß vielleicht, da ihnen die Schicklichkeit einmal verbiete, uns in ihrem eigenen Hause Unterkunft zu geben, im Dorf eine passende Nachtherberge ermittelt werden könnte, wo wir uns nicht zu scheuen brauchten, bisweilen zu übernachten. Bei diesen Worten klatscht Emil in die Hände und hüpft vor Freuden, während Sophie, ohne daran zu denken, ihre Mutter an dem Tage, wo ihr dies Auskunftsmittel eingefallen ist, häufiger als sonst küßt.

Nach und nach beginnt die Süßigkeit der Freundschaft und die Vertraulichkeit der Unschuld sich unter uns zu bilden und zu befestigen. An den von Sophie und ihrer[491] Mutter festgesetzten Tagen komme ich meistens mit meinem Freunde, doch lasse ich ihn bisweilen auch allein gehen. Vertrauen erhebt das Bewußtsein, und man darf einen Mann nicht mehr wie ein Kind behandeln. Was würde ich auch erzielt haben, wenn mein Zögling meine Achtung nicht verdiente? Es kommt auch wohl vor, daß ich ohne ihn hingehe. So traurig er dann auch ist, so murrt er gleichwohl nicht. Was würde sein Murren ihm auch helfen? Und außerdem weiß er ja sehr wohl, daß ich nicht darauf ausgehe, seinen Interessen zu schaden. Ob wir übrigens zusammen oder jeder für sich allein hingehen, so versteht es sich von selbst, daß wir uns nie von der Witterung zurückhalten lassen, und wir sind sogar ganz stolz darauf, wenn wir uns bei unserer Ankunft in einem Zustande befinden, der Bedauern erweckt. Leider will Sophie von diesem falschen Ehrgefühl nichts wissen und verbietet uns, bei schlechtem Wetter zu kommen. Dies ist das einzige Mal, daß ich sie gegen die Vorschriften widerspenstig finde, die ich ihr, ohne daß sie es selber merkt, eingebe.

Eines Tages sehe ich Emil, der allein gegangen ist und dessen Rückkehr ich erst am nächsten Morgen erwarte, schon den nämlichen Abend zurückkommen, und sage deshalb, während ich ihn umarme, zu ihm: »Wie, lieber Emil, du kommst zu deinem Freunde zurück?« Statt jedoch meine Liebkosung zu erwidern, sagt er ein wenig übellaunig: »Denken Sie nicht, daß ich aus eigenem Antriebe so bald zurückkehre; es geschieht ganz gegen meinen Willen. Sie hat es gewollt, und deshalb komme ich auf Sophiens Wunsch, nicht aber Ihretwillen.« Von dieser Offenheit angenehm berührt, umarme ich ihn von neuem und sage: »Offene Seele, aufrichtiger Freund, suche mir nicht zu entziehen, was mir doch gehört. Kommst du ihretwegen, so sagst du es doch meinetwegen. Deine Rückkehr ist ihr Werk, aber deine Offenheit ist das meinige. Bewahre dir für immer diese edle Aufrichtigkeit schöner Seelen. Man kann Leute,[492] die uns gleichgültig sind, denken lassen, was sie wollen; duldet man aber, daß uns ein Freund etwas als Verdienst anrechnet, was wir doch nicht um seinetwillen getan haben, so ist dies ein Verbrechen.«

Ich hüte mich wohl, diesem Geständnis in seinen Augen dadurch etwas von seinem Werte zu nehmen, daß ich ihn darauf aufmerksam mache, es liege in demselben mehr Liebe als Edelmut, und es komme ihm weniger darauf an, sich das Verdienst dieser Rückkehr abzusprechen, als es vielmehr Sophie beizulegen. Die Art seiner Rückkunft entschleiert mir aber, ohne daß er es ahnt, sein ganzes Herz. Kommt er nämlich gemächlich und langsamen Schrittes, das Herz voller Liebesträume, so ist er in dem Augenblicke nur der Geliebte Sophiens; langt er dagegen mit stürmischen Schritten und erhitzt, wenn auch etwas verdrießlich, an, so erscheint er als der Freund seines Mentors.

Diese Einrichtungen lassen erkennen, daß mein junger Mann weit davon entfernt ist, sein Leben stets an Sophiens Seite zuzubringen und sie so oft zu besuchen, als er gern möchte. Die Erlaubnis, welche er erhalten hat, beschränkt sich auf einen oder zwei Besuche wöchentlich. Gewöhnlich nehmen sie nur einen halben Tag in Anspruch, und selten dehnen sie sich bis zum nächsten Morgen aus. Die Hoffnung auf den nächsten Besuch, oder die Erinnerung an die Glücklichen Stunden des letzten, nimmt einen ungleich größeren Zeitraum ein als der wirkliche Besuch. Und kommt nun endlich der Besuchstag, so verbirgt er den größten Teil der Zeit mit dem Hin- und Rückweg, und nur wenige Stunden sind ihm an ihrer Seite zu verleben vergönnt. So wahr, rein und köstlich diese Freuden sind, so genießt er sie doch mehr in der Phantasie als in der Wirklichkeit. Sie steigern seine Liebe, ohne sein Herz zu verweichlichen.

An den Tagen, an welchen er sie nicht sieht, lebt er nicht etwa müßig und eingezogen. An solchen Tagen ist[493] er noch immer der alte Emil. Er hat sich in keiner Beziehung geändert. Am häufigsten durchstreift er die Felder der Umgegend und nimmt seine naturgeschichtlichen Studien wieder auf. Er stellt Beobachtung an, untersucht den Boden, seine Erzeugnisse, die Art seines Anbaues. Er vergleicht die Feldarbeiten, welche er sieht, mit den ihm bekannten Methoden. Er sucht sich die Gründe der Abweichungen klarzumachen. Hält er sich überzeugt, daß andere Methoden vor den ortsüblichen den Vorzug verdienen, so macht er die Landwirte mit denselben bekannt. Schlägt er ihnen eine bessere Form des Pfluges vor, so läßt er einen solchen nach seinen Zeichnungen anfertigen. Zufällig trifft er einen Mergelbruch und nimmt daher Veranlassung, sie auf die hierzulande noch unbekannte Anwendung des Mergels aufmerksam zu machen. Oft legt er selbst Hand ans Werk. Sie geraten in Erstaunen, wenn sie sehen, wie er mit ihren Werkzeugen geschickter umzugehen weiß als sie selbst, wie er tiefere und gerade Furchen zieht, gleichmäßiger säet und die Frühbeete mit größerem Geschick anzulegen weiß als sie. Es fällt ihnen nicht ein, sich über ihn lustig zu machen, wie sie es über die zu tun pflegen, die über den Ackerbau nur schön zu schwatzen verstehen; sie sehen, daß er ihn wirklich kennt. Daß ich es kurz sage, er dehnt seinen Eifer und seine Fürsorge auf alles aus, was einen wesentlichen und allgemeinen Nutzen gewährt. Doch nicht einmal hiermit setzt er seiner Tätigkeit Grenzen. Er besucht die Landleute in ihren Häusern, erkundigt sich nach ihren Verhältnissen, nach ihren Familien, nach der Zahl ihrer Kinder, nach dem Umfang ihrer Ländereien, nach der Beschaffenheit des Ertrages derselben und nach den besten Absatzwegen, fragt nach ihrem Vermögen, nach den auf den Grundstücken ruhenden Lasten, nach ihren Schulden usw. Geldhilfe gewährt er selten, da ihn nur zu wohl bekannt ist, daß sie gewöhnlich schlecht angewandt wird. Dafür zeigt er ihnen, wie sie selbst den besten Gebrauch[494] von ihrem Gelde machen können, und wird so die Ursache, daß es ihnen trotz ihrer geringen Einsicht in Geldangelegenheiten dennoch Nutzen bringt. Er verschafft ihnen Arbeiter und bezahlt ihnen oft für die Arbeiten, deren sie bedürfen, ihren eigenen Tagelohn. Dem einen läßt er seine halbverfallene Hütte wiederherstellen oder decken; dem anderen läßt er sein Feld bestellen, das aus Mangel an den nötigen Mitteln hatte brachliegen müssen; wieder einem anderen schenkt er eine Kuh, ein Pferd, kurz irgendein Stück Vieh zum Ersatze dessen, welches ihm gefallen ist. Zwei Nachbarn stehen im Begriff, einen Prozeß gegeneinander anzustrengen; er spricht ihnen gütlich zu und versöhnt sie. Ein Bauer erkrankt; er läßt ihn ärztlich behandeln oder behandelt ihn vielmehr selbst.190 Ein anderer sieht sich den Bedrückungen eines mächtigen Nachbars ausgesetzt; er nimmt ihn in Schutz und tritt als Fürsprecher für ihn auf. Armen Verlobten macht er es möglich, sich zu verheiraten. Eine gute Frau, die ihr geliebtes Kind verloren hat, besucht er. Lange weilt er bei ihr, während er sich bemüht, sie zu trösten. Er verachtet die Armen nicht, noch verrät er Eile, sich von den Unglücklichen wieder loszumachen. Oft teilt er das Mahl der Landleute, die er unterstützt, setzt sich aber auch mit denen zu Tische, die seiner nicht bedürfen. Während er der Wohltäter der einen und der Freund der anderen wird, hört er nicht auf, sich als ihresgleichen zu betrachten. Kurz, er stiftet durch seine Persönlichkeit stets ebensoviel Gutes wie durch sein Geld.[495]

Hin und wieder lenkt er seine Ausflüge nach der Seite jenes glücklichen Landhauses. Es ist ja Hoffnung vorhanden, daß er Sophie heimlich entdecken, daß er sie, ohne selbst bemerkt zu werden, auf einem Spaziergang erblicken könnte. Aber Emil ist in seinem ganzen Auftreten stets offen und ehrlich, er kann und will nicht zu Umwegen seine Zuflucht nehmen. Er besitzt jenes liebenswürdige Zartgefühl, welches der Eigenliebe infolge des guten Selbstzeugnisses so wohl tut und sie erhöht. Streng richtet er sich nach dem ihm erteilten Verbot und kommt nie so nahe, daß er dem Zufall das verdanken könnte, was er Sophie allein verdanken will. Dafür irrt er voller Freuden in der Umgebung umher, um die Spuren der Schritte seiner Geliebten aufzusuchen. Mit tiefer Bewegung sieht er die Mühe, welche sie sich gegeben, und die Gänge, die sie ihm zuliebe unternommen hat. Am Abend vor dem Tage, an welchem er sie besuchen darf, begibt er sich nach irgendeiner benachbarten Meierei, um für den nächsten ein Frühstück zu bestellen. Der Spaziergang wird, scheinbar ohne Absicht, nach jener Richtung hin eingeschlagen. Wie zufällig tritt man ein und findet Obst, Kuchen und Sahne. Die etwas leckerhafte Sophie ist für diese Aufmerksamkeit durchaus nicht unempfindlich und erweist unserer Fürsorge alle Ehre, denn so oft sie etwas Verbindliches äußert, bekomme ich stets meinen Anteil davon ab, und hätte ich auch zu dem Dienste, welchem sie ihr Lob spendet, nicht das geringste beitragen. Die Kleine nimmt zu dieser Kriegslist ihre Zuflucht, um bei der Abstattung ihres Dankes weniger in Verlegenheit zu geraten. Der Vater und ich essen Kuchen und trinken Wein, Emil aber teilt den Geschmack der Frauen und ist beständig auf der Lauer, ob er sich nicht einen Teller mit Sahne aneignen kann, in welchen Sophie ihren Löffel getaucht hat.

Als der Kuchen herumgereicht wird, erinnere ich Emil an seine früheren Wettläufe. Man will wissen, auf was[496] ich anspiele. Ich gebe den begehrten Aufschluß, und man lacht darüber. Man fragt ihn, ob er noch laufen könne. »Besser als je,« erwidert er, »es würde mir nicht lieb sein, wenn ich es verlernt hätte.« Jemand aus der Gesellschaft hätte große Lust, ihn laufen zu sehen, wagt es jedoch nicht, den Wunsch auszusprechen, weshalb es ein anderer übernimmt, einen darauf hinzielenden Vorschlag zu machen. Er geht darauf ein. Man treibt einige junge Leute aus der Umgegend auf, setzt einen Preis fest, und um die alten Spiele möglichst getreu nachzuahmen, wird ein Kuchen als Preis ausgesetzt. Jeder stellt sich in Bereitschaft; der Vater gibt das Zeichen, indem er in die Hände klatscht. Der leichtfüßige Emil fliegt dahin und hat die Rennbahn durchmessen, noch ehe die drei plumpen Gesellen recht in Gang gekommen sind. Emil empfängt den Preis aus Sophiens Händen und nicht weniger großmütig als Aeneas teilt er unter den Besiegten Geschenke aus.

Inmitten der allgemeinen Bewunderung und des Triumphes unterfängt sich Sophie den Besieger herauszufordern und rühmt sich, es mit ihm im Laufen aufnehmen zu können. Er lehnt es nicht ab, mit ihr in die Schranken zu treten. Während sie sich am Anfange der Rennbahn in Bereitschaft setzt, ihr Kleid auf beiden Seiten aufschürzt und, mehr in der Absicht, Emils Blicken ihren kleinen Fuß zu zeigen, als wirklich im Wettlaufe zu siegen, nachsieht, ob ihre Röcke kurz genug sind, flüstert er der Mutter etwas ins Ohr. Sie lächelt und gibt durch ein Zeichen ihre Zustimmung zu erkennen. Nun nimmt er den Platz an der Seite seiner Mitbewerberin ein, und kaum ist das Zeichen gegeben, als man sie ablaufen und wie einen Vogel dahinfliegen sieht.

Die Frauen sind nicht zum Laufen geschaffen. Ergreifen sie die Flucht, so geschieht es, um sich einholen zu lassen. Freilich ist das Laufen nicht das einzige, bei dem sie sich ungeschickt anstellen, aber es ist das einzige, bei dem sie[497] keine Anmut entfalten. Ihre nach rückwärts gestreckten und eng an den Leib gepreßten Ellbogen verleihen ihnen ein lächerliches Ansehen, und die hohen Absätze, auf welchen sie einherschreiten, machen sie Heuschrecken ähnlich, welche sich vom Flecke möchten, ohne zu hüpfen.

Da Emil sich nicht denken kann, daß Sophie schneller als andere Mädchen zu laufen imstande sei, so bleibt er ruhig auf seinem Platze stehen und blickt ihr mit spöttischem Lächeln nach. Sophie indes ist leichtfüßig und trägt, da sie keines Kunstgriffes bedarf, um ihren Fuß klein und zierlich erscheinen zu lassen, niedrige Absätze. In größter Geschwindigkeit gewinnt sie einen so bedeutenden Vorsprung, daß Emil keine Zeit versäumen darf, wenn er diese neue Atalante, die er schon so weit vor sich erblickt, einholen will. Wie ein Adler, der sich auf seine Beute stürzt, fliegt er deshalb hinter ihr her. Er verfolgt sie, ist ihr bald hart auf den Fersen, holt endlich die völlig Atemlose ein, schlingt sanft den linken Arm um sie, hebt sie federleicht in die Höhe und beendet, die süße Last fest an sein Herz gedrückt, den Lauf, läßt sie aber das Ziel zuerst berühren, während er zugleich ruft: »Sophie hat gesiegt!« Darauf beugt er ein Knie vor ihr und erkennt sich als besiegt.

An diese mannigfaltigen Beschäftigungen schließt sich auch die Ausübung des Handwerks, welches wir erlernt haben. Wenigstens an einem Tage wöchentlich sowie außerdem an allen denen, an welchen uns die Witterung von Ausflügen ins Freie zurückhält, gehen wir, Emil und ich, zu einem Meister auf Arbeit. Wir arbeiten bei ihm durchaus nicht bloß zum Scheine, mit der Miene von Leuten, die sich über den Handwerkerstand weit erhaben fühlen, sondern in vollem Ernst und als wirkliche Handwerker. Bei einem Besuche, den uns Sophiens Vater abstatten will, überrascht er uns einmal bei der Arbeit und unterläßt nicht, seiner Frau und seiner Tochter mit Verwunderung zu berichten, was er gesehen hat. »Ueberzeugt euch selbst,«[498] fügt er hinzu, »und sucht diesen jungen Mann in seiner Werkstatt auf, dann werdet ihr sehen, ob er auf den Stand des Armen mit Verachtung blickt.« Man kann sich einen Begriff von der Freude machen, mit welcher Sophie diese Worte hört. Wiederholentlich wird der Wunsch zu erkennen gegeben, ihn bei den Arbeit zu überraschen. Man fragt mich unter dem Schein der größten Unbefangenheit aus, und nachdem man einen unserer Arbeitstage in Erfahrung gebracht hat, nehmen Mutter und Tochter einen Wagen und kommen an diesem Tage nach der Stadt.

Als sie in die Werkstatt eintreten, bemerkt Sophie am entgegengesetzten Ende einen jungen Mann in Hemdsärmeln, mit nachlässig aufgebundenem Haar, und so von seiner Arbeit in Anspruch genommen, daß er keinen Blick von ihr abwendet. Sie bleibt stehen und gibt ihrer Mutter einen Wink. Emil, den Meißel in der einen und den Schlägel in der anderen Hand, hat soeben ein Zapfenloch vollendet; nun zersägt er eine Bohle und schraubt ein Stück derselben in den bei den Tischlern üblichen Klemmhaken, um es zu glätten. Weit davon entfernt, daß dieser Anblick Sophie lächerlich erscheinen sollte, rührt er sie vielmehr, erregt er ihre ganze Achtung. Weib, ehre dein Oberhaupt. Für dich arbeitet der Mann, dir verdient er das Brot, dich ernährt er: ehre den Mann!

Während sie ihm aufmerksam zuschauen, werde ich ihrer plötzlich gewahr und zupfe Emil am Aermel. Er wendet sich um, erblickt sie, wirft sein Werkzeug beiseite und eilt mit einem Freudenschrei auf sie zu. Nachdem er sich dem ersten Freudenrausch überlassen hat, bittet er sie Platz zu nehmen und macht sich von neuem an die Arbeit. Allein Sophie vermag nicht sitzenzubleiben. Sie erhebt sich lebhaft, geht in er Werkstätte umher, besichtigt die Werkzeuge, streicht mit der Hand über die Politur der Bretter, hebt einige Hobelspäne vom Boden auf, sieht uns auf die Hände und meint dann, dies Handwerk könne ihr wegen seiner[499] Reinlichkeit gefallen. Mit schelmischer Miene versucht sie sogar ihrem jungen Freunde seine Künste nachzumachen. Mit ihrer weißen und schwachen Hand stößt sie einen Hobel über das Brett hin. Ohne in das Holz zu greifen, gleitet er aber leicht über dasselbe fort. Mir ist's, als sähe ich Amor in der Luft lachen und mit den Flügeln schlagen, als hörte ich ihn den Jubelruf ausstoßen: »Herkules ist gerächt!«

Mittlerweile fragt die Mutter den Meister: »Wieviel zahlen Sie jenen Gesellen?« – »Gnädige Frau,« erwidert er, »jeder von ihnen erhält täglich zwanzig Sous nebst freier Kost. Wenn dieser junge Mann dort indes Lust hätte, so könnte er noch einen größeren Verdienst haben, denn er ist der geschickteste Arbeiter in der ganzen Gegend.« – »Zwanzig Sous täglich und freie Kost!« versetzt die Mutter, während sie uns zärtlich anblickt. »So ist es, gnädige Frau,« entgegnet der Meister. Bei diesen Worten eilt sie auf Emil zu, umarmt ihn und drückt ihn unter Tränen an das Herz, ohne andere Worte zu finden als den mehrmals Ausruft: »Mein Sohn, o mein Sohn!«

Nachdem sie noch einige Zeit, ohne uns jedoch von unserer Arbeit abzuhalten, mit uns geplaudert haben, sagt die Mutter zur Tochter: »Laß uns jetzt aufbrechen, denn es wird spät und wir dürfen nicht auf uns warten lassen.« Hierauf tritt sie an Emil heran, klopft ihm sanft auf die Wange und sagt: »Wie ist es, lieber Geselle, wollen Sie uns nicht nach Haufe begleiten?« Mit betrübten Ton erwidert er jedoch: »Ich habe einen festen Vertrag abgeschlossen, fragen Sie deshalb den Meister.« Man fragt den Meister, ob er unserer Hilfe entbehren könne. Er entgegnet, daß es ihm unmöglich sei. »Ich bin«, sagt er, »mit dringender Arbeit überhäuft, die ich bis übermorgen unter allen Umständen abliefern muß. Da ich mich auf diese Herren verlassen habe, so habe ich andere Arbeiter,[500] die sich mir selbst angeboten, abgewiesen. Wenn mir nun die Herren ihre Hilfe verweigern, so wäre ich in der Tat in Verlegenheit, wo ich in der Geschwindigkeit andere Arbeiter hernehmen sollte, und wäre außerstande, den verabredeten Termin innezuhalten.« Die Mutter entgegnet nichts in der Erwartung, daß Emil das Wort ergreifen werde. Emil aber läßt den Kopf hängen und bleibt stumm. »Mein Herr,« sagt sie endlich, über dieses Schweigen ein wenig aus der Fassung gebracht, »haben Sie darauf nichts zu erwidern?« Emil blickt die Tochter zärtlich an und sagt kleinlaut: »Sie sehen wohl, daß ich bleiben muß.« Hierauf brechen die Damen auf und verlassen uns. 3Emil gibt ihnen bis an die Tür das Geleite, folgt ihnen, soweit er kann, mit den Augen, seufzt und geht, ohne weiter ein Wort zu verlieren, wieder an die Arbeit.

Unterwegs spricht sich die Mutter, die sich in der Tat gekränkt fühlt, über die Sonderbarkeit dieser Handlungsweise ihrer Tochter gegenüber ziemlich hart aus. »Wie!« sagt sie, »sollte es wirklich so schwierig gewesen sein, den Meister zufriedenzustellen, ohne sich dem Zwange zu fügen, dazubleiben? Hat dieser junge Mann, der sonst so verschwenderisch ist und mit dem Gelde unnötigerweise um sich wirst, dann wenn es einmal angewandt wäre, keins mehr übrig?« – »O Mutter,« erwidert Sophie, »da sei Gott vor, daß sich Emil in Ueberschätzung des Geldes je seiner bediene, um eine persönliche Verpflichtung rückgängig zu machen, ungestraft sein Wort zu brechen und die Schuld zu tragen, daß es auch ein anderer breche! Ich weiß, daß es ihm nicht schwer fallen würde, den Meister für den geringer Verlust, den ihm seine Abwesenheit verursachen könnte, zu entschädigen, aber dann würde er seine Seele von dem Reichtum knechten lassen, dann würde er sich daran gewöhnen, bei jeder Pflichtverletzung mit demselben einzutreten und sich dem Wahne hinzugeben, man könne sich alles erlauben, wenn man nur zahle. Emil huldigt anderen Anschauungen,[501] und ich hoffe nicht die unschuldige Veranlassung zu sein, daß er sie ändert. Denkst du nicht, daß es ihm schwer genug gefallen ist, zu bleiben? Irre dich nicht, Mama, gerade um meinetwillen bleibt er, das habe ich deutlich in seinen Augen gelesen.«

Das beweist noch nicht, daß sich Sophie hinsichtlich der wahren Aufmerksamkeiten der Liebe einer großen Nachsicht rühmen könne. Im Gegenteile ist sie gebieterisch und anspruchsvoll. Lieber möchte sie gar nicht, als nur mäßig geliebt werden. Sie besitzt den edlen Stolz des Verdientes, welches seinen Wert kennt, sich selbst achtet und verlangt, daß man es ehre, wie es sich selber ehrt. Sie würde ein Herz verschmähen, welches den vollen Wert des ihrigen nicht zu schätzen verstände und sie um ihrer Tugend willen nicht ebensosehr, ja noch mehr lieben würde, als um ihrer Reize willen, ein Herz, welches seine Pflicht nicht höher als sie und sie wieder höher als jedes andere Gut stellte. Ihr Begehren ist gar nicht auf einen Geliebten gerichtet gewesen, dem kein anderes Gesetz als ihr Wille gilt. Der Mann, über den sie herrschen will, hat sich nicht vorher durch sie seiner männlichen Würde dürfen berauben lassen. So verschmäht Circe die Gefährten des Ulysses, die sie herabwürdigt hat, und ergibt sich ihm allein, den sie nicht zu verwandeln vermochte.

Sehen wir von diesem unverletzlichen und heiligen Recht ab, so ist Sophie auf alle ihr gebührenden Rechte über alle Maßen eifersüchtig und wacht aufmerksam darüber, wie streng es Emil mit seinen Ehrfurchtsbezeigungen gegen sie nimmt, wie eifrig er ihren Wünschen nachzukommen sucht, mit welcher Freude er sich bemüht, sie ihr an den Augen abzulesen, mit welcher Pünktlichkeit er in dem vorgeschriebenen Augenblick eintrifft. Sie verlangt, daß er weder zu früh noch zu spät erscheine, sondern fordert Pünktlichkeit von ihm. Zu früh kommen hieße seinen Willen über den ihrigen stellen, zu spät kommen hieße dagegen sie vernachlässigen.[502] Sophie vernachlässigen! Das würde nicht zweimal vorkommen. Ihr Verdacht hätte einst beinahe alles verdorben, allein Sophie ist billigdenkend und weiß ihr Unrecht wieder gutzumachen.

Eines Abends erwartet man uns. Emil ist bestellt worden. Man geht uns entgegen, aber wir kommen nicht. »Was in aller Welt ist aus ihnen geworden? Welches Unglück ist ihnen zugestoßen? Kein Bote bringt Nachricht!« Der Abend verrinnt, während man uns noch immer erwartet. Die arme Sophie befürchtet schon, daß wir gestorben sind. Sie ist untröstlich, ängstlich sich und weint die ganze nacht. Noch am Abend hat man einen Boten ausgesendet, um Erkundigung über uns einzuziehen und am nächsten Morgen Nachricht von uns zu bringen. Der Bote kehrt in Begleitung eines anderen von uns abgeschickten zurück, welcher uns mündlich entschuldigt und erzählt, daß wir uns vollkommen wohlbefinden. Einen Augenblick später erscheinen wir selbst. Nun ändert sich mit einem Schlage die Szene. Sophie trocknet sich die Tränen ab, oder wenn sie noch solche vergießt, sind es Tränen des Zornes. Für ihr stolzes Herz ist es kein Gewinn, daß es über unser Leben beruhigt sein kann: Emil lebt und hat vergeblich auf sich warten lassen.

Bei unsere Ankunft will sie sich einschließen. Man verlangt, daß sie bleibt, und so muß sie denn bleiben. Sofort faßt sie jedoch ihren Entschluß und nimmt eine ruhige und zufriedene Miene an, welche auf andere ihres Eindrucks nicht verfehlt haben würde. Der Vater kommt uns entgegen und sagt: »Sie habe Ihre Freunde in Sorge versetzt; es fehlt hier nicht an Personen, welche Ihnen nicht so leicht verzeihen werden.« – »Wer denn, Papachen?« fragt Sophie mit dem liebreizendsten Lächeln, das sie zu erzwingen vermag. »Was geht das dich an,« versetzt der Vater, »wenn du es nur nicht bist.« Sophie erwidert kein Wort und schlägt die Augen auf ihre Arbeit nieder. Die[503] Mutter empfängt uns kalt und gezwungen. Emil gerät in Verlegenheit und wagt nicht, Sophie anzureden. Da knüpft sie ein Gespräch mit ihm an, fragt nach seinem Befinden, ladet ihn ein, Platz zu nehmen, und weiß sich so gut zu verstellen, daß sich der arme junge Mann, der sich noch nicht auf die Sprache heftiger Leidenschaft versteht, durch diese Kaltblütigkeit täuschen läßt und fast selbst empfindlich geworden wäre.

Um ihn aus seinem Irrtume zu reißen, will ich Sophiens Hand ergreifen und sie, wie ich mitunter tue, an meine Lippen führen. Sie zieht sie jedoch heftig und mit einem so scharf betonten »Mein Herr« zu rück, daß diese unfreiwillige Bewegungen Emil die Augen öffnet.

Da Sophie einsieht, daß sie sich verraten hat, tut sie sich von nun weniger Zwang an. Ihre angenommene Kaltblütigkeit verwandelt sich in ironische Verachtung. Auf alles, was man zu ihr spricht, antwortet sie nur einsilbig und mit schleppender, unsicherer Stimme, als hege sie Furcht, den Ton der Entrüstung allzu scharf durchklingen zu lassen. Emil halbtot vor Schrecken , blickt sie bekümmert an und sucht sie zu veranlassen, ihre Augen auf ihn zu richten, damit er in denselben ihre wahren Gefühle besser lesen könne. Durch sein Vertrauen nur noch mehr aufgebracht, wirft ihm Sophie einen Blick zu, der ihm die Lust benimmt, sie zu einem zweiten herauszufordern. Bestürzt und zitternd wagt Emil zu seinem großen Glücke nicht mehr zu sprechen oder sie auch nur anzusehen, denn wäre er auch nicht schuldig gewesen, hätte aber ihren Zorn geduldig ertragen können, so würde sie ihm wie verziehen haben.

Da es mir scheint, daß jetzt der richtige Augenblick für mich gekommen ist, persönlich einzugreifen und die nötigen Aufschlüsse zu geben, so wende ich mich wieder an Sophie. Ich nehme abermals ihre Hand, die sie mir jetzt nicht mehr entzieht, weil sie im Begriffe steht, ohnmächtig zu werden. Sanft sage ich zu ihr: »Liebe Sophie, uns hat gestern ein[504] Unglück getroffen. Allein Sie sind zu verständig und gerecht, um uns ungehört zu verurteilen. Hören Sie uns an.« Sie erwidert darauf nichts, und so beginne ich denn zu erzählen: »Gestern um vier Uhr machten wir uns auf den Weg, da wir vorgeschriebenermaßen um sieben Uhr hier eintreffen sollten. Wir nehmen uns stets etwas mehr Zeit, als unbedingt notwendig ist, um uns vor unsrer Ankunft noch etwas ausruhen zu können. Drei Viertel des Weges hatten wir bereits zurückgelegt, als wir plötzlich ein klägliches Jammergeschrei vernahmen. Es drang aus einer Bergschlucht in einiger Entfernung von uns hervor. Wir folgen dem Geschrei und finden einen unglücklichen Bauer, der bei seiner Heimkehr aus der Stadt in etwas angetrunkenem Zustande so gefährlich vom Pferde gestürzt war, daß er das Bein gebrochen hatte. Wir schreien, wir rufen um Hilfe, aber alles vergebens; niemand antwortet. Wir versuchen den Verunglückten auf das Pferd zu heben, kommen aber damit nicht zustande. Bei der geringsten Bewegung hat der Unglückliche furchtbare Schmerzen auszustehen. So bleibt uns denn schließlich nicht anderes übrig, als das Pferd in einem abgelegenen Dickicht anzubinden, aus unsren Armen eine Tragbahre zu machen, den Verwundeten darauf zu heben und ihn so sanft als möglich fortzutragen. Wir schlagen den Weg ein, der seiner Behauptung zufolge nach seiner Wohnung führen mußte. Es war eine so weite Strecke, daß wir genötigt waren, uns wiederholentlich auszuruhen. Völlig erschöpft erreichen wir endlich unser Ziel. Zu unserem schmerzlichen Erstaunen bemerken wir, daß uns das Haus bereits bekannt ist und daß der Unglückliche, den wir so großer Mühe hierher getragen haben, derselbe Mann ist, der uns an dem Tage, an welchem wir diese Gegend zum erstenmal betraten, mit solcher Herzlichkeit aufgenommen hatte. In der Aufregung, in der wir uns sämtlich befanden, hatten wir uns bis zu diesem Augenblicke nicht wiedererkannt.[505]

Er hatte nur zwei kleine Kinder. Seine Frau, die neuen Mutterfreuden entgegenging, wurde, als sie ihn in diesem Zustande eintreffen sah, von solchem Schrecken ergriffen, daß sie heftige Wehen bekam und wenige Stunden darauf entbunden wurde. Was sollten wir nun wohl unter solchen Verhältnissen in einer so entlegenen Hütte tun, wo auf Beistand nicht zu rechnen war? Emil war schnell entschlossen, holte das im Walde zurückgelassene Pferd, ritt mit verhängtem Zügel nach der Stadt und sah sich nach einem Wundarzt um. Diesem überließ er das Pferd, und da er nicht schnell genug eine Wärterin aufzutreiben vermochte, kam er in Begleitung eines Dieners zu Fuß zurück, nachdem er einen anderen zuvor an Sie abgeschickt hatte. Mittlerweile bemühte ich mich, da ich mich, wie Sie sich leicht vorstellen können, zwischen einem Manne, der das Bein gebrochen hatte, und einer Frau in Kindesnöten in höchster Verlegenheit befand, nach besten Kräften alles im Hause vorzubereiten, was meiner Ansicht nach für beider Hilfe notwendig sein konnte.

Lassen Sie mich die weiteren Einzelheiten übergehen, da es sich ja um sie nicht handelt. Es war bereits zwei Uhr nach Mitternacht, ehe sich einer von uns einen Augenblick Erholung gönnen konnte. Erst kurz vor Tagesanbruch sind wir in unserem hiesigen Absteigequartier angelangt, in welchem wir nur die Stunde Ihres Erwachens abgewartet haben, um Ihnen über unser Mißgeschick Rechenschaft abzulegen.«

Ich schweige, ohne noch irgend etwas hinzuzufügen. Allein noch ehe jemand das Wort ergriffen, tritt Emil an seine Geliebte heran und sagt mit erhobener Stimme und größerer Festigkeit, als ich ihm zugetraut hätte: »In Ihren Händen ruht, wie Sie wohl wissen, mein Schicksal. Sie können mich vor Schmerz sterben lassen; meinen Sie jedoch nicht, daß ich um Ihretwillen die Pflichten der Menschlichkeit vergessen könnte. Sie sind mir noch heiliger als die,[506] welche ich gegen Sie zu erfüllen habe. Selbst um Ihretwillen werde ich sie nie verleugnen.«

Statt aller Antwort erhebt sich Sophie bei diesen Worten, schlingt einen Arm um seinen Hals und küßt ihn auf die Wange. Während sie ihm darauf mit unnachahmlicher Anmut die Hand reicht, sagt sie zu ihm; »Emil, nimm diese Hand, sie ist dein! Sei, sobald du willst, mein Gemahl und mein Herr; ich werde mir Mühe geben, diese Ehre zu verdienen.«

Kaum hat sie ihn umarmt, so klatscht der Vater freudig in die Hände und ruft: »Noch einmal, noch einmal!« Und sofort gibt ihm Sophie, ohne sich erst lange bitten zu lassen, noch zwei Küsse auf die andere Wange, erschrickt aber fast in demselben Augenblick über alles, was sie soeben getan hat, sucht in den Armen Schutz und verbirgt ihr vor Scham erglühendes Antlitz an der mütterlichen Brust.

Ich brauche wohl die allgemeine Freude nicht erst zu schildern. Jeder muß sie nachempfinden können. Nach dem Mittagessen fragt Sophie, ob die Entfernung wohl einen Besuch dieser armen Kranken gestatte. Sophie wünscht es, und es ist ein gutes Werk. Man geht deshalb zu ihnen und findet sie in zwei besonderen Betten. Auf Emils Veranstaltung war das eine derselben hingebracht worden. Auch trifft man Leute zu ihrer Pflege bei ihnen. Wiederum hatte Emil dieselben angenommen. Für alles übrige ist aber bis jetzt wenig Fürsorge getroffen, daß sie nicht weniger unter dem überall hervortretender Mangel als unter ihren Schmerzen leiden. Sophie läßt sich von der guten Frau eine Schürze reichen und gibt ihr dann in ihrem Bette die möglichst bequeme Lage. Darauf leistet sie dem Manne denselben Dienst. Ihre sanfte und weiche Hand weiß alles aufzufinden, was den Kranken Schmerz verursachen könnte, und bettet ihre leidenden Glieder so weich als möglich. Sobald sich ihnen Sophie nur naht, fühlen sie sich schon erleichtert. Man sollte meinen, daß sie alles errät, was[507] imstande ist, ihnen wehe zu tun. Das sonst so empfindliche und zum Ekel geneigte Mädchen läßt sich weder von der Unreinlichkeit noch dem üblen Geruche zurückschrecken und weiß beides zu entfernen, ohne jemandes Beistand zu bedürfen und ohne die Kranken zu belästigen. Sie, die sich stets durch einen so hohn Grad von Sittsamkeit auszeichnet, ja bisweilen einen gewissen Grad von Stolz zur Schau trägt, sie die um alles in der Welt auch nicht mit einer Fingerspitze das Bett eines Mannes berührt haben würde, wendet diesen ohne alles Bedenken hin und her und bringt ihn in eine bequemere Lage, um darin länger aushalten zu können. Der Eifer der Barmherzigkeit hat ebenso hohen Wert als die Sittsamkeit. Was sie tut, vollbringt sie zugleich mit solcher Leichtigkeit und Gewandtheit, daß sich der Kranke, fast ohne eine Berührung empfunden zu haben, erleichtert fühlt. Weib und Mann segnen beide das liebenswürdige Mädchen, das sie bedient, sie beklagt und tröstet. Sophie ist ihnen ein Engel des Himmels, den ihnen Gott sendet; sie besitzt eines Engels Gestalt und Liebreiz, eines Engels Milde und Güte. Gerührt und mit Bewunderung betrachtet Emil sie im stillen. Mann, liebe deine Genossin! Gott gibt sie dir als Trösterin in deinen Sorgen, als Gehilfin in deinen Leiden: Siehe, das ist das Weib!

Man läßt den jungen Weltbürger taufen. Die beiden Liebenden übernehmen Patenstelle und haben glühenderen Wunsch, als bald anderen Gelegenheit zu demselben Liebesdienste geben zu können. Sie wünschen den ersehnten Augenblick herbei, sie glauben schon unmittelbar vor demselben zu stehen. Alle Bedenken Sophiens sind gehoben. Allein die meinigen erwachen erst. Noch sind die beiden Liebenden nicht da, wo sie zu sein glauben. Es muß alles nach der Reihe gehen.

Nachdem sie sich zwei Tage lang nicht gesehen haben, trete ich eines Morgens mit einem Brief in der Hand in[508] Emils Zimmer und sage, während ich ihn fest anblicke, zu ihm: »Was würdest du tun, wenn man dir mitteilte, daß Sophie gestorben ist?« Er stößt einen gellenden Schrei aus, erhebt sich händeringend und schaut mich lautlos und mit verstörten Blicken an. »Antworte doch!« fahre ich mit gleicher Ruhe fort. Nun aber tritt er, durch meine Kaltblütigkeit gereizt, mit zornfunkelnden Augen auf mich zu, und indem er in einer fast drohenden Haltung vor mir stehenbleibt, ruft er: »Was ich tun würde?... Noch weiß ich es nicht. So viel aber weiß ich, daß ich den, welcher mir diese Nachricht brächte, nie in meinem Leben wiedersehen.« – »Beruhige dich nur,« erwidere ich lächelnd, »sie lebt, befindet sich wohl und denkt an dich. Heute abend werden wir erwartet. Jetzt aber laß uns einen Spaziergang machen und ein wenig miteinander plaudert.«

Die Leidenschaft, die ihn beherrscht, gestattet ihm nicht mehr, sich wie sonst rein auf Ausbildung des Verstandes abzielenden Unterhaltung hinzugeben. Jetzt muß ich diese Leidenschaft selbst als Mittel benutzen, damit er meinen Belehrungen von neuem ein offenes Ohr schenkt. Das wollte ich durch jene schreckliche Einleitung bewirken. Jetzt bin ich dessen sicher, daß er mich anhören wird.

»Wir sollen glücklich sein, lieber Emil; das ist der Zweck eines jeden empfindenden Wesens. Dies ist der Hauptwunsch, den uns die Natur einflößte, und überhaupt der einzige Wunsch, der uns nie verläßt. Wo aber ist das Glück zu finden? Wer kennt es? Jeder sucht nach demselben, aber niemand findet es. Man reibt sein Leben damit auf, daß man dem Glücke rastlos nachjagt, und man stirbt, ohne es erreicht zu haben. Als ich dich, mein junger Freund, bei deiner Geburt in meine Arme nahm und das höchste Wesen zum Zeugen der Verpflichtung anrief, die ich zu übernehmen den Mut hatte, als ich gelobte, meine Lebenstage dem Glücke der Deinigen zu weihen, wußte ich da wohl selbst, wozu ich mich verpflichtete? Nein, ich wußte[509] lediglich, daß ich mein Glück nur sichern würde, wenn ich das deinige begründete. Mein Bemühen war darauf gerichtet, den Grundstein zu einem Glücke zu legen, an welchem wir beide teilnehmen konnten.

Solange wir nicht wissen, was wir tun sollen, besteht unsere ganze Weisheit darin, in Untätigkeit zu verharren. Von allen Grundsätzen ist dies derjenige, an welchen sich der Mensch vorzugsweise halten muß und den er zugleich am wenigsten zu befolgen versteht. Sucht man das Glück ohne zu wissen, wo es ist, so läuft man Gefahr, sich von ihm immer weiter zu entfernten, setzt man es bei jedem Irrwege stets von neuem auf das Spiel. Aber es versteht nicht jedermann, sich ruhig zu verhalten. Bei der Unruhe, mit welcher uns die Sucht nach Wohlbefinden erfüllt, laufen wir in dem Haschen nach demselben lieber in der Irre umher, als daß wir, um es zu suchen, in Untätigkeit bleiben; und haben wir uns einmal von der Stelle entfernt, von der aus wir es zu erkennen vermöchten, so wissen wir uns nie wieder auf diese zurückzufinden.

Obgleich ich mich in der nämlichen Unwissenheit befand, suchte ich doch diesen Fehler zu vermeiden. Als ich die Sorge für dich übernahm, war ich entschlossen, nicht einen einzigen unnützen Schritt zu tun, und auch dich davon abzuhalten. Ich hielt mich auf dem Wege der Natur, in der Voraussetzen, daß sie mir auch den zum Glücke weisen würde. Es hat sich herausgestellt, daß beide zusammenfielen, und daß ich, ohne es zu wissen, schon auf Weg zum Glücke war.

Sei du selbst mein Zeuge, sei mein Richter, nie werde ich dich als solchen ablehnen. Deine ersten Lebensjahre sind den späteren nicht zum Opfer gebracht worden. Alle Güter, mit welchen dich die Natur ausgestattet, hast du reichlich genossen. Von den Uebeln, denen sich die unterwarf und gegen die ich dich nicht habe schützen können,[510] hast du doch nur diejenigen empfunden, welche dich gegen die übrigen abzuhärten vermochten. Nur um ein größeres Leiden zu vermeiden, hast du ein kleineres erdulden müssen. Weder Haß noch Sklaverei hast du kennen gelernt. Frei und zufrieden, bist du gerecht und gut geblieben, denn Leiden und Laster sind unzertrennlich miteinander verbunden, und erst dann wird der Mensch schlecht, wenn er unglücklich wird. Mögest du dir die Erinnerung an deine Kindheit bis in die spätesten Tage deines Lebens bewahren! Ich fürchte bei deinem guten Herzen nicht, daß du sie dir je ins Gedächtnis zurückrufen wirst, ohne die Hand zu segnen, die sie leitete.

Als du in das Alter der Vernunft tratest, habe ich dich vor den Vorurteilen der Menschen bewahrt; als dein Herz lebhafter zu klopfen begann, habe ich dich vor der Herrschaft der Leidenschaft behütet. Wäre ich imstande gewesen, dir diese innere Ruhe bis an dein Lebensende zu erhalten, so würde ich mein Werk in Sicherheit gebracht haben, und du würdest beständig so glücklich sein, wie es ein Mensch nur zu sein vermag. Aber umsonst habe ich deine Seele, lieber Emil, in den Styx getaucht, es ist mir nicht gelungen, sie überall unverwundbar zu machen. Ein neuer Feind steht wider dich auf, den du noch nicht zu besiegen gelernt hast, und vor dem ich dich nicht habe schützen können. Dieser Feind bist du selbst. Natur und Schicksal hatten dich frei gelassen. Mißgeschick vermochtest du zu ertragen, Schmerzen des Körpers konntest du aushalten, die der Seele waren dir noch unbekannt. Du warst nur insoweit abhängig, wie es die menschliche Lage mit sich bringt. Jetzt dagegen hängst du von all den Neigungen ab, die du selbst in dir großgezogen hast. Dadurch, daß du wünschen lerntest, hast du dich zum Sklaven deiner Wünsche gemacht. Von welchen Schmerzen kann deine Seele ergriffen werden, ohne daß du dich im Geringsten änderst, ohne daß dich irgend etwas kränkt, ohne daß irgend etwas dein Wesen[511] berührt! Welche Leiden kannst du empfinden, ohne krank zu sein! Wie oft kannst du den Tod erleiden, ohne zu sterben! Eine Lüge, ein Irrtum, ein Zweifel kann dich in Verzweiflung stürzen.

Du sahst auf dem Theater, wie Helden, die sich dem Uebermaße ihres Schmerzes überließen, die Szene mit wahnsinnigem Geschrei erfüllten, einen weiblichen Kummer bezeigten, wie Kinder weinten und sich so den öffentlichen Beifall erwarben. Erinnerst du dich, wie du dich über dieses Jammern, dieses Geschrei und Wehklagen von Männern ärgertest, bei denen man nur Beweise von Standhaftigkeit und Festigkeit hätte erwarten dürfen? Wie, sagtest du voller Entrüstung, sind das die Beispiele, die man uns zur Nachachtung und die Muster, die man uns zur Nachahmung aufstellt? Ist man etwa besorgt, daß der Mensch nicht klein, nicht unglücklich, nicht schwach genug sei, wenn man seiner Schwäche nicht unter dem Trugbilde der Tugend noch Weihrauch streut? Mein junger Freund, sei dergleichen Auftritten gegenüber in Zukunft nachsichtiger, denn du bist auch schon einer ihrer Helden geworden.

Du kannst leiden und streben. Bei physischen Leiden weißt du dich dem Gesetze der Nothwendigkeit zu fügen, aber der Leidenschaft deines Herzens hast du doch noch kein Gesetz auferlegt, und doch liegt die Ursache zu der Störung unsres Lebens weit mehr in unsren Neigungen als in unseren Bedürfnissen. Unsere Wünsche sind sehr viel umfassend, während unsere Kraft völlig unzureichend ist. Des Menschen Wünsche hängen an tausenderlei Dingen, an und für sich hängt der Mensch dagegen an nichts, nicht einmal am Leben. Mit der Vermehrung seiner Neigungen nehmen auch seine Leiden zu. Alles ist nur geschaffen, um ein vergängliches Leben auf Erden zu führen. Früher oder später wird uns alles entschlüpfen, was wir liebhaben, und trotzdem hangen wir daran, als ob es ewig dauern sollte. Welcher Schrecken überfiel dich bei dem bloßen Gedanken, Sophie könnte gestorben[512] sein! Hast du denn wirklich erwartet, daß sie ewig leben könnte? Stirbt niemand ihres Alters? Sie muß sterben, mein Sohn, und vielleicht noch vor dir. Wer will wissen, ob sie in diesem Augenblicke noch lebt? Die Natur hatte dich nur einem einzigen Tod unterworfen; du selbst unterwirft dich noch einem zweiten, und befindest dich nun in der Lage, zweimal zu sterben.

Da du deinen regellosen Leidenschaften dergestalt unterworfen bist, wirst du bald aufrichtig zu bedauern sein. Stets Entbehrungen, stets Verluste, stets Unruhe! Nicht einmal an dem, was dir gelieben ist, wirst du einen rechten Genuß haben. Die Furcht, alles zu verlieren, wird bewirken, daß du nie deines Besitzes froh wirst. Dafür, daß du nur deinen Leidenschaften hast nachgehen wollen, wird es dir nie möglich werden, sie zu befriedigen. Während du unablässig Ruhe suchst, wird sie beständig vor dir fliehen. Du wirst dich elend fühlen und schlecht werden. Und wie sollte es nicht dahin kommen, da du deine zügellosen Begierden als alleiniges Gesetz anerkennt? Wenn du unfreiwillige Entbehrungen nicht zu erdulden vermagst, wie willst du dann imstande sein, dir freiwillig solche aufzuerlegen? Wie würdest du deine Neigung der Pflicht zum Opfer bringen und deinem Herzen widerstehen können, um deiner Vernunft Gehör zu geben? Du, der du schon den Ueberbringer der Todesnachricht deiner Geliebten nicht wiedersehen willst, wie würdest du den Anblick dessen zu erdulden vermögen, der sie dir lebend rauben wollte und sich dir zu sagen erkühnte: ›Sie ist tot für dich, die Tugend scheidet dich von ihr.‹ Wenn du einmal durchaus unter allen Umständen mit ihr leben mußt, gleichviel ob Sophie verheiratet ist oder nicht, ob du frei bist oder nicht, ob sie dich liegt oder haßt, ob man dir ihre Hand gewährt oder verweigert: so hat dies für dich alles nichts auf sich, du willst sie einmal und mußt sie deshalb um jeden Preis besitzen. Sage selbst, vor welchem Verbrechen wird der[513] wohl zurückbeben, der nur die Wünsche seines Herzens als Gesetze anerkennt und sich nichts zu versagen weiß, was es begehrt?

Lieber Emil, es gibt kein Glück ohne Mut, keine Tugend ohne Kampf. Das Wort Tugend wird von ›taugen‹ abgleitet, welches soviel wie ›tüchtig sein‹ bedeutet. Die Tüchtigkeit, die innere Kraft, ist das Fundament aller Tugend. Die Tugend findet sich nur bei Wesen, die bei all ihrer natürlichen Schwäche doch Willenskraft besitzen. In letzterer allein besteht das Verdienst des rechtschaffenen Mannes. Obgleich wir Gott Güte zuschreiben, so verbinden wir mit seinem Wesen doch nicht den Begriff der Tugend, weil er keiner Anstrengung bedarf, um das Gute zu tun. Mit der Erklärung dieses so häufig gemißbrauchten Wortes habe ich so lange Anstand genommen, bis du imstande warst, mich zu verstehen.191 Solange die Uebung der Tugend keine Anstrengung kostet, braucht man sie noch nicht zu kennen. Die Notwendigkeit stellt sich erst in dem Augenblicke heraus, wo die Leidenschaften erwachen: für dich ist derselbe jetzt gekommen.

Indem ich dich in aller Einfachheit der Natur erzog, habe ich dich, statt dir beschwerliche Pflichten zu predigen, vor Lastern bewahrt, welche diese Pflichten eben erst beschwerlich erscheinen lassen. Ich habe dir die Lüge weniger verhaßt als unnütz gemacht. Ich habe dir weniger eingeprägt, einem jeden das Seine zu geben, als dich vielmehr dazu angehalten, dich nur um das Deine zu kümmern. Ich habe dich mehr zu einem guten als zu einem tugendhaften Menschen erzogen. Wer indes bloß gut ist, bleibt es nur so lange, als er Gefallen daran findet. Im Sturme der menschlichen Leidenschaften scheitert die Güte und geht zu grunde. Der Mensch, der bloß gut ist, zeigt diese Güte nur gegen sich.[514]

Wer ist demnach ein tugendhafter Mensch? Derjenige der seine Neigungen zu bezähmen versteht. Denn alsdann dient ihm seine Vernunft, sein Gewissen zur Richtschnur; er tut seine Pflicht, bleibt auf dem für richtig erkannten Weg, und nicht vermag ihn von demselben zu entfernen. Bis jetzt warst du nur scheinbar frei, du besaßest nur die unsichere Freiheit eines Sklaven, der noch keinen Befehl erhalten hat. Von nun an sei in Wirklichkeit frei! Lerne dein eigener Herr werden! Gebiete deinem Herzen, Emil, und du wirst tugendhaft sein.

Wiederum hast du also eine neue Lehrzeit durchzumachen, und diese Lehrzeit ist mühseliger als die erste, denn die Natur befreit uns zwar von den Leiden, die sie selbst uns auferlegt, oder lehrt sie uns wenigstens ertragen, aber sie gibt uns Mittel gegen diejenigen an die Hand, welche ihre Quelle in uns selbst haben; in bezug auf diese überläßt sie uns selbst. Sie gibt zu, daß wir als Opfer unsrer Leidenschaften unseren grundlosen Schmerzen unterliegen und uns sogar noch der Tränen rühmen, über die wir weit eher erröten sollten.

Zum erstenmal ist jetzt deine Leidenschaft erwacht. Es ist vielleicht die einzige, welche deiner würdig ist. Verstehst du es, sie als Mann zu beherrschen, so wird sie auch die letzte sein. Alle übrigen wirst du bezwingen und nur dem Ansporn der Tugend gehorchen.

In dieser Leidenschaft liegt, wie ich sehr wohl weiß, nichts Verbrecherischer. Sie ist ebenso rein wie die Seelen die sie empfinden. Die Sittsamkeit bildete sie und die Unschuld gab ihr Nahrung. Glückliche Liebende! In euch gesellen sich die Reize der Tugend zu denen der Liebe, und das süße Band, das eurer wartet, ist nicht weniger der Lohn eurer Sittsamkeit als der eurer Zuneigung. Aber sage mir, du aufrichtiger Mensch, hat dich diese an sich so reine Leidenschaft deshalb weniger unterjocht? Bist du weniger ihr Sklave geworden? Und würdest du, wenn sie morgen[515] aufhörte, unschuldig zu sein, sie von morgen an ersticken? Schon jetzt, in diesem Augenblicke, gilt es deine Kräfte zu versuchen; es ist zu spät dazu, wenn es darauf ankommt, sie anzuwenden. Es ist notwendig, daß diese gefährlichen Versuche fern von der Gefahr angestellt werden. Man übt sich nicht erst dem Feinde gegenüber im Kampfe. Noch vor dem Kriege rüstet man sich zu denselben. Nach vollendeter Rüstung tritt man dem Feinde erst entgegen.

Es ist eine irrtümliche Anschauung, wenn man zwischen erlaubten und verboten Leidenschaften unterscheidet, um sich den ersteren hinzugeben und die letzteren zu bekämpfen. Alle sind gut, sobald man ihrer Herr bleibt, alle sind dagegen auch wieder schlecht, sobald man sich ihrer Herrschaft unterwirft. Die Natur verbietet uns nun, unsere Neigungen über das Maß unserer Kräfte auszudehnen, die Vernunft verbietet das zu wollen, was wir nicht erreichen können, während das Gewissen zwar nicht verbietet, daß die Versuchung an uns herantritt, wohl aber, daß wir uns von ihr besiegen lassen. Es steht nicht in unserem eigenen Belieben, Leidenschaften zu haben oder nicht zu haben, aber es hängt von uns ab, über sie zu herrschen. Alle Empfindungen, welche wir beherrschen, sind berechtigt, alle aber, die uns beherrschen, sind sündhaft. In der Liebe eines Mannes zu dem Weibe eines anderen liegt nichts Strafbares, wenn er sich durch diese unglückliche Leidenschaft nicht verleiten läßt, das Gesetz der Pflicht zu verletzten; er macht sich aber durch die Liebe zu seiner eigenen Frau strafbar, wenn er der Liebe alles opfert.

Erwarte von mir keine weitschweifigen moralischen Lehren; ich habe dir nur eine einzige zu geben, welche alle übrigen in sich schließt. Sei ein Mensch, laß dein Herz die Schranken deiner menschlichen Stellung nicht überschreiten. Erforsche und erkenne diese Schranken. Wie eng sie auch sein mögen, so ist man doch nie unglücklich, solange man innerhalb derselben bleibt. Erst dann wird man es, wenn[516] man sie überschreiten will, erst dann, wenn man in seinen unsinnigen Begierden das Unmögliche für möglich betrachtet, seine menschliche Stellung vergißt, um in einer Traumwelt zu leben, aus der man doch immer wieder in das Reich der Wirklichkeit zurücksinkt. Die einzigen Güter, deren Entbehrung uns schmerzlich ist, sind diejenigen, auf welche wir ein Anrecht zu besitzen glauben. Die augenscheinliche Unmöglichkeit, in ihren Besitz zu gelangen, lenkt unsere Gedanken von ihnen ab. Hoffnungslose Wünsche vermögen uns nicht zu martern. Einen Bettler ficht der Wunsch, König zu sein, wenig an. Ein König wird nur danach streben, Gott zu sein, wenn er nicht mehr Mensch zu sein glaubt.

Die Illusionen des Stolzes sind die Quelle unserer größten Uebel. Die Betrachtung des menschlichen Elends macht den Weisen dagegen stets maßvoll. Er verharrt auf der ihm angewiesenen Stelle und bereitet sich keine Unruhe mit dem fruchtlosen Wunsch, aus ihr herauszutreten. Er vergeudet seine Kräfte nicht mit dem vergeblichen Streben, sich den Genuß dessen zu verschaffen, was er sich doch nicht erhalten kann, und indem er sie sämtlich darauf verwendet, seines wirklichen Besitzes froh zu werden, wächst seine Macht und sein Reichtum in Wahrheit um so viel, als er weniger wird, denn wir erstrebten. Kann ich sterbliches und vergänglichen Wesen wohl auf dieser Erde, wo alles wechselt und vergeht, und von der ich morgen wieder verschwinden werde, ewige Bande knüpfen? O Emil, o mein Sohn, was würde mir noch bleiben, wenn ich dich verlöre? Und dennoch muß ich mit dem Gedanken an deinen Verlust vertraut machen, denn wer weiß, wie bald du mir entrissen wirst.

Willst du folglich glücklich und weise leben, so hänge dein Herz nur an die Schönheit, welche nie vergeht. Richte deine Wünsche nach deinen Verhältnissen, ordne deine Neigungen deinen Pflichten unter, unterwirft auch das Moralische dem Gesetze der Notwendigkeit. Lerne verlieren,[517] was dir entrissen werden kann, lerne auf alles verzichten, wenn es die Tugend erheischt, dich über die Ereignisse hinwegsetzen, dein Herz von ihnen lösen, ohne daß sie es zerreißen, lerne mutig sein unter Widerwärtigkeit, damit du nie elend werdest, und fest in deiner Pflicht, damit du dich nie strafbar machst. Dann wirst du dem Schicksal zum Trotz glücklich und den Leidenschaften zum Trotz weise sein; dann wirst du sogar im Besitze vergänglicher Güter eine Freude empfinden, die nichts zu stören vermag. Du wirst sie besitzen, ohne daß sie dich besitzen, und du wirst fühlen, daß der Mensch, dem doch alles entgleitet, nur das recht genießt, was er zu verlieren weiß. Es ist freilich wahr, daß dir die Illusionen eingebildeter Freuden verloren gehen, dafür wirst du aber auch von den Schmerzen verschont bleiben, die ihre Frucht sind. Du wirst bei diesem Tausche viel gewinnen, denn während jene Freuden selten und nichtig sind, sind diese Schmerzen häufig und wirklich. Nachdem du so viele trügerische Meinungen zurückgewinnen hast, wirst du auch derjenigen siegreich widerstehen, welche dem Leben einen zu hohen Wert beilegt. Du wirst das deinige ohne Unruhe zurücklegen und es ohne Schrecken beenden. Du wirst dich von ihm ebenso wie von allem übrigen losreißen. Mögen andere, von Schrecken ergriffen, dem Wahne huldigen, daß sie mit dem Austritt aus dem Leben zu sein aufhören, du wirst vielmehr, da du dich von der Nichtigkeit desselben überzeugt hast, fest glauben, daß das wahre Leben dann erst beginnt. Der Tod bildet für den Bösen des Lebens Ende, für den eigentlichen Anfang.«

Emil hört mich mit einer von Unruhe gemischten Aufmerksamkeit an. Er besorgt einen traurigen Schluß dieser Einleitung. Ihn ahnt, daß ich ihm die Notwendigkeit, die Seelenkraft zu üben, um ihn darauf vorzubereiten, daß ich ihn dieser harten Uebung unterwerfen will. Wie ein Verwundeter zittert, sobald er den Wundarzt nahen sieht, so glaubt er auf seiner Wunde schon die schmerzende,[518] wenn auch heilsamen Hand zu fühlen, die ihn von dem Verderben zurückhält.

Ungewiß, beunruhigt und ungeduldig zu erfahren, was ich eigentlich im Schilde führe, fragt er mich, anstatt zu antworten, obwohl mit einiger Bangigkeit. »Was muß ich tun?« beginnt er fast zitternd, und ohne zu wagen, die Augen zu mir zu erheben. »Was du tun mußt?« erwidere ich festen Tones, »du mußt Sophie verlassen.« – »Was sagen Sie?« ruft er leidenschaftlich aus, »Sophie verlassen! Sie verlassen, sie hintergehen, ein Verräter an ihr werden, ein Schurke, ein Meineidiger!« – »Wie?« versetze ich, unterbrechend, »mir kannst du zutrauen, daß ich dich anhalten werde, dir solche Namen zu verdienen?« – »Nein,« – »Nein,« entgegnet er mit derselben Leidenschaftlichkeit, »weder Sie noch ein anderer könnte mich dazu zwingen. Selbst wider Ihren Willen werde ich Ihr Werk aufrechtzuerhalten wissen; nie werde ich diese Namen verdienen.«

Auf diesen ersten Wutausbruch hatte ich mich gefaßt gemacht. Ich ließ, ohne in Aufregung zu geraten, vorübergehen. Besäße ich nicht selbst die Mäßigung, die ich ihm predige, so würde es mir übel anstehen, sie ihm zu predigen! Emil kennt mich zu genau, um mir zuzutrauen, daß ich je etwas Schlechtes von ihm verlangen könnte, und er weiß sehr wohl, daß er eine schlechte Handlung begehen würde, wollte er Sophie in dem Sinne verlassen, welchen er diesem Worte beilegt. Er erwartet also doch schließlich, daß ich mich endlich erkläre. Und so fahre ich in meiner Rede denn weiter fort:

»Kannst du dir vorstellen, lieber Emil, daß ein Mann, in welcher Lage er sich auch befinde, glücklicher sein könnte, als du es seit drei Monaten bist? Wenn du es glaubst, so erkenne deinen Irrtum. Sinnengenuß ist vorübergehend, der gewohnte Herzenszustand verliert stets dabei. Du hast in Hoffnung schon einen größeren Genuß gehabt, als dir je[519] in Wirklichkeit zuteil werden wird. Die Phantasie, welche den Gegenstand unseres Sehens verschönt, ist bei dem Besitz in Untätigkeit. Mit Ausnahme des einzigen Wesens, welches durch sich selbst existiert, ist nur das schön, was nicht ist. Wenn dein gegenwärtiger glücklicher Zustand hätte dauernden Bestand haben können, so würdest du das höchste Glück gefunden haben. Aber alles Menschliche ist hinfällig, alles ist endlich, alles im Menschenleben ist vorübergehend. Selbst wenn der Zustand, welcher uns glücklich macht, immer dauern würde doch die Gewohnheit des Genusses denselben wesentlich abschwächen. Wenn auch äußerlich keine Aenderung eintritt, so ist doch das Herz einem Wechsel unterworfen. Das Glück verläßt uns oder wir verlassen das Glück.

Während deines Liebesglückes ist die Zeit, welche du zu messen vergaßest, verflossen. Der Sommer ist vergangen, der Winter steht vor der Tür. Könnten wir auch unsere Ausflüge während einer so rauhen Jahreszeit fortsetzen, so würde man es doch nie dulden. So ungern wir uns auch dazu bequemen, so müssen wir dennoch unsere Lebensweise ändern; unsre jetzige darf nicht länger so fortdauern. Deine ungeduldigen Blicke geben mir zu verstehen, daß du glaubst, diese Schwierigkeit leicht heben zu können. Sophiens Geständnis sowie dein eigenes Sehnen geben dir ein leichtes Mittel an die Hand, den Schnee zu vermeiden und der Wanderung zu ihrem Besuche überhoben zu sein. Dieses Hilfsmittel ist unstreitig bequem. Ist aber der Frühling gekommen, so schmilzt zwar der Schnee, doch die Ehe bleibt. Allein man muß sein Sinnen auf alle Jahreszeiten richten.

Du willst Sophie heiraten, obwohl du sie noch nicht fünf volle Monate kennst. Du willst sie nicht deshalb heiraten, weil sie für dich paßt, sondern weil sie dir gefällt. Als ob sich die Liebe noch nie über die Angemessenheit getäuscht hätte, und als ob anfängliche Liebe noch nie in Haß umgeschlagen wäre! Sie ist tugendhaft, ich weiß es. Ist[520] das aber schon ausreichend? Genügt Sittsamkeit allein, um in der Ehe die Herzen auf das innigste zu verbinden? Nicht ihre Tugend ziehe ich in Zweifel, aber ihr Charakter flößt mir Bedenken ein. Läßt sich der Charakter einer Frau etwa in einem Tage erkennen? Weißt du, in wieviel Lagen man sie gesehen haben muß, um ihr Gemüt völlig zu durchschauen? Gibt eine viermonatige Zuneigung eine Bürgschaft für das ganze Leben? Vielleicht hat sie dich schon nach einer Abwesenheit von zwei Monaten wieder vergessen. Vielleicht wartet schon ein anderer nur auf deine Entfernung, um dich aus ihrem Herzen zu verdrängen. Vielleicht wirst du sie bei deiner Rückkehr ebenso gleichgültig finden, als du sie bis jetzt für deine Liebe empfänglich fandest. Die Gefühle haben mit den Grundsätzen nichts zu schaffen. Sophie kann sehr sittsam bleiben und trotzdem dich zu lieben aufhören. Ich glaube freilich annehmen zu können, daß sie in ihrer Liebe unwandelbar und treu sein wird. Wer aber bürgt dir für sie und wer bürgt ihr für dich, solange ihr euch noch keiner gegenseitigen Probe unterworfen habt? Wollt ihr mit dieser Probe warten, bis sie euch überflüssig? Wollt ihr, um euch kennen zu lernen, warten, bis ihr euch nicht mehr zu trennen vermögt?

Sophie zählt kaum achtzehn Jahre, während du kaum das zweiundzwanzigste zurückgelegt hast. Das ist das Alter für die Liebe, aber nicht für die Ehe. Was für einen Hausvater und eine Hausmutter würdet ihr abgeben! Um Kinder erziehen zu können, wartet wenigstens so lange, bis ihr selbst die Kinderschuhe ausgezogen habt. Weißt du, wie vielen junge Frauen die Beschwerden einer zu früh eingetretenen Schwangerschaft den Körper geschwächt, die Gesundheit untergraben und das Leben verkürzt haben? Weißt du, wie viel Kinder kraftlos und schwach geblieben sind, weil sie in einem noch nicht völlig ausgebildeten Körper ihre erste Nahrung fanden? Wenn noch die Mutter ebenso wie ihr Kind wachsen muß und sich deshalb der zum Wachstum[521] notwendige Nahrungsstoff unter zwei verteilt, wenn also keines von ihnen das erhält, was ihnen nach der Bestimmung der Natur nötig ist, wie ist es dann anders möglich, als daß beide darunter zu leiden habe? Ich müßte dich sehr schlecht kennen, Emil, wenn ich dir nicht zutrauen sollte, daß du lieber später eine gesunde Frau und kräftige Kinder haben, als deine Ungeduld auf Kosten deiner Gattin und ihrer Gesundheit befriedigen möchtest.

Ich will nur noch einige Bemerkungen in bezug auf dich selbst anknüpfen. Hast du wohl, da du dich nach dem Gatten- und Vaterstande sehnst, schon über die damit verknüpfen Pflichten nachgedacht? Dadurch, daß du ein Familienhaupt wirst, triffst du auch zugleich in die Reihen der vollberechtigten Glieder des Staates ein. Was heißt das, ein Staatsglied sein? Weißt du es? Die Pflichten, die dir als Menschen obliegen, hast du studiert; kennst du aber auch deine bürgerlichen Pflichten? Weißt du, was Regierung, Gesetz, Vaterland zu bedeuten hat? Weißt du, um welchen Preis es dir zu leben gestattet ist, und für wen du sterben mußt? Du bildest dir ein, alles gelernt zu haben, und weißt eigentlich doch noch nichts. Bevor du eine Stellung in der bürgerlichen Ordnung einnimmst, lerne letztere erst kenne und mache dich damit vertraut, welcher Rang dir in derselben gebührt.

Emil, du mußt Sophie verlassen. Ich will damit nicht sagen, daß du sie aufgeben sollst. Wärest du dessen fähig, so würde sie sich nur glücklich preisen können, wenn sie sich nie mit dir vermählte. Du mußt sie verlassen, um ihrer würdig zurückzukehren. Gib dich nicht dem eilten Wahne bin, du habest sie jetzt verdient. O, wieviel bleibt dir noch zu tun! Eile, diese edle Aufgabe zu erfüllen; lerne eine Trennung von ihr auszuhalten; gewinne den Lohn der Treue, damit du sie dir bei deiner Rückkehr vor ihr als Ehre anrechnen und ihre Hand nicht als eine Gnade, sondern als eine Belohnung begehren kannst.«[522] Noch ungeübt gegen sich selbst anzukämpfen, noch ungewohnt, das eine zu ersehen und das andere zu wollen, ergibt sich der junge Mann nicht sogleich. Er leistet Widerstand, er führt Gegengründe an. Weshalb sollte er dem Glück entsagen, welches seiner wartet? Läge nicht in der Zögerung, die ihm dargebotene Hand anzunehmen, eine Verschmähung derselben? Wäre es denn wirklich eine absolute Notwendigkeit, sich von ihr zu trennen, um sich das anzueignen, was ihm noch zu wissen nötig wäre? Und selbst dies zugestanden, weshalb sollte er ihr nicht in unlöslichen Bandes das sichere Unterpfand seiner Rückkehr lassen? Sobald er erst ihr Gatte wäre, würde er sofort bereit sein, mir zu folgen. Nach ihrer Vereinigung könnte er sie ohne Furcht verlassen... »Euch zum Zwecke eurer Trennung vereinigen, lieber Emil? Was für ein Widerspruch! Es ist schön, wenn ein Geliebter ohne seine Geliebte zu leben vermag, aber ein Gatte darf sein Weib nie ohne Not verlassen. Sollen deine Bedenklichkeiten beseitigt werden, so muß der Aufschub deiner Ehe, wie ich mich jetzt überzeuge, nicht von dir ausgehen. Du mußt deiner Sophie sagen können, daß du sie nur gezwungen verläßt. Nun gut, gib dich zufrieden! Da du der Vernunft nicht gehorchen willst, so erkenne nun einen anderen Herrn an. Du hast gewiß nicht die Verpflichtung vergessen, die du mir gegenüber bist. Emil, du mußt Sophie verlassen. Ich will es.«

Bei diesem Worte senkt er den Kopf, bleibt stumm, hängt einen Augenblick seinen Gedanken nach und sagt darauf, indem er mich vertrauensvoll anblickt: »Wann reifen wir ab?« – »In acht Tagen,« entgegne ich, »denn wir müssen Sophie erst auf unsere Abreise vorbereiten. Die Frauen sind schwächer, weshalb man ihnen schonende Rücksicht schuldig ist, und da die Pflicht nicht von ihr wie von dir diese Trennung erfordert, so darf sie dieselbe weniger mutig ertragen.«[523] Ich kann kaum der Versuchung widerstehen, das Tagebuch der Liebe dieser beiden jungen Leute bis zu ihrer Trennung fortzusetzen. Da ich indes die Nachricht der Leser schon lange genug mißbrauche, so will ich, um dieser Episode einmal ein Ende zu machen, mich kurz fassen. Wird Emil es wagen, zu den Füßen seiner Geliebten dieselbe Sicherheit zur Schau zu tragen, die er soeben seinem Freunde gegenüber bewiesen hat? Ich für meinen Teil halte mich davon überzeugt. Die Aufrichtigkeit seiner Liebe selbst muß ihm diese Sicherheit verleihen. Wäre diese Trennung von ihr ein wenig schweres Opfer für ihn, so würde er verlegener sein. Er würde sich beim Abschied schuldbewußt fühlen, und dies Gefühl versetzt ein redliches Herz stets in Verlegenheit. Je größer aber das Opfer ist, welches er bringt, desto mehr gereicht es ihm in den Augen derjenigen zur Ehre, die es ihm so schwer macht. Er hegt keine Besorgnis, daß sie sich über den Beweggrund, von dem er sich leiten läßt, einer Täuschung hingibt. Er scheint ihr mit jedem Blicke zu sagen: »O Sophie, lies in meinem Herzen und bleibe mir treu; dein Geliebter ist nicht gewissenlos.«

Die mutige Sophie ihrerseits sucht den Schlag, der sie so unversehens trifft, mit Würde zu tragen. Sie strengt sich an, gegen denselben unempfindlich zu erscheinen. Da ihr aber nicht, wie Emil, neben der Ehre des Kampfes auch noch die des Sieges zuteil wird, so vermag sie ihre Festigkeit nicht lange zu bewahren. Wie sehr sie sich auch zusammennimmt, bricht sie doch in Tränen und Seufzen aus, und die Angst, daß Emil sie vergessen könnte, verschärft den Schmerz der Trennung. Zwar weint sie nicht in Gegenwart ihres Geliebten, zeigt sie an seiner Seite nicht ihre Angst; nein, lieber würde sie ersticken, als daß sie sich in seiner Gesellschaft auch nur einen einzigen Seufzer entschlüpfen ließe. Aber mir schüttet sie ihre Klagen aus, ich darf ihre Tränen fließen sehen, ich bin es, den sie sich[524] dem Anscheine nach zum Vertrauten wählt. Die Frauen sind gewandt und wissen sich zu verstellen. Je heftiger sie im geheimen über meine Tyrannei murrt, mit desto größerer Aufmerksamkeit kommt sie mir entgegen. Sie ist sich dessen bewußt, daß ihr Schicksal in meinen Händen liegt.

Ich tröste sie, spreche ihr Mut zu und bürge ihr für ihren Geliebten oder vielmehr für ihren Gemahl, denn ich schwöre es ihr zu, daß er dies in zwei Jahren sein wird, wenn sie nur mit ebensolcher Treue an ihm hange, wie er an ihr. Sie hegt eine viel zu hohe Achtung vor mir, um glauben zu können, daß ich darauf ausgehe, sie zu täuschen. Ich verbürge mich bei jedem von beiden für den anderen. Ihre Herzen, ihre Tugend, meine Rechtschaffenheit, das Vertrauen ihrer Eltern – alles beruhigt sie wieder allmählich. Aber wie wenig vermag die Vernunft wider die Schwäche! Sie scheiden voneinander, als wäre es eine Trennung auf Nimmerwiedersehen.

Nun fällt Sophie der Kummer der Eucharis ein und sie träumt sich lebhaft an ihre Stelle. Verhüten wir jedoch, daß während unserer Abwesenheit jene phantastische Liebe wieder erwache. »Sophie,« sage ich deshalb eines Tages zu ihr, »tauschen Sie und Emil Ihre Lieblingsbücher aus. Geben Sie ihm Ihren Telemach, damit er ihm ähnlich zu werden lerne, Sie aber mögen sich von ihm seinen Beobachter192 geben lassen, in welchem Sie so gern lesen. Machen Sie sich aus demselben mit den Pflichten eines ehrbaren Weibes vertraut und sein Sie dessen eingedenk, daß diese Pflichten in zwei Jahren die Ihrigen sein werden.« Dieser Tausch findet beider Beifall und erfüllt sie mit Vertrauen. Endlich erscheint der traurige Tag des Scheidens.

Sophiens würdiger Vater, mit dem ich alles ausführlich besprochen habe, umarmt mich, als ich von ihm Abschied[525] nehme. Darauf nimmt er mich beiseite und sagt in ernstem und nachdrucksvollem Ton: »Ich bin in allen Stücken Ihrem Wunsche nachgekommen, denn ich wußte, daß ich es mit einem Ehrenmanne zu tun hatte. Jetzt brauche ich Ihnen nur noch ein Wort zu sagen: Vergessen Sie nicht, daß Ihr Zögling seinen Ehekontrakt auf dem Munde meiner Tochter besiegelt hat.«

Wie abweichend ist das Benehmen der beiden Liebenden! Emil, der heftig, feurig, aufgeregt und außer sich ist, schreit laut auf, benetzt die Hände des Vaters, der Mutter, der Tochter mit Strömen von Tränen, umarmt schluchzend alle Hausgenossen und wiederholt mit einer Verwirrung, die bei jeder anderen Gelegenheit ein unwillkürliches Lächeln hervorrufen würde, tausendmal dasselbe; während Sophie, niedergeschlagen, bleich, mit traurigem Auge und trübem Blicke ruhig bleibt, kein Wort spricht, keine Träne vergießt und niemand, nicht einmal Emil, anblickt. Obwohl er ihre Hände ergreift und sie an sein Herz drückt, bleibt sie unbeweglich, unempfindlich für seine Tränen, unempfindlich auch für seine Liebkosungen und für alles, was er tut. Für sie ist er schon geschieden. Wieviel rührender ist der sich darin aussprechende tiefe Kummer als das ungestüme Klagegeschrei und der lärmende Schmerz ihres Geliebten. Er sieht und fühlt es, es zerreißt ihm das Herz. Nur mit Mühe vermag ich ihm von ihr loszureißen. Zögere ich nur noch einen Augenblick, so fehlt es ihm an Kraft, zu scheiden. Es ist mir aufrichtig lieb, daß er den Eindruck dieses traurigen Bildes mit sich nimmt. Sollte er sich je versucht fühlen, zu vergessen, was er Sophie schuldig ist, so brauche ich ihn nur an ihr Bild im Augenblicke des Abschiedes zu erinnern: und sein Herz müßte schon ganz entartet sein, wenn es mir nicht gelingen sollte, ihn wieder zu ihr zurückzuführen.
[526]

Reisen

Man wirft die Frage auf, o es für junge Leute gut sei, zu reisen, und streitet viel darüber. Würde man die Frage etwas anders stellen, etwa so, ob es gut sei, daß Männer gereist sind, so würde man vielleicht nicht so viel streiten.

Der Mißbrauch, den man mit den Büchern treibt, ertötet die Wissenschaft. Da man sich das, was man gelesen hat, zu wissen einbildet, so glaubt man der Anstrengung, es erst zu lernen, überhoben zu sein. Eine zu große Belesenheit erzeugt nur zu oft dünkelhafte Unwissenheit. Unter allen Jahrhunderten, in welchen literarische Bildung pflegte, hat es kein einziges gegeben, in welchem man so viel las wie in dem gegenwärtigen, und kein einziges, in welchem man weniger Anspruch auf Gelehrsamkeit machen kann.193 In keinem Lande werden so viel Geschichtswerke und Reisebeschreibung gedruckt wie in Frankreich, und trotzdem kennt man in keinem den Geist und die Sitten anderer Völker weniger als hier. Ueber dieser Menge von Büchern vernachlässigen wir das Welt, oder lesen wir noch darin, so hält sich jeder an sein besonderes Blatt. Wenn mir die sprichwörtliche Redensart »Kann man ein Perser sein« auch unbekannt wäre, so würde ich doch beim bloßen Anhören derselben sofort erraten, daß sie aus dem Lande stammt, in welchem sich die nationalen Vorurteile am meisten der Herrschaft bemächtigt haben, und von dem Geschlechte, welches zu ihrer Verbreitung am meisten beiträgt.

Ein Pariser wähnt die Menschen zu kennen, während er doch nur die Franzosen kennt. Obgleich seine Stadt fortwährend von Fremden wimmelt, betrachtet er doch jeden derselben als eine ganz ungewöhnliche Erscheinung, der in der ganzen Welt nichts Gleiches an die Seite gestellt werden[527] kann. Man muß die Bürger dieser großen Stadt aus der Nähe gesehen, muß in ihrer Mitte gelebt haben, um es begreiflich zu finden, daß man bei so vielem Geiste einen so hohen Grad von Dummheit besitzen kann. Es ist dies um so auffallender, als jeder von ihnen vielleicht schon zehnmal die Beschreibung des Landes gelesen hat, dessen Bewohner ihm hier ein so großartiges Erstaunen abnötigen.194

Es heißt zuviel von uns verlangt, wenn wir, um die Wahrheit aufzufinden, uns zugleich über die Vorurteile der Schriftsteller wie über unsere klar werden sollen. Ich habe viel Reisebeschreibungen in meinem Leben gelesen, habe aber noch nicht zwei gefunden, welche in mir dieselbe Idee von dem nämlichen Volke erweckt hätten. Als ich das wenige, welches mir selbst zu beobachten möglich war, mit dem verglich, was ich gelesen hatte, hörte ich schließlich auf, mich ferner um Reisebeschreibung zu bekümmern, und bedauerte aufrichtig die Zeit, die ich zu meiner Belehrung auf ihre Lektüre verwandt hatte, da ich der festen Ueberzeugung war, daß, will man Beobachtungen irgendwelcher Art machen, man nicht lesen, sondern sehen muß. Selbst wenn alle Reisenden aufrichtig wären, wenn sie nichts berichteten, als was sie mit eigenen Augen gesehen oder was sie für vollkommen wahr halten, und wenn sie die Wahrheit nur in den falschen Farben wiedergäben, welche dieselbe in ihrer Augen annimmt, selbst dann schon hätte meine obige Behauptung ihrer vollen Grund; um wie viel mehr aber erst, wenn man die Wahrheit noch aus ihren Lügen und absichtlichen Verdrehungen muß.

Wir wollen deshalb die Bücher, welche man uns als ein so vortreffliches Hilfsmittel anpreist, denen überlassen, deren geistige Fähigkeit in ihnen Befriedigung findet. Dieses Hilfsmittel dient, wie die Kunst des Raymond Lullus,195 nur[528] dazu, über Dinge, von denen man nichts versteht, schwatzen zu lernen, dient zur Abrichtung fünfzehnjähriger Platos, dient, sie in den Stand zu setzen, in Vereinen philosophische Vorträge zu halten und die Gesellschaft auf Grund der Berichte eines Paul Lukas oder eines Tavernier196 über die Sitten der Aegypter und Inder zu unterrichten.

Für mich gilt es als eine ausgemachte Wahrheit, daß derjenige, welcher nur einem Volke bekannt ist, nicht Menschen im allgemeinen, sondern nur die Leute kennt, unter denen er gelebt hat. Danach könnte die Frage und bezug auf den Nutzen des Reisens auch noch eine andere Fassung erhalten, nämlich: Ist es für einen Mann von guter Erziehung ausreichend, nur seine Landsleute zu kennen, oder ist es für ihn von Wichtigkeit, sich allgemeine Menschenkenntnis zu erwerben? Darüber kann kein Streit noch Zweifel herrschen. Hieraus läßt sich erkennen, wieviel bei der Lösung einer schwierigen Frage von der Fassung derselben abhängt.

Muß man nun aber, um die Menschen zu studieren, die ganze Erde durchstreifen? Muß man, um die Europäer zu beobachten, nach Japan gehen? Muß man sämtliche Individuen kennen, um das Geschlecht kennen zu lernen? Sicherlich nicht. Es gibt Menschen, die sich so ähnlich sehen, daß es nicht der Mühe wert ist, sie einzeln zu studieren. Wer zehn Franzosen gesehen hat, der hat alle gesehen. Kann man nun auch dies von den Engländer und einigen anderen Völkern nicht mit ebensolcher Bestimmtheit behaupten, so steht doch so viel fest, daß jede Nation ihren besonderen und eigentümlichen Charakter hat, der nicht durch die Beobachtung eines einzelnen, wohl aber durch die mehrerer ihrer Glieder durch einfache Schlußfolgerung[529] gefunden werden kann. Wer zehn Völker miteinander verglichen hat, kennt die Völker, wie der, welcher mit zehn Franzosen Umgang gehabt hat, die Franzosen kennt.

Ein oberflächliches Durchstreifen der Länder reicht nun aber zur Belehrung noch nicht hin; man muß zu reisen verstehen. Zum Beobachten muß man Augen haben und sie auf den Gegenstand richten, welchen man kennen zu lernen wünscht. Viele Leute lernen auf ihren Reisen noch weniger als aus ihren Büchern, weil ihnen die Kunst zu denken fremd ist, und weil bei der Lektüre ihr Geist wenigstens der Leitung des Schriftstellers folgt, während es ihnen auf ihren Reisen an der Fähigkeit fehlt, selbst Beobachtungen anzustellen. Andere unterrichten sich einfach deshalb nicht, weil sie nicht Lust haben, sich zu unterrichten. Ihr Zweck ist ein so verschiedener, daß sich jener ihrem Gesichtskreise völlig entzieht. Es ist ein großer Zufall, wenn man das, dessen Anblick einem gleichgültig ist, genau sieht. Von allen Völkern der Erde reisen die Franzosen am meisten, aber durchdrungen von der Vortrefflichkeit ihrer eigenen Sitten, verwerfen sie alles, was diesen nicht gleicht. In allen Winkeln der Erde finden sich Franzosen. Kein Land kann mehr Leute aufweisen, die Reisen unternommen haben, als Frankreich. Und trotzdem kennt unter allen Völkern Europas gerade dasjenige, welches die übrigen am häufigsten besucht hat, sie am allerwenigsten. Auch die Engländer reisen, aber auf andere Weise. Diese beiden Völker müssen in jeder Beziehung einen Gegensatz bilden. Bei den Engländer reist der Adel, bei den Franzosen reist er nicht.

In bezug auf das Volk findet das umgekehrte Verhältnis statt. Dieser Unterschied scheint mir für die Engländer ehrenvoll. Die Franzosen lassen sich bei ihren Reisen fast immer von einem bestimmten Interesse leiten, während die Engländer ihr Glück nie bei anderen Nationen suchen, es geschehe denn auf dem Wege des Handels oder vermittels[530] voller Hände. Der Zweck ihres Reisens ist, ihr Geld auszugeben, nicht ihren Unterhalt zu suchen. Sie sind zu stolz, um in der Fremde in Niedrigkeit zu leben. Hierin liegt auch der Grund, daß sie in fremden Ländern mehr lernen als die Franzosen, welche sich mit ganz anderen Plänen tragen. Gleichwohl haben die Engländer ebenfalls ihre nationalen Vorurteile, ja sie haben deren sogar mehr als irgendein anderes Volk, allein diese Vorurteile beruhen weniger auf Unwissenheit, als auf einer gewissen Manie. Die Vorurteile des Engländers stammen aus seinem Stolze, die des Franzosen aus seiner Eitelkeit.

Wie der Völker, welche auf einer weniger hohen Kulturstufe stehen, im allgemeinen die vernünftigen sind, so pflegen auch diejenigen, unter welchen am seltensten Reisen vorkommen, dafür am besten zu reisen. Da sie in unseren nichtigen Forschungen geringere Fortschritte gemacht und sich von den Gegenständen unserer eitlen Wißbegierde weniger haben einnehmen lassen, so wenden sie dem, was in Wahrheit nützlich ist, ihre ganze Aufmerksamkeit zu. Ich kenne nur die Spanier, welche auf diese Weise reisen. Während ein Franzose von einem Künstler des Landes zum anderen läuft, ein Engländer Antiken abzeichnen läßt und ein Deutscher allen Gelehrten sein Album vorlegt, studiert der Spanier im stillen die Regierungsart, die Sitten, die Staatsverwaltung, und ist unter den vieren der einzige, welcher bei seiner Heimkunst von dem, was er gesehen hat, irgendeine Beobachtung, die seinem Vaterlande nützlich werden kann, mitbringt.

Die Alten reisten wenig, lasen wenig, schrieben wenig Bücher, und trotzdem ist man an dem, was uns von ihnen übrig ist, noch zu erkennen imstande, daß sie einander besser beobachteten, als wir unsere Zeitgenossen beobachten. Ohne bis auf Homer, den einzigen Dichter, der uns völlig in das Land versetzt, von dem er uns eine Beschreibung liefert, zurückzugehen, so muß man doch dem Herodot die Ehre zuerkennen,[531] daß er uns in seiner Geschichte, obgleich sie mehr Erzählungen als Reflexionen enthält, die Sitten besser als alle unsere Geschichtschreiber geschildert hat, die ihre Werke mit Beschreibungen, Charakteristiken förmlich überladen. Tacitus hat die Deutschen seiner Zeit besser gezeichnet, als irgendein Schriftsteller die heutigen Deutschen gezeichnet hat. Unstreitig kennen diejenigen, welche in der alten Geschichte bewandert sind, die Griechen, Karthager, Römer, Gallier und Perser besser, als irgendein Volk in der Gegenwart seine Nachbarn kennt.

Hierbei muß man nun freilich einräumen, daß sich der ursprüngliche Charakter der Völker von Tag zu Tag mehr verwischt und sich aus diesem Grund auch schwerer verstehen läßt. In dem Maße, in welchem die Volksstämme sich vermischen und die Völker miteinander verschmelzen, sieht man die Volksunterschiede, welche sonst beim ersten Blick auffielen, nach und nach verschwinden. Ehemals blieb jede Nation mehr in sich selbst abgeschlossen. Der Verkehr war weniger ausgebildet, es fanden nicht so viele Reisen statt, man hatte weniger gemeinsame oder entgegengesetzte Interesse, die politischen und gesellschaftlichen Verbindungen zwischen Volk und Volk waren nicht so zahlreich und man wußte nichts von jenen königlichen Aufhetzereien Unterhandlungen genannt, sowie von ordentlichen Gesandten oder Ministerresidenten. Weite Seefahrten kamen selten vor; es gab wenig Handel nach fernen Gegenden, und der unbedeutende Handel, den es überhaupt gab, wurde entweder von dem Fürsten selber getrieben, der sich dazu Fremder bediente, oder von verachteten Persönlichkeiten, die völlig einflußlos waren und zu der gegenseitigen Annäherung der Völker nichts beizutragen vermochten. Heutzutage ist der Verkehr zwischen Europa uns Asien hundertmal stärker als er ehedem zwischen Gallien und Spanien war. Europa allein war unter sich unzusammenhängender als in unseren Tagen die ganze Erde.[532]

Dazu wollte man noch ferner berücksichtigen, daß sich die alten Völker meistens als Ureinwohner oder aus ihrem eigenen Lande herstammende betrachteten, da sie es lange genug in Besitz hatten, um das Andenken an die längst verflossenen Jahrhunderte, in welchen sich ihre Vorfahren in demselben niederließen, vergessen zu können und dem Klima die nötige Zeit zu gewähren, bleibende Spuren an ihnen zurückzulassen; während unter und erst die Einfälle der Römer und darauf die noch im frischen Andenken stehenden Einwanderungen der Barbaren alles untermischt, alles Ursprüngliche vernichtet haben. Die heutigen Franzosen sind nicht mehr von so großen Körperbau und so blond und flachshaarig wie ihre Väter. Die Griechen sind nicht mehr jene schönen Menschen, geschaffen, der Kunst als Vorbilder zu dienen. Sogar die Gestalt der Römer hat ebenso wie ihre Natur ihren Charakter geändert. Die Perser, die eigentlichen Ureinwohner der Tatarei, verlieren infolge ihrer Vermischung mit tscherkessischem Blute mit jedem Tage von ihrer ursprünglichen Häßlichkeit. Die Europäer sind keine Gallier, Iberier, Allobroger mehr. Sie sind sämtlich, was ihre Gestalt, und noch mehr, was ihre Sitten anlangst, nur verschieden ausgeartete Skythen.

Deshalb ließen auch die alten Rassenunterschiede, die Beschaffenheit der Luft und des Bodens ehemals das Temperament, die Gestalt, die Sitten und Charaktere der einzelnen Völker ungleich schärfer hervortreten, als dies in unsren Tagen der Fall ist, in welchen die europäische Unbeständigkeit keiner natürlichen Ursache Zeit läßt, eine Einwirkung, und in welchen die Abholzung der Wälder, die Austrocknung der Sümpfe sowie die gleichmäßigere, obgleich schlechtere Bewirtschaftung des Bodens selbst in physischer Beziehung keine bemerkbare Verschiedenheit des Bodens und der Länder übriglassen.

Dergleichen Erwägungen sollten wohl Ursache genug sein, daß man sich nicht so sehr beeilte, einen Herodot,[533] Ktesias und Plinius deshalb lächerlich zu finden, weil sie die Bewohner verschiedener Länder mit Originalzügen und mit stark ausgeprägten Unterschieden darstellen, die wir an ihnen nicht mehr entdecken können. Um in ihnen dieselben Gestalten wiederzuerkennen, müßte man auch dieselben Menschen wiederfinden; damit sie sich aber immer gleichgeblieben wären, hätte auch nichts sie verändern dürfen. Können wir alle Menschen, die je gelebt haben, auf einmal überschauen, würde es dann wohl einem Zweifel unterliegen, daß wir an ihnen von einem Jahrhundert zum anderen größere Unterschiede finden würden, als wir heutzutage zwischen den einzelnen Völkern wahrnehmen?

Je schwieriger nun die Beobachtungen werden, desto nachlässiger und unzulänglicher werden sie angestellt; hierin liegt ein weiterer Grund zu dem geringem Erfolg unserer Forschungen in der Naturgeschichte des Menschengeschlechts. Die Belehrung, welche Reisen gewähren, wird von dem Reisezwecke bedingt. Ist dieser Zweck auf ein philosophisches System gerichtet, so sieht der Reisende nie etwas anderes als das, was er sehen will. Handelt es sich dagegen um einen äußeren Gewinn, so nimmt er die Aufmerksamkeit derer, die nach ihm jagen, völlig in Anspruch. Der Handel und die Künste, welche die Völker in die innigste Berührung bringen und miteinander verschmelzen, hindern sie indes auch, sich gegenseitig zu studieren. Kennen sie einmal den Vorteil, welchen ihnen ihr Verkehr abwirft, was brauchen sie dann noch mehr zu wissen?

Es gereicht dem Menschen zum wesentlichen Nutzen, alle die Gegenden kennen zu lernen, in denen man leben kann, um imstande zu sein, sich später die jenige auszuwählen, in der es sich am angenehmsten leben läßt. Wäre sich jeder selbst genug, so wäre es ausreichend, wenn er den Umfang des Landes kennt, welches ihn zu ernähren vermag. Der Wilde, der niemandes bedarf und nach nichts in der ganzen[534] Welt Begehren trägt, kennt kein anderes Land als das seinige und sucht auch kein anderes zu lernen. Sieht er sich um seiner Existenz willen genötigt, sein Besitztum zu erweitern, so flieht er die von Menschen bewohnten Gegenden; sein Verlangen ist nur auf Tiere gerichtet, weil er ihrer allein zu seinem Unterhalte bedarf. Was uns dagegen anlangt, denen das gesellschaftliche Leben zur Notwendigkeit geworden ist und die wir eine Lust darin finden uns gegenseitig verbluten zu lassen, so erheischt es das Interesse eines jeden von uns, diejenigen Länder zu besuchen, in denen die meisten Menschen dicht beieinander wohnen. Deshalb strömt alles nach Rom, Paris und London. In den Hauptstädten verkauft sich Menschenblut stets am billigsten. Auf diese Weise lernt man nur die großen Völker kennen, und die großen Völker gleichen sich alle untereinander.

»Allein,« wendet man ein, »wir haben doch Gelehrte, die zu ihrer Belehrung Reisen unternehmen.« Das ist ein Irrtum. Die Gelehrten reisen wie alle übrigen des Interesses wegen. Die Plato und Pythagoras sind ausgestorben, oder wenn es solche gibt, halten sie sich weit von uns entfernt auf. Unsere Gelehrten reisen nur auf Befehl des Hofes. Man sendet sie aus, übernimmt die Kosten und gewährt ihnen außerdem ein reichliches Honorar, um diesen oder jenen Gegenstand in Augenschein zu nehmen, der ganz gewiß kein moralischer ist. Ihre ganze Zeit wird ausschließlich von diesem einzigen Gegenstand in Anspruch genommen, da sie viel zu rechtschaffene Leute sind, um ihr Geld zu stehen. Wenn aber je in irgendeinem Lande Wißbegierige auf eigene Kosten reisen, so geschieht dies doch nie in der Absicht, die Menschen zu studieren, sondern vielmehr sie zu belehren. Nicht um eine Vermehrung ihrer eigenen Gelehrsamkeit ist es ihnen zu tun, sondern um ein prahlerisches Auskramen derselben. Wie sollten sie also auf ihren Reisen das Joch der Meinung abschütteln lernen? Sie reisen ja nur, um ihr zu frönen.[535]

Es ist ein großer Unterschied, ob man reist, um Länder zu sehen oder um Völker kennen zu lernen. Den ersten Zweck verfolgen stets die Neugierigen, von denen der andere als Nebensache betrachtet wird. Der Philosoph muß den umgekehrten Weg einschlagen. Ehe das Kind imstande ist, die Menschen zu beobachten es die Dinge. Der Mann muß dagegen zuerst seine Mitmenschen beobachten; bleibt ihm dann noch Zeit übrig, mag er auch für die Dinge ein Auge haben.

Daraus aber, daß wir gewöhnlich ohne Vorteil reisen, nun schließen wollen, daß die Reisen überhaupt unnütz seien, hieße einen Trugschluß machen. Folgt aber schon daraus, daß der Nutzen des Reisens zugestanden werden muß, daß es jedem anzuraten ist? Weit gefehlt; es werden im Gegenteil nur sehr wenige Menschen daraus Nutzen ziehen. Es ist nur denen vorteilhaft, welche in sich selbst Festigkeit genug besitzen, die Lehren des Irrtums anzuhören, ohne von ihnen verführt zu werden, und das Beispiel des Lasters anzuschauen, ohne sich von demselben fortreißen zu lassen. Die Reisen bieten einen Anstoß, seinen Neigungen nachzusehen, und vollenden den Menschen im Guten wie im Bösen. Bei der Heimkehr ist jeder so, wie er sein ganzes Leben hindurch bleiben wird. Es kehren nun weit mehr Schlechte als Gute zurück, weil bei der Abreise weit mehr zum Schlechten als zum Guten geneigt sind. Junge Männer, die eine schlechte Erziehung genossen haben und unter einer schlechten Leitung stehen, nehmen auf ihren Reisen alle Laster der Völker an, welche sie besuchen, aber keine einzige der Tugenden, die sich neben diesen Lastern bei ihnen finden, während diejenigen, welche mit glücklichen Naturanlagen ausgestattet sind, diejenigen, deren guter Charakter sorgfältig entwickelt ist, und die in der Tat mit der aufrichtigen Absicht reisen, sich zu belehren, sämtlich besser und weiser zurückkehren, als sie bei ihrer Abreise waren. So wird mein Emil reisen. So war auch[536] jener eines besseren Jahrhunderts würdige junge Mann gereist, dessen Verdienste das erstaunte Europa bewunderte, der in der Blüte seiner Jahre für sein Vaterland starb, der aber fortzuleben verdiente und dessen nur mit seinen Tugenden geschmücktem Grabe die Ehre zuteil werden sollte, daß eine fremde Hand es mit Blumen bestreute.197

Alles, was aus bestimmten Beweggründen geschieht, muß seine Regeln haben. Wenn die Reisen als ein Teil der Erziehung gelten sollen, müssen sie ebenfalls an besondere Regeln geknüpft sein. Reisen, nur um zu reisen, heißt umherschweifen, heißt sich umhertreiben. Mit dem Ausdrucke »Reisen zum Zwecke der Belehrung« läßt sich auch nur ein unbestimmter Begriff verbinden. Der Unterricht, der nicht einen bestimmten Zweck hat, ist wertlos. Ich wünschte in dem jungen Mann ein fühlbares Interesse zu erregen, sich zu unterrichten, und dieses richtig gewählte Interesse würde auch noch auf die Natur des Unterrichts bestimmend einwirken. Das ist beständig die Folge der Methode, die ich mich in Ausführung zu bringen bemühe.

Nachdem sich Emil nach seinen physischen Beziehungen zu den anderen Wesen sowie nach seinen moralischen Beziehungen zu seinen Mitmenschen gelernt hat, bleibt ihm nur noch übrig, sich auch über seine sozialen Beziehungen zu seinen Mitbürgern zu belehren. Zu diesem Zwecke muß er zuerst das Wesen der Regierung im allgemeinen, ferner die verschiedenen Regierungsformen und endlich die besondere Regierung, unter welcher er geboren ist, studieren um zu erkennen, ob sie angemessen für ihn ist, daß er auch weiter unter ihr leben kann. Denn nach einem unumstößlichen Rechte darf jeder, sobald er mündig und sein[537] eigener Herr geworden ist, sich von dem Vertrage, der ihn zu einem Gliede des Staates macht, lossagen, indem er das Land verläßt, welches jener in Besitz hat. Nur aus dem Aufenthalte, welchen er nach seinem Eintritt in das Alter der Vernunft in demselben nimmt, läßt sich der Schluß ziehen, daß er stillschweigend auf die Verpflichtung eingegangen ist, welche seine Vorfahren übernommen haben. Er erlangt das Recht, ebensowohl seinem Vaterlande wie dem Erbe seines Vaters zu entsagen; ja, da der Geburtsort eine Gabe der Natur ist, so verzichtet er dadurch auch gleichzeitig auf das Erbe derselben. Nach dem strengen Rechte bleibt jeder Mensch, wo er auch immer geboren sein möge, auf seine eigene Gefahr frei, falls er sich nicht freiwillig den Gesetzen unterwirft, um sich dadurch das Anrecht auf ihren Schutz zu sichern.

Ich würde also zum Beispiel zu ihm sagen: »Bis jetzt hast du unter meiner Leitung gelebt, da du außer stande warst, dich selbst zu regieren. Allein du näherst dich nun dem Alter, in welchem dich die Gesetze dadurch, daß sie dir die Verfügung gestatten, zum Herrn deiner Person machen. Bald wirst du in der Gesellschaft allein fühlen, abhängig von allem, sogar von deinem Erbe. Du trägst dich mit der Absicht, dir eine Lebensgefährtin zu nehmen, und diese Absicht ist lobenswert; ihre Durchführung gehört zu den Pflichten des Mannes. Ehe du dich aber verheiratest, mußt du darüber ins klare gekommen sein, was für ein Mann du sein willst, womit du dein Leben zuzubringen gedenkst, was für Maßregeln du ergreifen willst, um dir und deiner Familie Brot zu sichern: denn darf diese Sorge auch nicht zur Hauptsache gemacht werden, so muß man gleichwohl einmal daran denken. Willst du dich in die Abhängigkeit von Menschen begeben, die du verachtest? Willst du die Befestigung deines Glückes und die Sicherung deiner ganzen Lage in gesellschaftlichen Verhältnissen suchen, die dich unaufhörlich dem Belieben[538] anderer preisgeben und dich nötigen, um nur den Schelmen zu entgehen, selbst ein Schelm zu werden?«

Darauf werde ich ihm alle möglichen Mittel angeben, sein Vermögen vorteilhaft anzulegen, sei es, daß er sich dem Handel oder dem Staatsdienste widmet, sei es, daß er sich an finanziellen Unternehmungen beteiligt. Ich werde ihm den Nachweis führen, daß es nicht ein einziges gibt, welches nicht mit Gefahren für ihn verknüpft ist, nicht ein einziges, welches ihn nicht in eine unsichere und abhängige Lage versetzt und ihn nicht zwingt, seine Sitten, seine Gefühle, sein Benehmen dem Beispiel und den Vorurteilen anderer anzubequemen.

»Es gibt«, werde ich zu ihm sagen, »freilich noch ein anderes Mittel, seine Zeit und seine Person zu verwenden, nämlich in Kriegsdienste zu treten, das heißt sich für einen geringen Lohn anwerben zu lassen, um Leute zu töten, die einem nie etwas getan haben. Dieses Handwerk steht unter den Menschen in großem Ansehen und man schätzt diejenigen außerordentlich hoch, welche nur dazu gut sind. Außerdem bist du dadurch nicht etwa anderer Hilfsmittel überholen, sondern erst recht auf diese angewiesen, denn die ehre dieses Standes erfordert es, diejenigen zugrunde zu richten, welche sich ihm widmen. Allerdings gehen nicht alle unter. Es scheint sogar unmerklich Mode zu werden, daß man sich in diesem Stande ebenso wie in den übrigen bereichert. Wenn ich dir jedoch erklären wollte, wie sie es anstellen, um dieses Ziel zu erreichen, so bezweifle ich, daß du dadurch Lust erhieltest, ihrem Beispiele zu folgen.

Du wirst dich außerdem überzeugen, daß es bei diesem Handwerke nicht einmal auf Mut oder persönlichen Wert ankommt, wenn nicht etwa den Frauen gegenüber, sondern daß in Gegenteile der Kriechendste, Gemeinste und Knechtischste steht der Geehrteste ist. Ließest du dir in den Sinn kommen, deinem Dienst in allem Ernst obzuliegen, so würdest[539] du verachtet, gehaßt, vielleicht hinausgedrängt oder wenigstens zurückgesetzt und von deinen Kameraden überflügelt werden, und nur deshalb, weil du deinen Dienst in den Laufgräben versehen hast, während sie den ihrigen vor dem Putztische verrichteten.«

Man kann sich wohl vorstellen, daß alle diese verschiedenen Beschäftigungen dem Geschmacke Emils nicht sehr zusagen. »Wie,« wird er mir erwidern, »habe ich denn die Spiele meiner Kindheit verlernt? Bin ich meiner Arme verlustig gegangen? Ist meine Kraft erschöpft? Vermag ich nicht mehr zu arbeiten? Was gehen mich alle eure schönen Beschäftigungen und alle törichten Meinungen der Menschen an? Ich geize nach keinem anderen Ruhm als wohltätig und gerecht zu sein. Ich kenne kein anderes Glück, als mit dem, was man liebt, in Unabhängigkeit zu leben, während man sich täglich durch seine Arbeit Appetit und Gesundheit verschafft. Alle jene Schwierigkeiten, auf welche Sie mit aufmerksam gemacht haben, können mich kaum berühren. Ich begehre als ganzes Besitzung nur eine kleine Meierei in irgendeinem Winkel der Erde. Ich werde nur danach geizen, mit ihren Erträgen mich zu begnügen, und so werde ich ohne Unruhe leben. Sophie und mein Feld, und ich werde reich sein.«

»Ja, mein Freund, zum Glück eines Weisen sind ein Weib und ein Feld hinreichend. So bescheiden diese Schätze aber auch sind, so sind sie gleichwohl nicht so allgemein, wie du wohl meinst. Der seltenste ist allerdings für dich gefunden, laß uns deshalb von dein anderen reden.

Nach einem Felde steht also dein Wunsch, Emil! In welcher Gegend denkst du dir es auszuwählen? In welchem Erdwinkel wirst du sagen können: ›Hier bin ich mein eigener Herr und der unumschränkte Gebieter des Bodens der mir gehört.‹ Man kennt wohl die Orte, an welchen man sich leicht Reichtümer zu erwerben vermag, wer aber kennt die Stätten, wo man ihrer entbehrten kann? Wer weiß, wo[540] man unabhängig und frei leben kann, ohne daß man irgend jemandem ein Leib oder von anderen zu befürchten braucht? Wähnst du, daß das Land, welches uns gestattet, beständig ein rechtschaffenes Leben zu führen, so leicht zu finden sei? Wenn es ein rechtmäßiges und sicheres Mittel gibt, sich ohne Stetigkeit, ohne Abhängigkeit durch die Welt zu schlagen, so besteht es, wie ich gern zugeben will, darin, daß man unter der Bewirtschaftung seines eigenen Grund und Bodens von seiner Hände Arbeit lebt. Wo aber ist der Staat, in welchem man sich sagen kann: der Boden, auf dem ich wandle, ist mein? Bevor du dieses glückliche Land erwählst, versichere dich wohl, daß du den Frieden, den du suchst, in der Tat in ihm findest. Sei auf deiner Hut, daß dort nicht eine gewalttätige Regierung, eine verfolgungssüchtige Religion oder verderbte Sitten dein Glück stören. Stelle dich sicher vor unerschwinglichen Steuern, welche die Frucht deiner Arbeit verschlingen würden, vor endlosen Prozessen, welche dein Vermögen verzehren könnten. Triff Vorkehrungen, daß du bei einem ordentlichen Lebenswandel nicht nötig hast, Beamten und ihren Stellvertretern, Richtern, Priestern, mächtigen Nachbarn und Schurken jeglicher Art den Hof zu machen, die bei irgendeiner Vernachlässigung stets bereit sein werden, dich zu quälen.

Vor allen Dingen sichere dich vor den Plackereien der Großen und Reichen. Bedenke, daß ihre Ländereien überall an Naboths Weinberg grenzen können. Will es das Unglück, daß ein höherer Staatsbeamter in der Nähe deiner Hütte ein Haus kauft oder baut, wer vermag dir dann dafür zu bürgen, daß er nicht ein Mittel ausfindig macht, zur Erweiterung seines Eigentums dein Erbe unter irgendeinem Vorwand an sich zu reißen, oder daß du nicht vielleicht schon morgen ansehen mußt, wie dein ganzes Besitztum zur Anlage einer breiten Landstraße in Anspruch genommen wird? Wenn du dir nun auch so viel Einfluß[541] bewahrst, um alle diese Unannehmlichkeit von dir fernzuhalten, dann gilt es nun auch noch, deinen Reichtum selbst zu bewahren, was mit nicht weniger Mühe für dich verbunden ist. Reichtum und Einfluß stützen sich gegenseitig; der eine hat ohne den anderen nur kurzen Bestand.

Ich besitze eine größere Erfahrung als du, lieber Emil; ich durchschaue besser die Schwierigkeit deines Planes. Trotzdem handelt es sich um ein schönes und ehrenhaftes Vorhaben, welches bei seiner Ausführung in der Tat dein Glück begründen würde. Wir wollen deshalb alles aufbieten, es ins Werk zu setzen. Ich habe dir einen Vorschlag zu machen: Laß uns die zwei Jahre, vor deren Ablauf du nicht heimzukehren gedenkst, zur Aufsuchung eines Zufluchtsortes in Europa benutzen, in welchem du mit deiner Familie glücklich und in Sicherheit vor all den erwähnten Gefahren leben kannst. Würde unser Suchen von Erfolg begleitet sein, so würdest du das wahre Glück gefunden haben, nach welchem so viele andere vergebens jagen, und deine Zeit brauchte dich nicht zu gereuen. Hätte unser Unternehmen dagegen keinen glücklichen Erfolg, so würdest du doch aus deinem Traume erwacht sein; du würdest dich über ein unvermeidliches Unglück trösten und dich dem Gesetze der Notwendigkeit unterwerfen.«

Ich weiß nicht, ob alle meine Leser merken werden, wie weit uns diese in solcher Weise vorgeschlagene Nachforschung führen kann. So viel weiß ich aber bestimmt daß wenn Emil bei der Rückkehr von seinen unter einem solchen Gesichtspunkte begonnenen und fortgesetzten Reisen nicht mit allem vertraut wäre, was zur Kenntnis der Regierung, der öffentlichen Sitten und der Staatsgrundsätze jeglicher Art gehört, es uns beiden, ihm sowohl wie mir, an Verstand und Urteil fehlen müßte.

Ein festes Staatsrecht muß erst gebildet werde, aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird es sich nie bilden. Grotius, der Lehrer aller unserer Gelehrten auf diesem[542] Gebiet, ist nur ein Kind, und was noch schlimmer ist, ein völlig unglaubwürdiges Kind. Wenn ich mit anhöre, wie man Grotius bis in die Wolken erhebt und Hobbes mit Verwünschungen überschüttet, so kann ich daraus den Schluß ziehen, wie viel verständige Menschen eigentlich diese beiden Schriftsteller lesen oder verstehen. In Wahrheit stimmen sie in ihren Grundsätzen genau überein; nur in bezug auf die Terminologie findet ein Unterschied statt. Auch weichen sie in der Methode voneinander ab. Hobbes stützt sich auf Sophismen, Grotius auf Dichter. Alles übrige haben sie miteinander gemein.

Der einzige in neuerer Zeit, der imstande gewesen wäre, diese große und unnütze Wissenschaft ins Leben zu rufen, wäre der berühmte Montesquieu gewesen. Aber er hat sich in acht genommen, die Grundsätze des Staatsrechts zu behandeln. Er begnügte sich damit, das positive Recht der bestehenden Staaten in den Kreis seiner Besprechung zu ziehen, und zwischen diesen beiden Studien ist ein gewaltiger Unterschied.

Wer also die Regierungsformen, so wie sie bestehen, richtig beurteilen will, ist genötigt, diese beiden Studien miteinander zu vereinigten. Um das, was ist, richtig beurteilen zu können, muß er wissen, was sein soll. Die Hauptschwierigkeit, die sich der Aufklärung dieses Wichtigen Gegenstandes entgegenstellt, besteht darin, einen Privatmann für die Erörterung desselben und für die Beantwortung der beiden Fragen: Was geht es mich an? und: Was kann ich dazu tun? zu interessieren. Ich habe unseren Emil in den Stand gesetzt, sich alle beide beantworten zu können.

Die zweite Schwierigkeit liegt in den Vorurteilen der Kindheit, in den Grundsätzen, in welchen man auferzogen ist, hauptsächlich aber in der Parteilichkeit der Schriftsteller, welche, trotzdem sie immer von der Wahrheit reden, sich doch nicht im geringsten um dieselbe kümmern, dafür aber[543] um so mehr an ihren eigenen Vorteil denken, von dem sie niemals reden. Da die Verleihung von Lehrstühlen, Pensionen und akademischen Stellen nicht vom Volk ausgeht, so kann man sich ein Urteil darüber bilden, wie seine Rechte von jenen Leuten begründet und erläutert werden. Ich habe dafür Sorge getragen, daß Emil auch unter dieser Schwierigkeit nicht zu leiden hat. Kaum weiß er bis jetzt, was Regierung ist. Für ihn handelt es sich einzig und allein darum, die beste ausfindig zu machen. Er trägt sich durchaus nicht mit schriftstellerischen Plänen, und sollte er je ein Buch schreiben, so geschieht es sicherlich nicht in der Absicht, den Mächtigen den Hof zu machen, sondern um die Rechte der Menschheit der Anerkennung zu bringen.

Es bleibt noch eine dritte, mehr scheinbare als wirkliche Schwierigkeit übrig, deren Erwähnung und Lösung ich aus diesem Grunde für unnötig halte. Es genügt mir, daß sie meinen Eifer nicht zurückzuschrecken vermag, da ich dessen sicher bin, daß zu dergleichen Untersuchungen nicht sowohl große Talente notwendig sind, als vielmehr eine aufrichtige Liebe zur Gerechtigkeit und eine wahre Achtung vor der Wahrheit. Wenn sich also überhaupt alle die Regierung berührenden Fragen einigermaßen mit Gerechtigkeitssinn behandeln lassen, so ist meiner Ansicht nach hier oder nirgends die Gelegenheit dazu da.

Bevor man Beobachtungen anstellt, muß man sich bestimmte Regeln für dieselben bilden. Man muß sich einen Maßstab verschaffen, auf welchen man alle Messungen die man vornimmt, zurückführen kann. Unsere Grundsätze des politischen Rechts bieten uns einen solchen Maßstab dar. Die Objekte unserer Messungen sind die politischen Gesetze eines jeden Landes.

Unsere Elemente werden klar, einfach und unmittelbar aus der Natur der Dinge geschöpft sein. Es werden Fragen zu gegenseitigen Erörterungen aufgeworfen werden, die wir[544] nicht eher als Grundsätze gelten lassen werden, bis sie eine genügende Lösung gefunden haben.

So werden wir zum Beispiel, indem wir zunächst bis zum Naturzustande zurückgehen, untersuchen, ob die Menschen in Knechtschaft oder Freiheit, ob sie durch die Vereinigung mit anderen in Abhängigkeit oder Unabhängigkeit geboren werden; ob sie sich freiwillig oder aus Zwang vereinigen; ob die Gewalt, welche sie vereinigt, je ein bleibendes Recht bilden kann, durch welche diese vorhergehende Gewalt eine feste Verbindlichkeit auferlegt, sogar dann noch, wenn sie selbst von einer anderen überwältigt wird, dergestalt, daß seit König Nimrods Herrschaft, der zuerst fremde Völker unter seine Botmäßigkeit gebracht haben soll, jede andere Herrschaft, welche diese vernichtet hat, für eine unrechtmäßige, für eine Usurpation gelten müsse, und daß es eigentlich nur so viele legitime Könige gäbe, als sich Nachkommen Nimrods oder ihre Rechtsnachfolger finden, oder ob nach Erlöschen dieser ursprünglichen Gewalt diejenige, welche in ihre Stelle tritt, nun ihrerseits neue Verbindlichkeiten auferlegt und die alten aufhebt, so daß man nur so lange Gehorsam zu leisten verpflichtet sei, als die Macht währt, welche dazu nötigt, und daß man also diesen nicht mehr zu leisten brauche, sobald man sich imstande fühle, das Joch abzuschütteln: ein Recht, welches, wie mir scheint, der Gewalt nicht gerade ein höheres Ansehen verleihen und nur in einem Spiele mit Worten bestehen würde.

Wir werden untersuchen, ob sich nicht behaupten läßt, daß jede Krankheit von Gott kommt, und ob es folglich nicht ein Verbrechen ist, sich an den Arzt zu wenden.

Wir werden ferner untersuchen, ob man in seinem Gewissen verpflichtet ist, einem Räuber, der uns auf der Landstraße die Börse abfordert, diese auch dann zu geben, wenn es möglich gewesen wäre, sie ihm zu verbergen; denn die Pistole muß doch immerhin auch als eine Macht betrachtet werden.[545]

Wir werden untersuchen, ob das Wort bei dieser Gelegenheit etwas anderes bezeichnen will als eine legitime Macht, und ob diese Macht folglich denselben Gesetzen unterworfen ist, durch welche jene ins Dasein gerufen ist.

Angenommen, daß man das Recht der Vernunft verwirft und das recht der Natur oder die väterliche Autorität als Prinzip der Gesellschaft gelten läßt, so werden wir das Maß dieser Autorität prüfen, werden untersuchen, inwiefern sie in der Natur begründet ist und ob sie einen anderen Grund hat als den Nutzen des Kindes, seine Schwäche und die natürliche Liebe, welche der Vater für es fühlt; ob demnach nicht das Kind, sobald seine Schwäche gewichen ist und sein Verstand die gehörige Reise erlangt hat, allein der natürliche Beurteiler dessen ist, was zu seiner Erhaltung dient, mithin sein eigener Herr, und von jedem anderen Menschen, sogar von seinem Vater, unabhängig wird; denn jedenfalls ist es sicherer, daß der Sohn sich selbst, als daß der Vater den Sohn liebt.

Ob die Kinder nach dem Tode des Vaters die Verpflichtung haben, dem Aeltesten aus ihrer Mitte oder irgendeinem anderen zu gehorchen, der nicht die natürliche Liebe eines Vaters für sie empfindet; und ob es von Geschlecht zu Geschlecht stets ein einziges Oberhaupt geben soll, welchem die ganze Familie zu gehorchen verbunden ist. In letztem Falle müßte man festzustellen suchen, wie diese Autorität je geteilt werden konnte, und mit welchem Recht es auf der ganzen Erde mehr als ein Oberhaupt gibt, da doch nur einem einzigen die Herrschaft über das Menschengeschlecht gebührte.

Bei der Voraussetzung, daß sich die Bildung der Völker nach freier Wahl vollziehe, werden wir das Recht von der Tatsache trennen müssen; und da sich dann die Menschen ihren Brüdern, Oheimen oder Verwandten nicht infolge einer Pflicht, sondern aus eigenem Antrieb unterwerfen, so werden wir die Frage aufwerfen müssen, ob sich diese[546] Art von Genossenschaft nicht regelmäßig in eine freie und freiwillige Genossenschaft verwandelt.

Indem wir nun zu dem Rechte der Sklaverei übergehen, werden wir untersuchen, ob sich ein Mensch an einen anderen rechtmäßig veräußern darf, ohne Einschränkung, ohne Vorbehalt, ohne irgendeine gewisse Bedingung; das heißt, ob er auf seine Person, sein Leben, seine Vernunft, sein Ich, auf den sittlichen Wert seiner Handlungen verzichten und mit einem Worte schon vor seinem Existenz aufgeben darf, der Natur zum Trotze, die ihm seine eigene Erhaltung als seine unmittelbare Pflicht auferlegt hat, und seinem Gewissen und seiner Vernunft zum Trotze, welche ihm sein Tun und Lassen vorschreiben.

Findet sich dagegen in dem Abkommen, durch welches sich der Mensch in das Joch der Sklaverei begibt, irgendein Vorbehalt, irgendeine Einschränkung, so haben wir zu erörtern, ob dieses Abkommen dadurch nicht den Charakter eines wirklichen Vertragen annimmt, in welchem die beiden Kontrahenten, da sie als solche keinen gemeinsamen Oberen198 haben, hinsichtlich der Bedingungen des Vertrages ihre eigenen Richter bleiben, haben folglich zu erörtern ob nicht jeder seinerseits frei und befugt ist, denselben zu lösen, sobald er sich für geschädigt hält.

Wenn sich nun ein Sklave nicht ohne Vorbehalt an seinen Herrn veräußern darf, wie darf sich dann ein Volk ohne Vorbehalt an seinen Oberherrn veräußern? Und wenn dem Sklaven das Richteramt darüber zusteht, ob sein Herr den Vertrag innehält, wie sollte es dann einem Volke nicht zustehen zu entscheiden, ob sein Oberhaupt den Vertrag beobachtet?

Auf diese Weise gezwungen, zu unserem Ausgangspunkte[547] zurückzukehren, wird uns, da wir auch den Sinn des Kollektivnamens »Volk« betrachten müssen, noch zu untersuchen bleiben, ob die Gründung eines solchen einen Vertrag, wenigstens einen stillschweigender, erheischt, der demjenigen, welchen wir voraussetzen, vorangeht.

Da das Volk schon der Wahl eines Königs ein Volk ist, was anders hat es dann wohl zu einem solchen machen können als der soziale Vertrag? Der soziale Vertrag ist folglich die Grundlage aller bürgerlichen Gesellschaft, und in dem Wesen dieses Aktes hat man das Wesen der Gesellschaft zu suchen, von welcher er ausgeht.

Wir werden untersuchen, welchen Inhalt dieser Vertrag hat, und ob er sich nicht ungefähr folgendermaßen ausdrücken ließe: »Wir stellen sämtlich unsere Güter, unsere Personen, unser Leben und unsere ganze Macht unter die Oberleitung des allgemeinen Willens und wir betrachten alle insgesamt jedes Glied als einen vom Ganzen untrennbaren Teil.«

Dies vorausgesetzt, wollen wir zur Definition der Ausdrücke, welche wir bedürfen, bemerken, daß dieser Akt der Vereinigung an Stelle Person jedes einzelnen Kontrahenten einen moralischen und kollektiven Körper setzt, der aus ebenso vielen Gliedern gebildet wird, als die Vereinigung Stimmen zählt. Dieses Gemeinwesen führt im allgemeinen den Namen politischer Körper, wird aber von seinen Gliedern Staat genannt, wenn er passiv, Souverän, wenn er aktiv ist, und Macht im Vergleiche mit anderen politischen Körpern. Was die Glieder selbst anlangt, so nehmen diese in ihrer Gesamtheit den Namen Volk an, während sie sich im besonderen als Glieder des Gemeinwesens oder als Teilhaber der höchsten Gewalt Bürger, dagegen als dieser Gewalt unterworfen Untertanen nennen.

Wir werden die Wahrnehmung machen, daß dieser Akt der Vereinigung eine gegenseitige Verpflichtung zwischen dem Staat und den einzelnen in sich faßt und daß sich[548] also jedes Individuum, indem es gleichsam mit sich selbst einen Vertrag abschließt, in doppelter Beziehung verbindlich macht, nämlich als Glied der höchsten Gewalt den einzelnen gegenüber, und als Glied des Staates der souveränen Gewaltge genüber.

Wir werden ferner bemerken, daß, da niemand an Verpflichtung gebunden ist, welche er nur mit sich selbst eingegangen, gerade wegen dieser beiden verschiedenen Beziehungen, unter jeder von ihnen betrachtet werden muß, ein öffentlicher Beschluß, welcher imstande ist, alle Untertanen gegen ihren Souverän zu verpflichten, nie den Staat gegen sich selbst verbindlich machen kann. Hieraus ist ersichtlich, daß es kein anderes Grundgesetz im eigentlichen Sinne des Wortes gibt noch geben kann, als den sozialen Vertrag. Das soll jedoch etwa heißen, daß sich der politische Körper nicht in gewisser Hinsicht gegen andere verpflichten könne, denn in Beziehung auf Fremdes wird er alsdann ein einfaches Wesen, ein Individuum.

Da es den beiden den Vertrag schließenden Teilen, nämlich jedem einzelnen und dem Staatskörper, an einem gemeinsamen Oberen fehlt, der über ihre Zwistigkeit zu entscheiden vermöchte, so werden wir zu untersuchen haben, ob es jedem von beiden zusteht, den Vertrag zu brechen, sobald es ihm beliebt, das heißt sich für seinen Teil von demselben loszusagen, wenn er sich für beeinträchtigt hält.

Um in diese Frage Licht zu bringen, werden wir nicht außer acht lassen, daß die Handlungen des Souveräns, da derselbe dem sozialen Vertrage zufolge nur nach dem gemeinsamen und allgemeinen Willen handeln kann, gleichfalls nur allgemeine und gemeinsame Zwecke haben dürfen, woraus sich ergibt, daß ein einzelner vom Souverän nicht unmittelbar beeinträchtigt werden kann, solange es nicht alle werden. Hierin liegt aber eine Unmöglichkeit da dies hieße, sich selbst ein Uebel zufügen wollen. Deshalb bedarf der soziale Vertrag keiner anderen Bürgschaft als der[549] allgemeinen Macht, weil die Verletzung immer nur von einzelnen ausgehen kann; und dann sind sie um deswillen nicht etwa ihrer Verpflichtung los und ledig, sondern werden vielmehr bestraft, weil sie gegen dieselbe verstoßen haben.

Um uns über alle ähnlichen Fragen ein richtiges Urteil zu bilden, werden wir stets eingedenk, daß der soziale Vertrag von besonderer, nur ihm eigentümlicher Natur ist, insofern als das Volk nur mit sich selbst einen Vertrag abschließt, das heißt das Volk in seiner Gesamtheit als Souverän mit den einzelnen als Untertanen, ein Verhältnis, welches das ganze künstliche Spiel der politischen Maschine hervorruft und allein imstande ist, Verpflichtungen rechtmäßig, vernünftig und gefahrlos zu machen, welche sonst ungereimt, tyrannisch und grenzenlosesten Mißbräuchen ausgesetzt sein würden.

Da die einzelnen sich nur dem Souverän unterworfen haben, und die souveräne Autorität lediglich in dem allgemeinen Willen besteht, so werden wir sehen, wie jeder Mensch, indem er dem Souverän gehorcht, nur sich selbst gehorcht, und wie man sich unter dem sozialen Vertrage freier befinden als im Naturzustand.

Nachdem wir einen Vergleich zwischen der natürlichen Freiheit und der bürgerlichen Freiheit hinsichtlich der Personen angestellt haben, werden wir in bezug auf den Besitz das Recht des Eigentums mit dem Rechte der Souveränität und das Privateigentum mit dem Staatseigentume vergleichen. Ist die souveräne Autorität auf das Recht des Eigentums gegründet, so muß sie gerade dieses Recht am höchsten achten. Es ist für sie, solange es ein besonderes und individuelles Recht bleibt, unverletzlich und heilig. Wird es jedoch als allen Bürgern gemeinschaftlich angesehen, so ist es dem allgemeinen Willen unterworfen, und dieser Wille kann es aufheben. So steht dem Souverän nicht das Recht zu, sich an dem Besitz eines einzelnen oder mehrerer zu vergreifen, wohl aber kann er sich völlig gesetzmäßig des[550] Besitzes aller bemächtigen, wie dies in Sparta zur Zeit des Lykurgus geschah, während der von Solon angeordnete Schuldenerlaß eine ungesetzliche Handlung war.

Da nur der allgemeine Wille für die Untertanen verbindlich ist, so werden wir untersuchen, wie sich dieser Wille zu erkennen gibt, an welchen Zeichen man sich mit Sicherheit von demselben überzeugen kann, was ein Gesetz ist und worin die eigentlichen Merkmale des Gesetzes bestehen. Hier handelt es sich um einen ganz neuen Gegenstand, denn eine Definition des Gesetzes gibt es noch nicht.

Sobald das Volk auf eines oder mehrere seiner Glieder besondere Rücksicht nimmt, wird es uneins. Es bildet sich zwischen dem Ganzen und seinem Teile ein Verhältnis, welches aus ihnen zwei getrennte Wesen macht, von denen der Teil das eine und um diesen Teil verminderte Ganze das andere bildet. Aber dies um einen Teil verkleinerte Ganze ist nun nicht mehr das Ganze. Solange dies Verhältnis besteht, gibt es folglich kein Ganzes mehr, sondern nur zwei ungleiche Teile.

Wenn dagegen das ganze Volk über das ganze Volk Beschlüsse faßt, so nimmt es nur auf sich selbst Rücksicht. Bildet sich nun ein Verhältnis, so ist es das des Ganzen unter einem Gesichtspunkte zum Ganzen unter einem anderen Gesichtspunkte, ohne irgendeine Spaltung des Ganzen. Dann ist der Gegenstand, über welchen man Beschlüsse faßt, ein allgemeiner, und der Wille, welcher beschließt, ebenfalls ein allgemeiner. Wir werden untersuchen, ob es noch irgendeine andere Art der Beschlussfassung gibt, welche auf den Namen Gesetz Anspruch machen darf.

Wenn der Souverän nur durch Gesetze sprechen darf, und wenn das Gesetz immer nur einen allgemeinen Inhalt haben kann, der sich auf alle Staatsglieder gleichmäßig bezieht, so folgt hieraus, daß der Souverän niemals die Berechtigung hat, über einen besonderen Gegenstand zu beschließen. Da es zur Erhaltung des Staates indes von[551] Wichtigkeit ist, daß auch über besondere Angelegenheiten entschieden werde, so werden wir untersuchen, in welcher Weise sich dies Ausführen läßt.

Die Akte des Souveräns können nur Akte des allgemeinen Willens, der Gesetze sein; nun sind aber sodann auch noch entscheidende Akte nötig, Akte der ausübenden Gewalt oder der Regierung zur Ausführung ebendieser Gesetze, und diese haben es stets mit besonderen Angelegenheiten zu tun. So ist der Akt, nach welchem der Souverän die Wahl eines Oberhaupts anordnet, ein Gesetz, während der Akt der Wahl dieses Oberhauptes in Ausführung des Gesetzes nur ein Regierungsakt ist.

Hier zeigt sich uns also noch eine dritte Beziehung, unter welcher das gesamte Volk betrachtet werden kann nämlich als Obrigkeit oder Vollstecker des Gesetzes, welches es als Souverän erlassen hat.199

Wir werden untersuchen, ob es möglich ist, daß sich das Volk seines Souveranitätsrechtes begibt, um eine oder mehrere Persönlichkeiten mit demselben zu bekleiden, denn da der Wahlakt kein Gesetz und das Volk bei diesem Akte nicht selbst Souverän ist, so läßt sich nicht einsehen, wie es dann ein Recht, welches es gar nicht besitzt, zu übertragen vermag.

Da das Wesen der Souveränität in dem allgemeinen Willen besteht, so ist noch weniger ersichtlich, wie man sich die Gewißheit verschaffen Willen in Uebereinstimmung befindet. Man hat weit mehr Berechtigung zu der Annahme,[552] daß er demselben im Gegenteil gar oft entgegen sein wird, da das Privatinteresse stets nach Bevorzugung strebt, während das Gesamtinteresse auf Gleichheit ausgeht. Wäre diese Uebereinstimmung aber auch möglich, so würde doch schon der Umstand, daß sie nicht notwendig und unzerstörbar wäre, hinreichen, die Bildung des Souveränen Rechts zu verhindern.

Wir werden untersuchen, ob ohne Verletzung des sozialen Vertrages die Oberhäupter des Volks, unter welchem Namen sie auch immer erwählt sein mögen, je etwas anderes als Beamte des Volkes sein können, die dasselbe mit der Vollstreckung der Gesetze betraut hat, ob ihm diese Oberhäupter nicht Rechenschaft über ihre Verwaltung schuldig sind und nicht selbst unter den Gesetzen, deren Geltendmachung ihnen übertragen ist.

Wenn das Volk nie auf sein Hoheitsrecht völlig verzichten kann, darf es dasselbe dann nicht wenigstens auf einige Zeit auf andere übertragen? Wenn es sich keinen Herrn geben kann, ist es dann berechtigt, sich Stellvertreter zu erwählen? Diese Frage ist unstreitig wichtig und verdient eine eingehende Untersuchung.

Kann das Volk weder Souverän noch Stellvertreter haben, so werden wir untersuchen, wie es imstande ist, selbst seine Gesetze zu erteilen; ferner, ob es vieler Gesetze bedarf; ob es dieselben oft abändern muß; ob es vorteilhaft ist, wenn ein großes Volk sein eigener Gesetzgeber ist;


ob das römische Volk nicht ein großes Volk war:

ob es gut ist, daß es große Völker gibt.


Aus den vorhergehenden Beobachtungen ergibt sich, daß es im Staate zwischen den Untertanen und dem Souverän einen Zwischenkörper gibt; und dieser aus einem oder mehreren Gliedern gebildeten Zwischenkörper ist mit der öffentlichen Verwaltung, der Vollstreckung der Gesetze und der Aufrechterhaltung der bürgerlichen und der politischen Freiheit betraut.[553]

Die Glieder dieses Körpers heißen Obrigkeiten oder Könige, das heißt Regierende. Im Hinblick auf die Person, welche diesen Körper bildet, wird er Fürst genannt, und Hinblick auf seine Tätigkeit Regierung.

Wenn wir die Handlungen des ganzen Körpers in seiner Wirkung auf sich selbst, das heißt die Beziehung des Ganzen auf das Ganze oder des Souveräns auf den Staat betrachten, so können wir diese Beziehung mit den äußeren Gliedern einer stetigen vergleichen, deren mittleres Glied dann die Regierung bildet. Die Obrigkeit erhält von dem Souverän die Befehle, die sie dem Volk übermittelst, und alles richtig gegeneinander abgewogen, so beläuft sich ihr Produkt oder ihre Potenz ebenso hoch wie das Produkt oder die Potenz der Bürger, welche auf der einen Seite Untertanen und auf der anderen Souveräne sind. Man kann den Wert keines dieser drei Glieder verändern, ohne die Proportion augenblicklich aufzuheben. Wenn der Souverän regieren will, oder wenn der Fürst sich für berechtigt hält, Gesetze zu erteilen, oder wenn der Untertan den Gehorsam verweigert, so folgt der Ordnung Unordnung und der sich auflösende Staat wird eine Beute des Despotismus oder der Anarchie.

Wir wollen einmal annehmen, der Staat bestehe aus zehntausend Bürgern. Der Souverän läßt sich nur kollektiv und in der Gesamtheit denken; in der Eigenschaft eines Untertanen hat jedoch einzelne ein individuelles und unabhängiges Dasein. Deshalb verhält sich der Souverän zum Untertanen wie zehntausend gegen eins, das heißt jedes Glied des Staates hat nur auf den zehntausendsten Teil der souveränen Autorität Anspruch, während es ihr völlig unterworfen ist. Wird der Staat aus hunderttausend Menschen gebildet, so ändert sich in der Stellung der Untertanen dadurch nichts, und jeder hat sich fortwährten der ganzen Herrschaft der Gesetze zu fügen, während seine Stimme, die jetzt auf das Hunderttausendstel reduziert ist,[554] auf ihre Abfassung einen zehnmal geringeren Einfluß ausübt. Während so der Untertan beständig eins bleibt, nimmt das Verhältnis zugunsten des Souveräns in gleichem Maße mit der Zahl der Bürger zu, woraus folgt, daß sich die Freiheit mit der Vergrößerung des Staates vermindert.

Je weniger der Wille der einzelnen mit dem allgemeinen Willen, das heißt je weniger die Sitten mit den Gesetzen in Uebereinstimmung stehen, desto mehr muß die hemmende Gewalt zunehmen. Je mehr auf der anderen Seite die Inhaber der Staatsgewalt bei der Größe des Staates Versuchungen ausgesetzt sind und Mittel, ihr Amt zu mißbrauchen, besitzen, und eine je größere Gewalt die Regierung zur Zügelung des Volkes in Händen hat, über desto mehr Gewalt muß seinerseits der Souverän verfügen können, und die Regierung in Schranken zu halten.

Aus dieser doppelten Beziehung ergibt sich, daß die stetige Proportion zwischen Souverän, Fürst und Volk durchaus nicht auf einer willkürlichen Idee, sondern auf einer notwendigen Folge der Natur des Staates beruht. Es ergibt sich ferner daraus, daß, da das eine der äußeren Glieder, nämlich das Volk, einen unveränderlichen Wert hat, sich bei jeder Vergrößerung oder Verringerung des doppelten Verhältnisses auch seinerseits das einfache Verhältnis vergrößert oder verringert, was nicht geschehen kann, ohne daß sich das mittlere Glied ebensooft ändert. Hieraus können wir den Schluß ziehen, daß es nicht etwa eine einzige und unbedingte Regierungsform gibt, sondern daß es vielmehr ebenso viele, ihrer Natur nach verschiedene Regierungsformen geben muß, als sich ihrer Größe nach verschiedene Staaten vorfinden.

Wenn die Sitten eines Volkes um so weniger mit seinen Gesetzen in Einklang stehen, je zahlreicher es ist, so bleibt und zu untersuchen, ob man nicht auch einer ziemlich klaren Analogie behaupten kann, daß die Regierung um so schwächer ist, je zahlreicher die Obrigkeit sind.[555]

Um uns über diesen Grundsatz klar zu werden, müssen wir in der Person jeder Obrigkeit dreierlei wesentlich voneinander verschiedene Willensmeinungen unterschieden: erstens den eigenen Willen des Individuums, der nur auf den besonderen Vorteil desselben ausgeht; zweitens den gemeinsamen Willen der Obrigkeiten, der einzig und allein den Vorteil des Fürsten im Auge hat, ein Wille, den man füglich Korpswille nennen kann, und der in Beziehung auf die Regierung ein allgemeiner und in Beziehung auf den Staat, von dem die Regierung einen Teil bildet, ein besonderer ist; in dritter Stelle der Wille des Volks oder der souveräne Wille, welcher sowohl in bezug auf den Staat, als Ganzes betrachtet, als auch in bezug auf die Regierung, als Teil des Ganzen betrachtet, ein allgemeiner ist. In einer vollkommen Gesetzgebung muß der besondere und individuelle Wille völlig zurücktreten, der der Regierung eigene Korpswille ganz untergeordnet sein, und folglich der allgemeine und souveräne Wille den beiden anderen als Richtschnur dienen. Nach der natürlichen Ordnung dagegen wird die Wirksamkeit dieser verschiedenen Willensmeinungen von dem Grad ihrer Konzentrierung bedingt. Der allgemeine Wille ist stets der schwächste, der Korpswille nimmt den zweiten Rang ein, und dem besonderen Willen wird der Vorzug vor jedem anderen eingeräumt, dergestalt, daß jeder zuerst er selbst, dann Obrigkeit und erst zuletzt Bürger ist, ein Stufengang, welcher dem von der sozialen Ordnung verlangten diametral entgegengesetzt ist.

Dies vorausgesetzt, wollen wir einmal annehmen, die Regierung ruhe den Händen eines einzigen Mannes. Dann ist der besondere Wille und der Korpswille vollkommen vereinigt, und dieser besitzt folglich den höchsten Grad von Kraftentfaltung, den er je erlangen kann. Da nun aber von diesem Grade der Gebrauch der Gewalt abhängt, und die absolute Gewalt der Regierung die doch stets mit der des Volkes zusammen fällt, keinem Wechsel unterworfen ist,[556] so ergibt sich daraus, daß unter allen Regierungen die eines einzigen am wirksamsten ist.

Verlegen wir dagegen umgekehrt die höchste Autorität in die Regierung, machen wir den Fürsten zum Souverän und die Bürger zu ebenso vielen obrigkeitlichen Personen, so wird der Korpswille, der dann vollkommen in dem allgemeinen Willen aufgeht, nicht mehr Wirksamkeit als dieser haben und die Gewalt des besonderen Willens nicht zu schwächen vermögen. Daher wird dann die Regierung, trotzdem sie immer noch mit der gleichen absoluten Gewalt ausgerüstet ist, den geringsten Grad von Wirksamkeit entfalten.

Diese Grundsätze sind unbestreitbar und auch noch andere Betrachtungen dienen zu ihrer Bestätigung. So kann man die Beobachtung machen, daß die obrigkeitlichen Personen in ihrer Körperschaft eine weit größere Tätigkeit entwickeln als die Bürger in der ihrigen, und daß demgemäß der besondere Wille einen weit größeren Einfluß in letzterer ausübt. Denn jede obrigkeitliche Person ist fast regelmäßig mit irgendeiner besonderen Funktion der Regierung beauftragt, während kein Bürger für sich mit einer Funktion der Souverän betraut ist. Mit der Ausdehnung des Staates nimmt übrigens seine wirkliche Gewalt zu, wenn sie auch nicht Verhältnis seiner Ausdehnung wächst. Wenn aber der Staat derselbe bleibt, so wird die Regierung auch durch die Vernehrung der obrigkeitlichen Personen keine größere wirkliche Gewalt erhalten, weil sie die Inhaberin der Staatsgewalt ist, die, wie wir ja voraussetzen, stets gleichmäßig ist. Deshalb nimmt die Wirksamkeit der Regierung infolge dieser großen Zahl ab, ohne daß sich ihre Gewalt vergrößern kann.

Nachdem wir uns nun davon überzeugt haben, daß die Regierung in dem Maße schwächer wird, in welchem die Zahl der obrigkeitlichen Personen zunimmt, und daß sich die zügelnde Gewalt der Regierung um so mehr erhöhen[557] muß, je mehr die Volkszahl wächst, so werden wir den Schluß ziehen, daß das Verhältnis der obrigkeitlichen Personen zur Regierung das Umgekehrte von dem der Untertanen zum Souverän sein müsse, das sich die Regierung, je mehr sich der Staat vergrößert, um so mehr konzentrieren muß, so daß sich die Zahl der Oberhäupter nach Maßgabe der Volkszunahme vermindert.

Um nun diese Verschiedenheit der Formen unter festen Benennungen genauer zu bestimmen, wollen wir zunächst bemerken, daß der Souverän die Regierung dem ganzen Volk oder doch dem größten Teile desselben dergestalt übertragen kann, daß es mehr mit obrigkeitlicher Macht bekleidete Bürger als einfache Privatleute gibt. Dieser Regierungsform gibt man den Namen Demokratie.

Aber ebensogut kann er die Regierung in die Hände einer kleineren Anzahl legen, so daß es also mehr einfache Bürger als obrigkeitliche gibt; und diese Form führt den Namen Aristokratie.

Endlich kann er die ganze Regierung in den Händen einer einzigen Person konzentrieren. Diese dritte Form ist die gewöhnliche und heißt Monarchie oder königliche Regierung.

Wir werden die Wahrnehmung machen, daß alle diese Formen, oder doch wenigstens die beide ersten, eine größere oder geringere Ausdehnung annehmen können und sogar einen ziemlich weiten Spielraum gestatten. Denn die Demokratie kann das ganze Volk umfassen oder sich bis auf die Hälfte beschränken. Die Aristokratie ihrerseits kann, von der Hälfte des Volkes an, in unbegrenzter Weise immer engere Kreise ziehen und sich auch mit der kleinsten Zahl begnügen. Selbst das Königtum läßt bisweilen eine Teilung zu, sei es zwischen Vater und Sohn, sei es zwischen zwei Brüdern oder auch sonst in einer anderen Weise. In Sparta regierten stets zwei Könige, und im römischen Reiche hat man gleichzeitig acht Kaiser sehen können, ohne daß[558] von einer Teilung des Reiches die Rede gewesen wäre. Es gibt einen gewissen Punkt, wo jede Regierungsform in die folgende übergeht. Unter den angeführten übergeht. Unter den angeführten drei spezifischen Namen ist die Regierung in Wirklichkeit ebenso vieler Formen fähig, als der Staat Bürger zählt.

Ja noch mehr: da sich in gewisser Beziehung jede dieser Regierungen in verschiedene kleinere Unterabteilungen zerlegen läßt, von denen die eine auf diese und die andere auf jene Weise verwaltet wird, so kann sich aus der Kombination dieser drei Formen eine beträchtliche Zahl gemischter Formen bilden, deren jede mit Hilfe all der einfachen Formen wieder vervielfältigt werden kann.

Zu allen Zeiten hat man über die beste Regierungsform viel gestritten, ohne daran zu denken, daß in gewisser Fällen jede die beste und in anderen wieder die schlechteste ist. Wenn nun, wie wir gesehen haben, in den verschiedenen Staaten die Anzahl der obrigkeitlichen Personen200 im umgekehrten Verhältnisse zu der der Bürger stehen muß, so werden wir unsererseits den Schluß daraus ziehen, daß im allgemeinen die demokratische Regierung für die kleinen Staaten, die aristokratische für die mittelgroßen, die monarchische für die großen Staaten am geeignesten ist.

An dem Faden dieser Untersuchungen werden wir zu der Kenntnis gelangen, worin die Pflichten gelangen, worin Pflichten und Rechte der Bürger bestehen, und ob sich die einen von den anderen trennen lassen, werden lernen, was Vaterland ist, was eigentlich das Wesen desselben ausmacht, und woran ein jeder erkennen kann, ob er ein Vaterland hat oder nicht.

Nachdem wir auf diese Weise jede Art der bürgerlichen Gesellschaft an sich betrachtet haben werden wir sie zur Wahrnehmung ihrer verschiedenen Beziehungen zueinander[559] vergleichen, die Größe und Stärke der einen mit der Kleinheit und Schwäche der anderen, werden unsere Aufmerksamkeit auf die Angriffsweise, auf ihre Sucht, einander zu verletzen, sowie auf ihre gegenseitige Zerstörungswut richten und uns davon überzeugen, daß sie bei dieser beständigen Wirkung und Gegenwirkung mehr Menschen elend machen und den Tode entgegenführen, als wenn sie alle ihre ursprüngliche Freiheit bewahrt hätten. Wir werden untersuchen, ob man nicht in der sozialen Einrichtung zu viel oder zu wenig getan hat; während die Genossenschaft untereinander die Unabhängigkeit der Natur bewahren, die den Gesetzen und den Menschen unterworfenen Individuen den Uebeln beider Stände preisgegeben bleiben, ohne sich zugleich deren Vorteile aneignen zu können, und ob es nicht ungleich besser wäre, wenn überhaupt gar keine bürgerliche Gesellschaft in der Welt existierte, als daß es deren mehrere gibt. Ist es nicht gerade dieser gemischte Zustand, welcher an allen beiden teilhat und ebendeshalb keinem von ihnen Sicherheit gewährt, per quem neutrum licet, nec tanquam in bello paratum esse, nec tanquam in pace securum?201 Ist es nicht gerade jene partielle und unvollkommene Vereinigung, welche die Tyrannei und den Krieg in ihrem Gefolge hat? Und sind nicht Tyrannei und Krieg die größten Geißeln der Menschheit?

Endlich werden wir noch die Art von Mitteln untersuchen, welche zur Abhilfe dieser Uebelstände in Bündnissen und Staatsverträgen aufgefunden haben will, welche jeden Staat, trotzdem sie ihm in innern Angelegenheiten freien Hand lassen, nach außen gegen jeden ungerechten Angriff waffnen. Wir werden untersuchen, wie man ein gutes Bündnis abschließen kann, was imstande ist, demselben Dauer zu gewähren, und bis zu welchem Punkte man das Recht des Bundesstaates auszudehnen vermag, ohne das Recht der Souveränität zu verletzen.[560]

Der Abbé von Saint-Pierre hatte ein Bündnis aller Staaten Europas vorgeschlagen, um einen ewigen Frieden unter ihnen aufrechtzuerhalten. Wäre ein solches Bundesverhältnis wohl ausführbar? Ließe sich, falls es bereits in das Leben gerufen wäre, wohl annehmen, daß es Bestand haben202könnte? Diese Untersuchungen führen uns unmittelbar auf alle Fragen des gemeinen Rechts, welche dazu beitragen können, über die des Staatsrechtes Licht zu verbreiten.

Endlich werden wir die wahren Grundsätzen des Kriegsrechtes aufstellen und uns darüber klar zu wer den suchen, weshalb Grotius und andere nur falsche angegeben haben.

Es würde mich nicht in Erstaunen setzen, wenn mich Emil, dem es nicht an richtigem Urteile fehlt, inmitten dieser Untersuchungen unterbrechen und sagen würde: »Man sollte meinen, wir errichteten unser Gebäude von Holz und nicht von Menschen, so genau richten wir jedes Stück nach der Schnur!« – »Wohl wahr, mein Freund, indes bedenke, daß sich das Recht nicht in die Leidenschaften der Menschen fügt, und daß es uns darum zu tun war, zunächst die wahren Grundsätze des Staatsrechtes aufzustellen. Nachdem jetzt der Grund gelegt ist, wollen wir prüfen, was die Menschen auf demselben aufgeführt haben, und du wirst schöne Dinge zu sehen bekommen.«

Nun lasse ich ihn den Telemach lesen und denselben auf seiner Reise im Geiste begleitet. Wir suchen das glückliche Salentum und den guten Idomeneus auf, welcher in seinem Unglück die Quelle der Weisheit fand. Unseren Weg verfolgend, treffen wir mit vielen Protesilaus, aber mit keinem Philokles zusammen. Adrast, der König der Daunier,[561] ließe sich auch wohl noch entdecken. Ich überlasse es jedoch den Lesern, sich unsere Reise selber auszumalen, oder sie mit einem Telemach an der Hand selbst zu machen. Ich habe nicht Luft, Veranlassung zu verletzenden Auslegungen zu geben, von welchen sich der Verfasser selbst fernhält oder die er wenigstens seinen Willen macht.

Da Emil übrigens kein König ist und ich ebensowenig ein Gott bin, so fühlen wir uns nicht beunruhigt darüber, daß wir mit Telemach und Mentor in dem Guten, welches sie den Menschen erwiesen, nicht wetteifern Können. Niemand versteht besser als wir, in der ihm angewiesenen Stellung zu verharren, niemand hegt weniger Verlangen, aus ihr herauszutreten. Wir wissen, daß allen dieselbe Aufgabe gestellt ist, wissen, daß jeder, der das Gute von ganzem Herzen liebt und es nach bestem Vermögen tut, sie erfüllt. Wir wissen, daß Telemach und Mentor Gebilde der Phantasie sind. Emil reist nicht wie ein Müßiggänger, und tut mehr Gutes, als wenn er ein Fürst wäre. Selbst in der Stellung von Königen könnten wir nicht wohltätiger sein. Wenn wir Könige und wohltätig wären, würden wir für ein einzige scheinbar gute Handlung, die wir zu tun glaubten, unwissentlich tausend wirkliche Schlechtigkeiten ausführen. Wären wir Könige und Weise, so würde das erste Gute, das wir uns selbst und anderen erweisen könnten, darin bestehen, die Krone freiwillig niederzulegen und wieder das zu werden, was wir jetzt sind.

Ich habe die Gründe angegeben, aus welchen das Reisen im allgemeinen so unfruchtbar bleibt. Was es jedoch für die Jugend noch unfruchtbarer macht, ist die Art und Weise, in der man sie ihre Reisen zur Ausführung bringen läßt. Die Erzieher, welche sich mehr ihr eigenes Vergnügen als die Belehrung ihres Zöglings angelegen sein lassen, führen ihn rastlos von Stadt zu Stadt, von Palast zu Palast, von Gesellschaft zu Gesellschaft, oder lassen ihn, wenn sie dem Stande der Gelehrten und Schriftsteller angehören, seine[562] Zeit damit hinbringen, Bibliotheken zu durchlaufen, Altertumsforscher zu besuchen, alte Denkmäler auszugraben und alte Inschriften abzuschreiben. In jedem Lande beschäftigen sie sich mit einem anderen Jahrhundert, was ebensoviel sagen will, als beschäftigen sie sich mit einen anderen Lande. Die Folge davon ist, daß sie, nachdem sie Europa mit großen Kosten durchstreift haben und dabei entweder eine Beute des Leichtsinnes oder der Langenweile geworden sind, zurückkehren, ohne etwas zu haben, was ihr Interesse hätte in Anspruch nehmen können, oder etwas gelernt zu haben, was ihnen nützlich gewesen wäre.

Alle Hauptstädte gleichen einander. In ihnen sind alle Völker vertreten und herrschen alle Sitten. Sie bilden nicht den Schauplatz für das Studium der Völker. Paris und London sind in meinen Augen die nämliche Stadt. Ihre Einwohner haben wohl einige verschiedene Vorurteile, allein die einen sind von nicht weniger als die anderen erfüllt, und alle ihre praktischen Grundsätze sind dieselben. Man weiß, welche Menschenklassen sich an den Höfen versammeln müssen. Man weiß, welche Sitten eine zu dichte Menschenmasse und die Ungleichheit des Vermögens herbeiführen muß. Sobald man mir von einer Stadt spricht, die zweimalhunderttausend Seelen zählt, so weiß ich im voraus, wie man dort lebt. Was mir sonst die einzelnen Orte Besonderes darbieten können, ist wahrlich keine Besuchsreise wert.

Den Geist und die Sitten eines Volkes muß man in den entlegenen Provinzen studieren, in denen Verkehr und Handel weniger entwickelt sind, die von Fremden seltener besucht werden, deren Bewohner seltener ihren Wohnsitz ändern und in bezug auf ihre Vermögensverhältnisse und gesellschaftlichen Zustände etwaigen Wechselfällen weniger unterworfen sind. Seht euch die Hauptstadt auf der Durchreise an, stellt aber eure Beobachtungen erst in größerer Entfernung von ihr an. Die Franzosen sind nicht in Paris,[563] sondern in der Touraine zu finden; die Engländer sind mehr Engländer in Mercia als in London, und die Spanier mehr Spanier in Galizien als in Madrid. Nur in solchen entlegenen Landesteilen tritt der Charakter eines Volkes hervor und zeigt es sich in seiner Eigenart. In ihnen machen sich die guten wie die schlechten Wirkungen der Regierung am besten fühlbar, in derselben Weise, wie sich am Ende eines größeren Radius der Bogen genauer messen läßt.

Die unvermeidlichen Beziehungen zwischen den Sitten und der Regierung sind in dem bekannten Buche »Der Geist der Gesetze« so klar dargelegt worden, daß man nichts Besseres tun kann, als dieses Beziehungen nach Anleitung jenes die relative Güte der Regierungen nach zwei leicht erkennbar und einfachen Anzeichen ein Urteil bilden. Das eine ist die Bevölkerung. In jedem Volke, in welchem dieselbe abnimmt, geht der Staat seinem Untergang entgegen, während das Land, dessen Bevölkerung im stetigen Wachstum begriffen ist, unfehlbar, und wäre es auch sonst das allerärmste, unter der besten Regierung steht.203

Dies gilt freilich nur für den Fall, daß diese Bevölkerung eine natürliche Folge der Regierung und der Sitten ist. Denn wäre sie das Ergebnis einer durchgeführten Kolonisation oder anderer zufälliger und vorübergehender Mittel, so würde gerade in den Heilmitteln der Beweis für das Vorhandensein des Uebels liegen. Wenn Augustus Gesetze gegen die Ehelosigkeit erließ, so bekundeten diese Gesetze schon den Verfall des römischen Reiches. Die Güte der Regierung muß für die Bürger der Antrieb zur Verehelichung sein, und nicht der Zwang der Gesetze. Nicht auf das muß die Untersuchung gerichtet sein, was die Gewalt zuwege zu bringen vermag, denn ein Gesetz, welches die[564] bestehenden Verhältnisse bekämpft, läßt sich um gehen und wird schließlich vergeblich, sondern auf das, was sich unter dem Einfluß der Sitten und dem natürlichen Antriebe der Regierung zu entwickeln imstande ist, denn diese Mittel allein haben eine bleibende Wirkung. Es war die Politik des guten Abbé von Saint-Pierre, für jedes Besondere Uebel beständig irgendein kleines Heilmittel ausfindig zu machen, anstatt bis zu ihrer gemeinsamen Quelle zurückzugehen zu heilen. Es kann nicht die Aufgabe sein, jedes Geschwür, das sich am Körper des Kranken zeigt, für sich allein zu behandeln, sondern die Blutmasse, welche sie alle erzeugt, zu reinigen. In England soll man zur Hebung der Landwirtschaft Preise aussetzen. Mehr bedarf es nicht, um mir den Beweis zu liefern, daß sich England nicht mehr lange durch dieselbe auszeichnen wird.

Das zweite Anzeichnen der relativen Güte der Regierung und der Gesetze bietet gleichfalls die Bevölkerung dar, wenn auch auf andere Weise, nämlich durch ihre Verteilung, nicht durch ihre Menge. Zwei der Größe und der Einwohnerzahl nach gleiche Staaten können an macht trotzdem sehr ungleich sein, und der mächtigste von beiden ist immer derjenige, dessen Einwohner am gleichmäßigsten über das ganze Gebiet verteilt sind. Derjenige keine so großen Städte hat und folglich weniger Glanz verbreitet, wird regelmäßig den anderen im Kampfe besiegen. Gerade die großen Städte sind die Ursache der Erschöpfung und Schwäche eines Staates. Der Reichtum, welchen sie hervorbringen, ist nur scheinbar und trügerisch, zwar viel Geld, aber wenig wirkliches Vermögen. Man behauptet, daß die Stadt Paris für den König von Frankreich den wert einer ganzen Provinz habe, ich dagegen bin überzeugt, daß sie ihm mehrere kostet, daß sie sich in mehr als einer Beziehung von den Provinzen muß ernähren lassen, und daß der größte Teil ihrer Einkünste in diese Stadt strömt und in ihr verbleibt,[565] ohne je zum Volk oder zum Könige zurückzukehren. Es ist unbegreiflich, daß in diesem Jahrhundert, in welchem die Rechenkunst in so hoher Blüte steht, niemand einzusehen vermag, daß Frankreich nach Vernichtung von Paris viel an Macht gewinnen würde. Eine schlechte Verteilung der Bevölkerung gewährt dem Staate nicht nur keinen Vorteil, sondern ist ihm sogar nachteiligen als die Entvölkerung, insofern die Entvölkerung als Resultat nur Null gibt, während durch eine schlecht verstandene Anhäufung ein negatives Produkt hervorgebracht wird. Wenn ich Zeuge bin, wie ein Franzose und ein Engländer, voller Stolz auf die Größe ihrer Hauptstädte, darüber streiten, ob Paris oder London mehr Einwohner zähle, so ist es für mich dasselbe, als ob sie darüber stritten, welches von beiden Völkern die Ehre habe, am schlechtesten regiert zu werden.

Studieret ein Volk außerhalb seiner Städte, denn nur auf diese Weise werdet ihr es wirklich kennen lernen. Die bloße Beobachtung der allen in die Augen fallenden Form einer Regierung, wie sie sich unter der Hülle des äußeren Prunkes der Verwaltung und nach dem Geschwätze der Regierungsorgane darstellt, ist völlig wertlos, wenn man nicht gleichzeitig nach den Wirkungen, die sie auf das Volk ausübt, ihr wahres Wesen und zwar auf allen Stufen der Verwaltung studiert. Da sich das Abweichende in der Form im Grunde genommen auf alle diese Stufen verteilt, so kann man es auch nur kennen lernen, wenn man sich mit ihnen allen eingehend beschäftigt. In dem einen Lande verrät sich der Geist der Regierung durch das Verfahren der Unterbeamten; in einem anderen Lande muß man der Wahl der Parlamentsmitglieder beigewohnt haben, um beurteilen zu können, ob die Nation frei ist. Was für ein Land es aber auch immer sein möge, so ist es unmöglich, die Regierung kennen zu lernen, wenn man nur die Städte gesehen hat, weil sich der Geist derselben auf Stadt und Land nie in gleicher Weise äußert. Wie das eigentliche[566] Land das Staatsgebiet ausmacht, so bildet auch die Landbevölkerung die Nation.

Dieses Studium der verschiedenen Völker in ihren entlegenen Provinzen und in der Einfachheit ihres ursprünglichen Geistes läßt uns eine allgemeine Wahrnehmung machen, die für mein Motto im höchsten Grade günstig und für das menschliche Herz sehr tröstend ist, nämlich die, daß alle Nationen bei einer solchen Beobachtung einen viel höheren Wert zu haben scheinen. Je mehr sie sich der Natur nähern, desto vorherrschender ist die Güte in ihrem Charakter. Nur dadurch, daß sie sich in Städte einschließen, daß die Kultur eine Wandlung in ihnen hervorbringt, werden sie schlechter und geben einigen, nicht sowohl aus Bosheit als aus ihrer Bildung hervorgegangenen Mängeln den Anstrich angenehmer, aber verderblicher Laster.

Diese Wahrnehmung lehrt, daß mit der Art zu reisen, welche ich vorschlage, ein neuer Vorteil verbunden ist. Da sich die jungen Leute nur kurze Zeit in den großen Städten, diesen Brutstätten einer entsetzlichen Sittenverderbnis, aufhalten, so sind sie weniger der Gefahr ausgesetzt, von derselben ergriffen zu werden, und bewahren sich unter einfacheren Menschen und in weniger zahlreichen Gesellschaften ein sichreres Urteil, einen reineren Geschmack und züchtigere Sitten. Für meinen Emil ist übrigens eine solche Ansteckung nicht leicht zu fürchten, da er alle Eigenschaften besitzt, die vor ihr zu schützen imstande sind. Unter all den Vorsichtsmaßregeln, die ich zu diesem Zweck ergriffen habe, verdient nach meiner Ansicht die Liebe, die er im Herzen trägt, die erste Stelle.

Man scheint gar nicht mehr zu wissen, was wahre Liebe über die Neigungen junger Leute vermag, weil die, welchen ihre Erziehung anvertraut ist, sie ebensowenig kennen und ihre Zöglinge deshalb von ihr abzulenken suchen. Gleichwohl aber muß ein junger Mann, wenn er nicht einen ausschweifenden Lebenswandel führen soll, wahrhaft lieben.[567] Man kann sich durch den Schein leicht täuschen lassen. Man wird mir freilich tausend junge Leute anführen, die in dem Rufe stehen, auch ohne Liebe im höchsten Grade keusch zu leben. Aber man nenne mir auch nur einen einzigen älteren Mann, einen wirklichen Mann, der zu behaupten vermag, daß er seine Jugend in der Tat so verlebt habe, und dem man wirklich Glauben schenken darf. Bei allen Tugenden und allen Pflichten sucht man immer nur den Schein zu wahren. Ich aber, der ich nicht auf den Schein, sondern auf die Wirklichkeit ausgehe, müßte in großer Täuschung befangen sein, wenn es zu ihrer Erlangung noch andere als die von mir angegebenen Mittel geben sollte.

Der Gedanke, in Emils Herzen noch vor Antritt seiner Reise eine erste Liebe anzufachen, beruht nicht etwa auf meiner Erfindung. Folgender Umstand hat mir denselben eingegeben.

Ich stattete in Venedig dem Erzieher eines jungen Engländers einen Besuch ab. Es war Winter, und wir saßen um den Kamin. Währenddessen erhält der Erzieher seine Briefe von der Post. Er überfliegt sie und liest darauf einen derselben seinem Zögling laut vor. Da er in englischer Sprache abgefaßt war, verstand ich nichts davon, indes entging es mir nicht, daß der junge Mann während des Vorlesens die sehr schönen Spitzenmanschetten, welche er trug, zerriß und sie nach der anderen in das Feuer warf, was er so still als möglich tat, offenbar, damit man es nicht bemerke. Ueber diesen sonderbaren Einfall verwundert, blicke ich ihm ins Gesicht und glaube wahrzunehmen, daß dasselbe eine Art Rührung verrät. Obgleich nun die äußeren Kennzeichen der Leidenschaften bei allen Menschen ziemlich sind, so haben diese gleichwohl nationale Verschiedenheiten, über welche man sich leicht täuschen kann. Die Sprache des Gesichts ist bei den Völkern ebenso verschieden wie die ihres Mundes. Ich warte, bis der Brief völlig vorgelesen ist, und frage den Erzieher, indem ich[568] auf die bloßen Handgelenke seines Zöglings hinweise: »Darf man wissen, was dies bedeutet?«

Als der Erzieher wahrnahm, was vorgegangen war, fing er zu lachen an, umarmte seinen Zögling mit offenbarer Befriedigung und gab mir, nachdem ihm letzterer seine Zustimmung ausgedrückt hatte, die erbetene Aufklärung.

»Die Manschetten,« erzählte er, »welche Herr John soeben zerrissen hat, sind ihm von einer hiesigen Dame vor kurzem geschenkt worden. Nun müssen Sie aber wissen daß Herr John Heimat mit einem jungen Fräulein verlobt ist, die er innig liebt und welche in der Tat die höchste Liebe verdient. Jener Brief ist von der von der Mutter seiner Braut, und ich will Ihnen daraus die Stelle übersetzen, welche die Zerstörung, deren Zeuge sie gewesen sind, verursacht hat.

Lucia läßt die Manschetten für Lord John nie aus der Hand. Miß Betty Roldham brachte den gestrigen Nachmittag bei ihr zu und wollte ihr durchaus bei ihrer Arbeit helfen. Da ich erfuhr, daß Lucia heute früher als gewöhnlich aufgestanden war, wünschte ich zu sehen, was sie eigentlich vorhatte, und fand sie damit beschäftigt, alles, was Miß Betty gestern gearbeitet hatte, wieder aufzutrennen. Sie will nicht, daß an ihrer Gabe auch nur ein einziger Stich von einer anderen Hand als der ihrigen sei.«

Als Herr John bald darauf das Zimmer verließ, um andere Manschetten anzulegen, sagte ich zu seinem Erzieher: »Sie haben einen Zögling von vortrefflichem Gemüte. Indes, sagen Sie die Wahrheit, ist dieser Brief von Miß Bettys Mutter nicht auf Ihren Antrieb geschrieben? Ist er nicht eine Kriegslist, die sie selbst gegen Dame mit den Manschetten ersonnen haben?« – »Nein,« entgegnete er, »es liegt hier wirklich keine gut gemeinte Täuschung vor; ich habe bei der Lösung meiner Aufgabe keine solchen Kunstgriffe nötig gehabt. Einfachheit und Eifer wußte ich bei meiner Arbeit zu verdienen, und Gott hat sie gesegnet.«[569] Der erwähnte Charakterzug, dieses jungen Mannes ist nie meinem Gedächtnis entfallen. Es war nicht anders möglich, als daß er auf einen Träumer, wie ich es bin, einen bleibenden Eindruck ausüben mußte.

Doch es ist Zeit, zu Ende zu kommen. Laßt uns Lord John zu Miß Lucia, das heißt Emil zu Sophie zurückführen. Mit einem Herzen, das seit seinem Scheiden an Zartheit nichts verloren hat, bringt er ihr einen erleuchteteren Geist zurück, seinem Vaterland aber gereicht es zum Vorteil, daß er die Regierung nach all ihren Lastern und die Völker nach all ihren Tugenden kennen gelernt hat. Ich selbst habe es zu veranstalten gewußt, daß er sich in jedem Volke mit irgendeinem verdienstvollen Manne durch einen Vertrag der Gastfreundschaft nach Art der Alten verbunden hat, und werde nicht verdrossen darüber sein, wenn er diese Bekanntschaften durch einen regen brieflichen Verkehr zu unterhalten sucht. Ganz abgesehen davon, daß ein solcher Verkehr mit weit entlegenen Ländern nützlich sein kann und stets Annehmlichkeit gewährt, so ist er jedenfalls ein vortrefflicher Schutz gegen die Herrschaft nationaler Vorurteile, welche, da wir unser ganzes Leben lang mit ihnen zu kämpfen haben, früher oder später Gewalt über uns bekommen. Nichts ist geeigneter, ihnen diese Gewalt zu nehmen, als der unbefangene Verkehr mit verständiger und achtungswerten Leuten, welche uns, da ihnen diese Vorurteile fremd sind und sie dieselben durch ihre eigenen bekämpfen, so die Mittel an die Hand gegen, sie einander unaufhörlich gegenüberzustellen Fremden, solange sie sich in unserem Land aufhalten, und dem Verkehre mit ihnen nach ihrer Rückkehr in die Heimat ist ein wesentlicher Unterschied. Im ersteren Falle beweisen sie stets gegen das Land, in welchem sie leben, eine gewisse Schonung, welche sie ihre Gedanken über dasselbe verhehlen läßt oder sie während der Dauer ihres dortigen Aufenthalts mit günstigen Gedanken erfüllt.[570] Nach ihrer Heimkehr tritt jedoch ein Umschlag ein, was zur Folge hat, daß sie bei ihren Urteilen nur gerecht sind. Ich würde mich freuen, wenn ein Fremder, mit dem ich Rücksprache nähme, mein Vaterland besucht hätte, aber nach seiner Ansicht über dasselbe möchte ich ihn nur in seinem eigenen fragen.

Nachdem wir fast zwei volle Jahre darauf verwandt haben, einige der größeren und eine noch weit größere Anzahl der kleineren Staaten Europas zu durchstreifen, nachdem wir zwei oder drei Hauptsprachen erlernt, nachdem wir das wirklich Merkwürdige gesehen haben, sei es auf dem Gebiete der Natur oder dem der Künste, handle es sich um Regierung oder Untertanen: macht mich Emil, den die Ungeduld verzehrt, darauf aufmerksam, daß die zur Reise bestimmte Zeit abgelaufen sei. Darauf erwidere ich ihm: »Nun wohl, mein Freund, du wirst dich des Hauptzwecks unserer Reise erinnern. Du hast gesehen und beobachtet. Was ist nun das Endresultat deiner Beobachtungen? Was für einen Entschluß hast du gefaßt?« Ist nun meine Methode richtig, so wird er mir ungefähr folgende Antwort erteilen müssen:

»Welchen Entschluß ich gefaßt habe? Das zu bleiben, wozu Sie mich erzogen haben, und zu den Fesseln, welche mir die Natur und die Gesetze angelegt, freiwillig nicht noch andere hinzuzufügen. Je mehr ich das Werk der Menschen in ihren Einrichtungen prüfe, desto mehr bricht sich in mir die Ueberzeugung Bahn, daß sie sich gerade durch ihr Jagen nach Unabhängigkeit selbst in Sklaverei stürzen, und daß sie sogar ihre Freiheit in vergeblichen Anstrengungen vergeuden, sich diese zu sichern. Um nicht dem Strome der Dinge nachgeben zu müssen, lassen sie sich von Tausenderlei fesseln; wollen sie dann einen Schritt tun, so können sie nicht, und sind erstaunt, sich überall festgehalten zu sehen. Wie mir scheint hat man um sich frei zu machen, gar nichts zu tun. Es ist vollkommen ausreichend,[571] daß man nicht aufhören will, es zu sein. Du allein, lieber Lehrer, hast mich freimacht, indem du mich lehrtest, mich der Notwendigkeit zu unterwerfen. Sie möge an mich herantreten, wann es ihr beliebt, ich lasse mich ohne Zwang von ihr mit fortziehen; und da ich nicht Lust habe, gegen sie anzukämpfen, so fasse ich für nichts, das mich zurückhalten könnte, Zuneigung. Auf unserer Reise habe ich mich nach irgendeinem Erdwinkel umgesehen, wo ich gänzlich mein eigener Herr sein könnte; aber an welchem Orte wäre man wohl unter den Menschen nicht mehr von ihren Leidenschaften abhängig? Alles wohl erwogen, habe ich gefunden, daß schon mein Wunsch einen Widerspruch in sich schließt. Denn sollte ich mein Herz auch sonst an nichts hängen, so würde ich mich doch immer von der Scholle fesseln lassen, auf der ich mich niedergelassen habe. Mein Leben würde mit dieser Scholle verknüpft sein, wie das der Dryaden mit ihren Bäumen. Ich habe mich davon überzeugt, daß ich, da Herrschaft und Freiheit einmal zwei unvereinbare Worte sind, nicht Herr einer Hütte sein könnte, ohne aufzuhören, meiner selbst Herr zu sein.

Hoc erat in votis, modus agri non ita magnus.204

Ich erinnere mich, daß mein Vermögen die Ursache unserer Nachforschungen war. Sie bewiesen mir auf das überzeugendste, daß ich mir Reichtum und Freiheit nicht gleichzeitig bewahren könnte. Wenn Sie jedoch wollten, daß ich frei und zugleich bedürfnislos wäre, so verlangten Sie zwei Dinge, die sich nicht miteinander vereinen lassen, denn ich würde mich der Abhängigkeit von dem Menschen nur dann entziehen können, wenn ich mich in die Abhängigkeit von der Natur begeben wollte. Was werde ich also mit dem Vermögen anfangen, das mir meine Eltern hinterlassen haben? Das erste wird sein, daß ich mich von demselben[572] unabhängig erhalte. Ich werde alle Bande lösen, die mich daran fesseln. Läßt man es mir, so wird es mir bleiben, raubt man es mir, so wird man mir dadurch nicht den Untergang bereiten. Ich werde mich nicht abquälen, es zu behalten, sondern fest an meinem Platz ausharren. Reich oder arm, ich werde frei sein. Ich werde es nicht allein in dem oder jenem Lande, in dieser oder jener Gegend, nein, ich werde es überall auf Erden sein. Für mich sind alle Fesseln des Vorurteils zerrissen, ich kenne keine andere als die der Notwendigkeit. Von Geburt an habe ich sie tragen lernen und werde sie bis an mein Ende tragen, denn ich bin ein Mensch. Und weshalb sollte ich sie nicht tragen dürfen, wenn ich frei bin, da ich sie als Sklave ja auch tragen müßte, und zum Ueberfluß noch die der Sklaverei.

Was kümmert mich meine Lage auf Erden? Was kümmert mich, wo ich bin? Ueberall, wo es Menschen gibt, bin ich bei meinen Brüdern; überall, wo es keine gibt, bin ich bei mir selbst. Solange ich imstande sein werde, unabhängig und reich zu bleiben, habe ich Vermögen, um davon zu leben, und ich werde leben. Will es mich jedoch unterjochen, so werde ich es ohne Kummer fahren lassen. Ich besitze Arme zur Arbeit, und ich werde leben. Sollten mir aber die arme fehlen, nun, so werde ich leben, wenn man mich ernährt, und sterben, wenn man mich im Stich läßt, muß ich ja doch ebensogut sterben, wenn man mich auch nicht im Stich läßt, denn der Tod ist nicht ein Leiden der Armut, sondern ein Gesetz der Natur. Wann auch immer der Tod an mich herantreten möge, ich werde ihm stets trotzen; nie soll es mich überraschen, wenn ich mit Vorbereitungen zum Leben beschäftigt bin; nie soll er mich hindern, gelebt zu haben.

Das, mein Vater, ist der Entschluß, welchen ich gefaßt habe. Wäre ich ohne Leidenschaften, so würde ich in meiner Lage als Mensch unabhängig wie Gott selber sein weil ich da ich nur das wollte, was ist, nie gegen das Schicksal[573] würde anzukämpfen brauchen. Wenigstens fesselt mich nur eine Kette; es ist die einzige, die ich je tragen werde, und ihrer darf ich mich rühmen. So kommen Sie denn, geben Sie mir Sophie, und ich bin frei.«

»Lieber Emil, ich bin sehr froh, aus deinem Munde solche männlichen Worte zu vernehmen und aus ihnen die Gefühle deines Herzens zu erkennen. In deinem Alter kann mir diese übertriebene Uneigennützigkeit nicht mißfallen. Sie wird überdies nachlassen, wenn du erst Kinder hast, und dann genau das sein, was ein guter Familienvater und ein weiser Mann sein soll. Schon vor Antritt Reise wußte ich, welche Wirkung sie in dir hervorbringen würde. Ich wußte, du würdest, wenn du dir unsere Einrichtungen einmal aus der Nähe ansähest, weit davon entfernt sein, ein Vertrauen in sie zu setzen, welches sie keineswegs verdienen. Unter dem Schutz der Gesetze strebt man vergebens nach Freiheit. Der Gesetze! Wo gibt es denn solche? Und so finden die Achtung? Unter diesem Namen hast du überall nur das Sonderinteresse und die Leidenschaften der Menschen herrschen sehen. Aber die ewigen Gesetze der Natur und der Ordnung bestehen. Dem Weisen vertreten sie die Stelle des positiven Rechts. Durch das Gewissen und die Vernunft stehen sie im Grunde seines Herzens geschrieben. Sie sind es, denen er sich, um frei zu sein, unterwerfen muß. Nur wer Böses tut, ist ein Sklave, denn er tut es stets gegen seinen Willen. Die Freiheit ist nicht das Ergebnis irgendeiner bestimmten Regierungsform, sie wohnt vielmehr in dem Herzen des freien Mannes, der sie überall bei sich trägt, während der niedrig gesinnte Mensch überall die Knechtschaft in sich hegt. Der eine würde in Genf ein Sklave, der andere in Paris ein Freier sein.

Wollte ich von den Pflichten des Bürgers mir dir reden, so würdest du mich vielleicht fragen, wo denn das Vaterland ist, und glauben, mich dadurch in Verlegenheit[574] gesetzt zu haben. Trotzdem würdest du dich irren, lieber Emil, denn wer kein Vaterland hat, hat doch wenigstens ein Land. Es gibt immer eine Regierung und Scheinbilder von Gesetzen, unter denen er in Frieden gelebt hat. Daß der soziale Vertrag nicht beobachtet worden ist, was tut das wohl zur Sache, wenn ihn das Sonderinteresse ebenso geschützt hat, wie es der allgemeine Wille getan haben würde, wenn ihn die öffentliche Gewalt vor der Privatgewalt behütet hat, wenn ihn das Böse, das unter seinen Augen stattfand, mit Liebe zum Guten erfüllt hat, und ihm unsere Einrichtungen selbst die Augen geöffnet haben, daß er ihre eigene Ungerechtigkeit erkennen und hassen mußte? O Emil, wo ist der rechtschaffene Mann, der seinem Lande nichts zu verdanken hätte? Wer er auch immer sein möge, er schuldet ihm, was für den Menschen das Herrlichste ist: die Sittlichkeit seiner Handlungen und die Liebe zur Tugend. Allerdings hätte er, wäre er mitten im Walde geboren, glücklicher und freier gelebt; da er indes nichts zu bekämpfen gehabt hätte, um seinen Neigungen nachzukommen, so wäre er gut gewesen, ohne daß es ihm hätte zum Verdienst angerechnet werden können, so hätte er keinen Anspruch auf Tugend gehabt, während er ihn jetzt trotz seiner Leidenschaften erheben darf. Der bloße Schein der Ordnung führt ihn schon dazu, sie zu erkennen und zu lieben. Das allgemeine Wohl, welches anderen nur als Vorwand dient, ist für ihn allein ein wirklicher Beweggrund. Er lernt sich bekämpfen, sich besiegen, sein Interesse dem allgemeinen Interesse zum Opfer zu bringen. Es ist eine Unwahrheit, daß ihm die Gesetze keinen Vorteil brächten; sie geben ihm den Mut, gerecht zu sein, selbst im Kreise schlechter Menschen. Es ist eine Unwahrheit, daß sie ihn nicht freigemacht, jedenfalls haben sie ihn gelehrt, sich selbst zu beherrschen.

Sage demnach nicht: Was kümmert es mich, wo ich mich befinde. Es muß dich im Gegenteil gar viel kümmern,[575] daß du gerade da bist, wo du alle deine Pflichten zu erfüllen vermagst, und eine dieser Pflichten ist die Anhänglichkeit an den Ort deiner Geburt. Deine Mitbürger beschützten dich als Kind, weshalb du sie jetzt, wo du erwachsen bist, lieben mußt. Du sollst in ihrer Mitte oder wenigstens an einem Orte leben, von dem aus du ihnen nützlich sein kannst, soweit es dir deine Kräfte gestatten, und an dem sie dich, sobald sie deiner bedürfen, zu finden wissen. Es sind Verhältnisse denkbar, wo ein Mann seinen Mitbürgern nützlicher sein kann, wenn er außerhalb der Grenzen seines Vaterlandes weilt, als wenn er im Schoße desselben lebt. Alsdann muß er sich nur von seinem Eifer leiten lassen und sein Exil ohne Murren tragen; selbst Exil gehört zu seinen Pflichten. Du aber, guter Emil, welchem nichts diese schmerzlichen Opfer auferlegt, du, der du dir nicht die traurige Aufgabe gestellt hast, den Menschen die Wahrheit zu sagen, lebe inmitten deiner Mitbürger, pflege ihre Freundschaft in ruhigem Verkehre, sei ihr Wohltäter, ihr Vorbild. Dein Beispiel wird ihnen mehr als all unsere Bücher nützen, und das Gute, welches sie dich verrichten sehen, wird sie mehr rühren als all unsere hohlen Redensarten.

Ich fordere dich zu diesem Zwecke nicht etwa auf, in den großen Städten zu leben. Im Gegenteil besteht eines der Beispiele, welches die Guten den anderen geben sollen, in dem patriarchalischen und ländlichen Leben, dem ursprünglichen Leben des Menschen, dem friedlichsten, natürlichsten und angenehmsten Leben für jeden, dessen Herz noch unverdorben ist. Glücklich, mein junger Freund, das Land, wo man den Frieden nicht erst in einer Einöde zu suchen braucht. Allein wo ist dieses Land? Ein wohltätiger Mensch kann seine Neigung inmitten der Städte, in denen er seinen Wohltätigkeitssinn fast nur an Intriganten oder an Schelmen auszuüben vermag, schlecht befriedigen. Die Aufnahme, welche Tagediebe, die hier ihr Glück zu machen gedenken, in ihnen finden , trägt nur dazu bei, das Land[576] vollends zu veröden, welches man gerade umgekehrt auf Kosten der Städte neu bevölkern sollte. Alle Menschen, welche sich aus der großen Gesellschaft zurückziehen, stiften ebendadurch Nutzen, daß sie sich aus ihr zurückziehen, da alle Laster der Menschen ihre Quelle in der zu dichten Bevölkerung finden. Sie stiften ferner dadurch Nutzen, daß sie in die einsamen Gegenden Leben, Gesittung und Liebe zu dem menschlichen Urzustande zurückbringen können. Ich werde gerührt bei dem Gedanken, wieviel Wohltaten Emil und Sophie aus ihrer einfachen Zurückgezogenheit um sich her zu verbreiten imstande sind, wieviel sie zur Belebung des Landes und zur Wiedererweckung des erloschenen Eifers der unglücklichen Landleute beitragen können. Ich sehe schon im Geiste, wie das Volk sich vervielfältigt, die Fruchtbarkeit der Felder zunimmt, das Land einen neuen Schmuck gewinnt, ich sehe, wie die Volksmenge und der Ueberfluß die Arbeiten in Feste verwandeln, höre, wie sich die Freudenrufe und Segnungen aus dem Kreise der ländlichen Spiele um das Liebenswürdige Paar erheben, dem sie ihre neue Zeitalter als ein Traumbild, und freilich wird es für jeden, dessen Herz und Geschmack verdorben sind, ein solches bleiben. Es ist nicht einmal wahr, daß man es zurücksehnt, da dieses Sehnen stets eitel ist. Was müßte man also tun, um es wiedererstehen zu lassen? Nur eins, aber leider etwas Unmögliches: man müßte es lieben.

Schon scheint es um Sophiens Wohnung wieder aufzublühen; ihr braucht nur miteinander zu vollenden, was ihre würdigen Eltern begonnen haben. Sei jedoch auf deiner Hut, lieber Emil, daß dir dieses süße Leben nicht die mühevollen Pflichten verleide, wenn dir je solche auferlegt werden sollten! Sei eingedenk, daß die Römer vom Pfluge zum Konsulat. Beruft dich der Fürst oder der Staat in den Dienst des Vaterlandes, dann verlasse alles, um auf dem dir angewiesenen Posten die ehrenvolle[577] Tätigkeit eines Bürgers auszuüben. Sollte dir diese Tätigkeit beschwerlich fallen, so gibt es ein ehrenvolles und sicheres Mittel, sie wieder von dir abzuschütteln: übe sie mit solcher strengen Rechtlichkeit, daß man sie dir nicht lange läßt. Uebrigens braucht dich der Gedanke an die Last eines solchen Amtes nicht sehr zu beunruhigen, denn solange die Männer dieses Jahrhunderts nicht ausgestorben sind, wird man dich schwerlich in den Staatsdienst berufen.«

Leider ist es mir nicht gestattet, Emils Rückkehr zu Sophie und das Ende ihrer Liebe, oder vielmehr den Anfang der ehelichen Liebe zu schildern, die sie für immer vereinigt, einer Liebe, die auf lebenslängliche Achtung, auf Tugenden, die nicht mit der Schönheit vergehen, und auf eine Uebereinstimmung der Charakter gegründet ist, welche den Umgang so freundlich gestaltet und den Zauber der ersten Vereinigung bis ins Alter hinein verlängert. Aber wenn alle diese Einzelheiten auch Gefallen erregen würden, so könnten sie doch keinen Nutzen stiften, und bisher habe ich mir nur solche Einzelheiten mitzuteilen erlaubt, die nicht allein zu interessieren vermochten, sondern deren Nutzen ich auch einzusehen glaubte. Sollte ich noch am Schluß meiner Aufgabe von diesen Regel abgehen? Nein, auch fühle ich nur zu wohl, daß meine Feder ermüdet ist. Zu schwach für ein so umfangreiches Werk, würde ich dasselbe gänzlich liegen lassen, wenn es nicht bereits so weit vorgeschnitten wäre. Um es nicht unvollendet zu lassen, ist es Zeit, es zu beenden.

Endlich sehe ich den entzückendsten Tag für Emil und den glücklichsten für mich anbrechen. Meine Mühe sehe ich gekrönt und beginne mich ihrer Frucht zu erfreuen. Das einander würdige Paar wird durch ein unauflösliches Band vereint, ihr Mund spricht und ihr Herz bestätigt die Schwüre, die ihnen stets heilig sein werden: sie sind Gatten. Bei der Rückkehr aus dem Gotteshause lassen sie sich führen; sie wissen weder wo sie sind noch wohin sie gehen noch was um sie her geschieht. Sie hören nicht und antworten[578] nur verwirrte Worte, ihre vor Aufregung blitzend Augen sehen nichts mehr. O süßer Wahn! O menschliche Schwäche! Das Gefühl des Glücks überwältigt den Menschen; er ist nicht stark genug, es zu ertragen.

Nur wenig Leute verstehen am Hochzeitstage den Neuvermählten gegenüber den richtigen Ton zu treffen. Der ernste Anstand der einen erscheint mir eben so unpassend wie das leichtsinnige Geschwätz der anderen. Wenn es nach mir ginge, ließe man diese Herzen lieber Einkehr in sich selber halten und sich einer Erregung hingeben, die nicht ohne Reiz ist, anstatt sie so grausam davon abzulenken, um sie durch ein falsches Schicklichkeitsgefühl trübe zu stimmen oder durch übel gewählte Scherze in Verlegenheit zu setzen, durch Schmerze, die, wenn sie auch zu jeder anderen Zeit gefallen sollten, an einem solchen Tage sicherlich nicht zu rechtfertigen sind.

Es entgeht mir nicht, daß meine beiden jungen Leute in der süßen Sehnsucht, die sich ihrer Bemächtigt hat, auch nicht ein Wort von dem vernehmen, was man zu ihnen spricht. Darf ich, der so lebhaft wünscht, daß man jeden Tag seines Lebens genießen soll, sie wohl einen so köstlichen verlieren lassen? Nein, ich will, daß sie ihn genießen, völlig genießen und er ihnen reiche Wonnestunden bringe. Ich entführe sie der Menge, die sich schwatzend und plaudernd um sie drängt, und bringe ich, indem ich abgelegene Spaziergänge mit ihnen aufsuche und das Gespräch auf sie selbst lenke, wieder zu sich selbst zurück. Aber nicht nur zu ihren Ohren, sondern vor allen Dingen zu ihrem Herzen will ich reden, und ich bin mir des einzigen Gegenstandes, der sie an diesem Tage zu beschäftigen vermag, sehr wohl bewußt.

»Meine Kinder,« sage ich zu ihnen, indem ich bei der Hand ergreife, »es sind nun schon drei Jahre her, seit ich diese heftige und reine Flamme, welche euch heute glücklich gemacht hat, auflodern sah. Sie hat stets mehr um sich gegriffen. Ich lese in euren Augen, daß sie jetzt zu der[579] höchsten Glut angefacht ist. Von nun an kann sie nur abnehmen.« – Leser, seht ihr nicht Emils leidenschaftliches Aufbrausen, sein heftiges Emporfahren, vernehmt ihr nicht seine Beteuerung? Seht ihr nicht, mit welch verächtlicher Miene Sophie ihre Hand der meinigen entzieht? Bemerkt ihr nicht die zärtlichen Verheißungen, welche sich ihre Augen gegenseitig zublinken, einander anzubeten bis zum letzten Atemzuge? Ich lasse sie gewähren und fahre darauf fort.

»Ich habe oftmals gedacht, daß man sich die Erde in ein Paradies verwandeln würde, wenn man das erste Liebesglück bis zu den letzten Tagen der Ehe verlängern könnte. Allein bis jetzt ist dieser Fall noch nicht vorgekommen. Sollte es aber nicht eine völlige Unmöglichkeit sein, so seid ihr beide dessen im Höchsten Grade würdig, ein Beispiel zu geben, zu welchem euch niemand als Vorbild diente und welches auch nur wenige Gatten nachahmen werden. Wollt ihr, meine Kinder, daß ich euch en Mittel angebe, welches ich dazu für geeignet und zugleich für das einzig mögliche halte?«

Lächelnd blicken sie einander an und scheinen sich über meine Einfalt lustig zu machen. Emil will von meinem Mittel gar nichts wissen und meint, Sophie besitze ein noch weit besseres, was ihm für seine Person auch völlig genüge. Sophie ist derselben Ansicht und scheint ebenso zuversichtlich. Trotzdem kommt es mir so vor, als ob ihre ungläubige Miene auch eine gewisse Neugier widerspiegle. Ich schaue Emil prüfend an; seine glühenden Augen verschlingen die Reize seiner Gattin. Auf sie allein ist seine Begierde gerichtet, und alle meine Worte vermögen nicht seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Jetzt lächle ich meinerseits, indem ich zu mir selbst sage: Ich werde deine Aufmerksamkeit bald wecken.

Der fast unmerkliche Unterschied dieser geheimen Bewegung deutet eine sehr charakteristische Verschiedenheit der beiden Geschlechter an, welche den gäng und gäben[580] Vorurteilen völlig widerspricht. Sie zeigt sich darin, daß die Männer im allgemeinen weniger beständig sind als die Frauen und früher als diese einer glücklichen Liebe überdrüssig werden. Die Frau ahnt schon von weitem die Unbeständigkeit des Mannes und fühlt sich daraus dadurch beunruhigt,205 worin auch die Ursache ihrer größeren Eifersucht liegt. Wird er lau und sieht sie sich gezwungen, um ihn nicht völlig zu verlieren, ihm alle die Aufmerksamkeit zu erweisen, mit denen sie ihm sonst entgegenkam, um ihm zu gefallen, so weint sie und demütigt sich nun, aber selten mit dem früheren Erfolge. Zuneigung und Aufmerksamkeit gewinnen zwar die Herzen, erlangen sie aber nicht wieder. Ich komme auf mein erstes Mittel gegen das Erkalten der Liebe in der Ehe zurück.

»Es ist einfach und leicht,« beginne ich von neuem, »man, muß, wenn man Gatte ist, nach wie vor Liebhaber bleiben.« – »Fürwahr,« sagt Emil, verstohlen lachend, »das wird uns nicht sehr sauer werden!«

»Saurer für dich, der du dies behauptest, als du vielleicht denkst. Laßt mir, wenn ich bitten darf, Zeit, mich weiter darüber auszusprechen.

Das Band, welches man zu straff spannen will, zerreißt. So verhält es sich auch mit dem Bande der Ehe, wenn man ihm mehr Stärke verleihen will, als es besitzen darf. Die Treue, welche sie beiden Gatten auferlegt, ist das heiligste alle Rechte; allein die Gewalt, welche sie[581] jedem von beiden über den anderen einräumt, ist zu groß. Zwang und Liebe können nicht nebeneinander Bestehen, und Liebesfreude kann nicht erzwungen werden. Erröte nicht, Sophie, und denke nicht daran, die Flucht zu ergreifen. Da sei Gott vor, daß ich dein keusches Ohr beleidigen wollte! Aber es handelt sich um euer Lebensschicksal. Um eines so großen Zweckes willen verschließt euer Ohr nicht einem Gespräche, welches Eheleuten und einem Vater stattfinden und welches ihr sonst nicht leiden würdet.

Nicht sowohl aus dem Besitz als vielmehr aus dem Zwang entsteht die Uebersättigung, und man bewahrt deshalb einem unterhaltenen Mädchen weit länger seine Zuneigung als seiner Frau. Wie hat man nur aus den zärtlichen Liebkosungen eine Pflicht und aus den süßesten Bezeigungen der Liebe ein recht machen können? Nur das gegenseitige Verlangen gibt ein Recht, die Natur kennt kein anderes. Das Gesetz vermag dieses Recht wohl einzuschränken, würde ihm aber keine größere Ausdehnung geben können. Die Sinnenlust ist an sich selbst gar süß; soll sie etwa aus dem traurigen Zwang eine Stärke gewinnen, die ihr ihre eigenen Reize nicht zu gewähren vermöchten? Nein, meine Lieben, in der ehe sind die Herzen verbunden, allein die Körper sind einander nicht unterworfen. Ihr seid euch Treue, aber keine Willfährigkeit schuldig. Ihr gehört einander an, aber jeder nur, soweit es ihm selbst beliebt.

Ist also wahr, lieber Emil, daß du der Liebhaber deiner Gattin bleiben willst, daß sie stets deine Geliebte und Herrin ihrer selbst sein soll, dann sei ein glücklicher, aber ehrerbietiger Liebhaber. Erhalte alles von der Liebe, ohne irgend etwas als Pflicht zu verlangen; in der geringsten Gunstbeziehung erkenne nie ein Recht, sondern eine Gefälligkeit. Ich weiß, daß nie Schamhaftigkeit klar ausgesprochene Geständnisse scheut und besiegt sein will. Kann sich aber wohl der Liebende, wenn er Zartgefühl und wahre Liebe besitzt, über den geheimen willen täuschen? Wird er[582] sich dessen nicht klar, wenn ihm Herz und Augen zugestehen, was der Mund scheinbar versagt? Möge stets jedes von euch beiden Herr seiner Person und seiner Liebkosungen sein und das Recht haben, sie nur nach eigenem willen dem anderen zu gewähren. Bleibt beständig eingedenk, daß selbst in der Ehe der Genuß nur dann ein rechtmäßiger ist, wenn beide Teile ein gleiches Verlangen danach tragen. Ihr braucht nicht zu befürchten, daß dies Gesetz euch voneinander fernhalten werde; es wird euch im Gegenteil aufmerksamer darauf machen, daß ihr beflissen sein müßt, euch gegenseitig zu gefallen, und wird die Uebersättigung verhüten. Ausschließlich aufeinander beschränkt, wird die Natur und die Liebe euch hinlänglich einander näher bringen.«

Bei diesen und ähnlichen Andeutung und Vorschlägen wird Emil unwillig und erhebt dagegen laut Widerspruch. Sophie hält sich verschämt den Fächer vor die Augen und erwidert kein Wort. Der Unzufriedenste von beiden ist jedoch vielleicht nicht derjenige, der sich am meisten beklagt. Ich lasse mich aber durch nichts irremachen und bleibe unerbittlich. Ich treibe Emil über seinen Mangel an Zartgefühl die Schamröte ins Gesicht und leiste Bürgschaft dafür, daß Sophie ihrerseits den Vertrag annehmen wird. Ich fordere sie auf, sich darüber auszusprechen, und man wird sich wohl denken können, daß sie mich nicht Lügen zu strafen wagt. Unruhig befragt Emil die Augen seiner jungen Gattin. Trotz ihrer Verlegenheiten liest er in ihnen Sehnsucht und Verlangen, was ihn über die Gefahr, die ihm von ihrem Selbstvertrauen drohen könnte, wieder beruhigt. Er wirft sich ihr zu Füßen, küßt leidenschaftlich die Hand, welche sie ihm reicht, und schwört, daß er mit Ausnahme der ihm zugelobten Treue auf jedes andere Recht verzichtet. »Sei du, teure Gattin,« sagt er, »die Herrin meiner Freuden, wie du die Herrin meines Lebens und meines Schicksals bist. Selbst auf die Gefahr hin, daß mir deine Grausamkeit das Leben kosten könnte, gebe ich dir meine[583] teuersten Rechte zurück. Ich will nichts deiner Bloßen Willfährigkeit, sondern alles deinem Herzen zu verdanken haben.«

Guter Emil, beruhige dich. Sophie ist selbst viel zu edelmütig, als daß sie dich als Opfer deines Edelmuts sterben lassen könnte.

Als ich am Abend im Begriff stehe, von ihnen Abschied zu nehmen, sage ich im ernstesten Tone, den ich anzunehmen vermag, zu ihnen: »Erinnert euch beide, daß ihr frei seid, und daß bei euch von ehelichen Pflichten die Rede nicht sein kann. Glaubt mir, und laßt euch nicht durch falsche Rücksichten beirren. Emil, willst du mit mir kommen? Sophie erlaubt es.« Emil hätte in seiner Wut Lust, sich tätlich an mir zu vergreifen. »Und du, Sophie, was sagst du dazu? Soll ich ihn mitnehmen?« Die Lügnerin wird errötend »ja« sagen. Reizende und süße Lüge, die einen höheren Wert als die Wahrheit hat!

Am nächsten Tage... Das Bild des Glücks gewährt den Menschen keine Freude mehr; unter den verderblichen Folgen des Lasters hat ihr Geschmack nicht weniger gelitten als ihr Herz. Es fehlt ihnen an Empfindung für das Rührende und an Augen für das Liebliche. Ihr, die ihr, um die höchste Seligkeit zu malen, eure Vorstellung immer nur bei glücklichen Liebenden weilen laßt, die in den größten Sinnengenüssen schwelgen, wie unvollkommen ist doch euer Gemälde! Es zeigt nur, was die Sinne zu berauschen vermag, aber die süßesten Reize der Freude sind auf demselben nicht zu finden. O, wer von euch hätte noch nie zwei Neuvermählte, sie sich unter den glücklichsten Verhältnissen die Hand zum Bunde reichten, aus der Brautkammer hervortreten sehen, hätte noch nie gesehen, wie aus ihren schmachtenden und keuschen Blicken der Rausch der eben genossenen Freuden und zugleich die liebliche Sicherheit der Unschuld sowie die so entzückende Gewißheit hervorleuchteten, nun ihre übrigen Lebenstage miteinander verleben zu können! Es ist der bezauberndste Anblick, der dem Menschen dargeboten[584] werden kann; es ist das wahre Gemälde der Freude. Ihr habt es hundertmal gesehen, ohne es zu erkennen; eure verhärteten Herzen sind nicht mehr fähig, es zu lieben. Glücklich und ruhig bringt Sophie den Tag in den Armen ihrer zärtlichen Mutter zu; in ihnen läßt sich süß ruhen, wenn man die Nacht in den Armen eines Gatten geruht hat.

An den darauffolgenden Tage nehme ich bereits ich bereits einen Wechsel der Szene wahr. Es macht den Eindruck, als ob Emil ein wenig mißvergnügt ausschaue. Aber durch dieses ausgenommene Wesen hindurch bemerke ich eine so zärtliche Dienstfertigkeit und sogar einen so hohen Grad von Unterwürfigkeit, daß ich nicht annehmen kann, es sei etwas sehr Verdrießliches vorgefallen. Was Sophie anlangt, so ist sie heiteres als am vorhergehenden Abend, und ich sehe aus ihren Augen einen Blick der Befriedigung leuchten. Gegen Emil ist sie bezaubert. Sie scheint ihn fast anlocken zu wollen, was seinen Verdruß offenbar nur steigert.

So wenig sich dieser Wechsel auch bemerkbar macht, so ist er meiner Aufmerksamkeit doch nicht entgangen. Ich werde einigermaßen befolgt und frage Emil im geheimen nach der Ursache. Da erfahre ich denn, daß er in der vergangenen Nacht zu seinem großen Leidwesen und aller seiner flehenden Bitten ungeachtet habe allein schlafen müssen. Die junge Gebieterin hat Eile gehabt, von ihrem Rechte Gebrauch zu machen. Eine Erklärung findet unter ihnen statt. Emil beklagt sich bitterlich, während Sophie in der besten Laune ist. Als sie sich aber endlich überzeugt, daß er ernst böse werden will, wirft sie ihm einen Blick voller Liebe und Freundlichkeit zu und sagt, während sie mir die Hand drückt, nur das einzige Wort »der Undankbare«, aber mit einem Tone, der zu Herzen dringen muß. Emil ist so töricht, daß er den Sinn dieses Wortes nicht so fassen vermag. Ich aber verstehe ihn, lasse Emil zurücktreten und rede nun mit Sophie unter vier Augen.[585]

»Ich durchschaue«, sage ich zu ihr, »die Ursache dieses Einfalls. Man könnte nicht mehr Zartgefühl besitzen, vermöchte es aber auch nicht in ungeeigneterer Weise zum Ausdruck zu bringen. Beruhige dich, liebe Sophie. Ich habe dir einen Mann gegeben, scheue dich also auch nicht, ihn als einen solchen zu behandeln. Er hat dir eine unentweihte Jugend gebracht, hat sie an niemanden vergeudet und wird sie dir lange bewahren.

Ich muß dir, liebes Kind, die Ansichten, welche ich in unserem vorgestrigen Gespräch entwickelte, weitläufiger auseinandersetzen. Vielleicht hast du in ihnen nur den Rat erblickt, in euren Genüssen um deswillen Maß zu halten, um sie dauernden zu machen. Nein, Sophie, ich verfolgte dabei einen anderen Zweck, der meiner Sorgfalt würdiger ist. Emil ist nicht nur dein Gatte, sondern dadurch zugleich dein Herr geworden. Dir kommt das Gehorchen zu, denn so hat es die Natur gewollt. Gleicht aber ein Weib Sophie, so ist es trotzdem gut, daß der Mann von ihr geleitet wird. Auch dies ist ein Gesetz der Natur. Um dir so viel Macht über sein Herz zu gewähren, wie ihm sein Geschlecht über deine Person einräumt, habe ich dich zur Herrin seiner Genüsse gemacht. Es wird dir schmerzliche Entbehrungen kosten; aber du wirst ihn beherrschen, falls du dich selber zu beherrschen verstehst. Was bereits vorgefallen ist, liefert mir den Beweis, daß diese schwierige Kunst deinen Mut nicht übersteigt. Deine auf Liebe gegründete Herrschaft wird lange dauern, wenn du deine Liebesbezeigungen selten und kostbar machst und ihn lehrst, ihren wert zu würdigen. Willst du deinen Mann fortwährend zu deinen Füßen sehen, so halte immer in einziger Entfernung von deiner Person. Paare aber deine Strenge mit Bescheidenheit und laß sie nicht etwa launisch erscheinen. Zeige dich ihm zurückhaltend, aber nicht eigensinnig. Hüte dich, daß in ihm Zweifel an deiner Liebe aufsteigen, weil du dich seiner Liebe zu selten hingibt. Flöße ihm durch deine Liebesbezeigungen[586] Liebe zu dir ein und Achtung durch deine Weigerung. Bringe es dahin, daß er die Keuschheit seiner Frau ehren muß, ohne Ursache zu haben, sich über ihre Kälte zu beklagen.

Auf diese Weise, mein Kind, wird er dir sein volles Vertrauen schenken, deinen Rat beobachten, dich bei seinen Angelegenheiten zu Rate ziehen und nichts beschließen, ohne es vorher mit dir überlegt zu haben. Auf diese weise kannst du ihn wieder zur Vernunft zurückrufen, wenn er auf Abwege gerät, kannst du ihn durch sanfte Ueberredung auf den rechten Weg zurückleiten, kannst du dich liebenswürdig zeigen, um ihm nützlich zu werden, kannst du die Koketterie zum Besten der Tugend und die Liebe zum Vorteil der Vernunft anwenden.

Gib dich aber trotz alledem nicht dem Wahne hin, als ob du dich auf diese Kunst stets verlassen könntest. Wie vorsichtig man auch immer sein möge, der Genuß stumpft das Vergnügen ab, und vor allem die Liebesfreude. Allein wenn die Liebe lange gewährt hat, so füllt eine süße Gewohnheit die Leere wieder aus, und der Reiz der Vertraulichkeit bilden zwischen denen welchen sie das Dasein verdanken, ein nicht weniger süßes und oft noch stärkeres Band als die Liebe selbst. Sobald du aufhören wirst, Emils Geliebte zu sein, wirst du statt dessen seine Frau und seine Freundin, wirst du die Mutter seiner Kinder sein. Dann laß deine Zurückhaltung schwinden und die höchste Vertraulichkeit zwischen euch herrschen; dann fort mit dem besonderen Bette, fort mit den Weigerung und Launen. Werde so vollkommen Hälfte, daß er deiner nicht mehr entbehren kann, und daß er, sobald er dich verläßt, sich fern von sich selbst fühlt. Nachdem du den Reizen des häuslichen Lebens die Herrschaft im väterlichen hause gesichert hast, laß sie jetzt auch in deinem eignen Hause herrschen. Jeder Mann, welcher sich in seinem Hause[587] gefällt, liebt seine Frau. Sei eingedenk, daß du nur dann eine glückliche Frau sein wirst, wenn dein Gatte in seiner Häuslichkeit sich glücklich fühlt.

Was nun die Gegenwart anlangt, so sei gegen deinen Geliebten auch nicht zu streng; er hat mehr Hingebung verdient und würde deine Besorgnis übelnehmen. Schone seine Gesundheit nicht so sehr auf Kosten seines Glückes, und genieße dein eigenes. Man darf weder Uebersättigung eintreten lassen noch das Verlangen zurückweisen, nicht versagen, nur um zu versagen, sondern um dem, was man gewährt, einen höheren Reiz zu verleihen.«

Nachdem ich die Einigkeit unter ihnen wiederhergestellt habe, sage ich in Sophiens Gegenwart zu ihrem jungen Gemahl: »Das Joch, das man sich einmal aufgelegt hat, muß man ertragen. Verdiene, daß es dir leicht gemacht werde. Opfer vor allem den Grazien und wähne nicht, dich durch schmollen liebenswürdiger zu machen. Der Friede ist nicht zu stiften, und jedes wird sich leicht selbst sagen können, auf welche Bedingungen hin er geschlossen werden kann.« Nachdem durch einen Kuß besiegelt ist, wende ich mich an meinen Zögling und sage: »Lieber Emil, der Mensch bedarf sein ganzes Leben hindurch des Rates und der Leitung. Ich habe diese Pflicht gegen dich bis zu diesem Augenblicke, so gut ich vermochte, erfüllt. Hier endet meine langwierige Aufgabe, und die eines anderen beginnt. Indem ich heute meine Autorität feierlich niederlege, vertraue ich sie für die Zukunft deinem neuen Führer an.«

Allmählich läßt der erste Wonnerausch nach, so daß sie die Reize ihres neuen Standes in Frieden genießen können. Glückliche Liebende, würdige Gatten! Um ihren Tugenden die ihnen gebührende Ehre zu erweisen, um ihr Glück zu schildern, müßte man ihre ganze Lebensgeschichte erzählen. Wie oft fühle ich mich, wenn ich das Werk betrachte, das ich an ihnen verrichtet habe, von einem Entzücken ergriffen,[588] welches mein Herz höher schlagen läßt. Wie oft ergreife ich ihre verschlungen Hände und segne die Vorsehung unter freudigen Seufzern; wie oft bedecke ich diese Hände, die so treu einander drücken, mit meinen Küssen; wie oft müssen sie fühlen, daß meine Freudentränen dieselben benetzen! Auch sie ergreift dann innige Rührung, indem sie meine Freude teilen. Ihre ehrwürdigen Eltern durchleben ihre Jugend noch einmal in der ihrer Kinder, sie fangen gleichsam aufs neue zu leben an oder sie erkennen vielmehr zum erstenmal den wert des Lebens. Sie verwünschen ihren früheren Reichtum, der ihnen in dem nämlichen Alter zum Hindernis gedient hat, ein so entzückend Los zu genießen. Wenn überhaupt das Glück auf Erden zu finden ist, dann weilt es in der Heimstätte, die wir bewohnen.

Nach Verlauf eigener Monate tritt Emil eines Morgens in mein Zimmer und sagt, mich herzlich umarmend: »Mein Lehrer, wünschen sie Ihrem Sohne Glück; ich hoffe bald Vaterfreuden zu erleben. O welche Sorgen werden dadurch unserm Eifer auferlegt werden, und in wie hohem Grade werden wir Ihrer bedürfen! Da sei Gott vor, daß ich sie noch den Sohn erziehen lasse, nachdem Sie den Vater erzogen haben! Da sei Gott vor, daß eine so heilige und süße Pflicht je von einem anderen als von mir erfüllt werde, sollte meine Wahl auch ebenso vortrefflich ausfallen, als sie für mich ausgefallen ist! Bleiben sie aber nach wie vor der Führer der jungen Führer. Stehen Sie uns mit Rat und Anleitung helfend zur Seite; sie werden uns folgsam finden. Solange ich lebe, werde ich Ihrer bedürfen. Gerade jetzt, wo meine Pflichten als Hausvater erst beginnen, bedarf ich Ihrer mehr als je. Sie haben die Ihrigen erfüllt. Leiten Sie mich, damit es mir gelingt, Ihrem Beispiele zu folgen! Ruhen Sie sich aber aus, es ist Zeit!«


Ende.[589]


Quelle:
Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Band 2, Leipzig [o.J.].
Lizenz:

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