[677] Es muß wohl ein besonderer Weg sein, der, ohne von Erfahrung auszugehen, zu seinem Ziel das Prinzip hat; denn außer dem Prinzip scheint nur jene einen sichern Ausgangspunkt darzubieten. In der Tat wird man über die von uns bis jetzt befolgte Methode nur auf folgende Art sich ausdrücken können. Sie ist nicht die deduktive, denn diese setzt das Prinzip voraus. Da nicht die deduktive, wird sie induktiv sein; und in der Tat das Hindurchgehen durch die Voraussetzungen, die als bloße Möglichkeiten enthalten, was erst im Prinzip als Wirklichkeit gesetzt wird, dieses Hindurchgehen ist wohl eine Induktion zu nennen, aber doch nicht in dem gewöhnlich mit diesem Wort verbundenen Sinn; und von dem insgemein so genannten Verfahren unterscheidet sich ja das unsere dadurch, daß die Möglichkeiten, deren es sich gleichsam als Prämissen bedient, im reinen Denken, und darum zugleich auf solche Weise gefunden sind, daß man der Vollständigkeit versichert sein kann, was bei den von Erfahrung ausgehenden Induktionen niemals ebenso der Fall ist. Bestünde man also darauf, daß es nur zwei Methoden gebe, deduktive (unter welche auch die demonstrative fällt) und induktive, so müßte man zugleich Induktion in zweierlei Sinn denken (und in der Tat ist in der allgemeinen Erklärung des Aristoteles von Erfahrung nicht die Rede), also aussprechen, daß sie zweierlei Arten unter sich begreife: die eine Art der Induktion schöpfe die Elemente aus der Erfahrung, die andere aus dem Denken selbst, und diese letzte sei die, durch welche die Philosophie zum Prinzip gelange.
Wünschenswert wird es aber immer sein, daß diese Art[677] der induktiven Methode ihren eigenen Namen habe, wozu nicht hinreicht, sie die philosophische zu nennen. Denn philosophisch ist auch die deduktive, zu welcher die Philosophie übergeht, nachdem ihr das Prinzip gefunden. Zunächst nun aber, um den rechten Ausdruck zu finden, werden wir uns unter den Alten umsehen. Gewisse Bezeichnungen philosophischer Begriffe und Methoden, wie sie von den Alten erfunden worden, haben sich leicht auf spätere Zeiten fortgepflanzt; nicht ebenso leicht wurde der wahre Sinn überliefert; und so stehen sie denn jedem zu Gebot, der die Hand nach ihnen ausstreckt, vielleicht um etwas, worin kaum noch ein verdrehtes Abbild der Sache wahrzunehmen ist, mit so berühmten Ausdrücken zu schmücken. Es ließe sich leicht mehr als eine Usurpation dieser Art namhaft machen. Wenn wir aber sagen, daß der von uns zur Ermittelung des Prinzips eingeschlagene Weg genau übereintrifft mit der Beschreibung Platons, wo er nämlich zeigt, wie das Prinzip erlangt werde, und wo er dieser Methode zugleich den ihr zukommenden Namen erteilt: so ist dies keine Anmaßung, denn die Übereinstimmung liegt am Tage, daß sie nicht zu verkennen ist. Um jedoch diese klassische Stelle (sie findet sich am Ende des sechsten Buches der Republik) verständlich zu machen, muß erst der Zusammenhang dargelegt werden, in welchem sie vorkommt.
Platon unterscheidet also ein doppeltes Intelligibles (noêton), eines für welches sich die Vernunft noch gewisser sinnlich anschaulicher Bilder bedient, wie dies in der Geometrie geschieht, wobei es ihr jedoch nicht um diese, die Bilder, sondern um das Vorbild zu tun ist, dem sie gleichen, nicht z.B. um das Viereck oder Dreieck, das an der Tafel verzeichnet ist, sondern um das Dreieck oder Viereck selbst, das nur mit der Vernunft gesehen wird. Hier ist es, wo Platon den mathematischen Disziplinen das schon früher Angeführte zuschreibt, daß sie nämlich zu der Noesis ziehen, daß sie die Seele zwingen, des reinen Denkens sich zu bedienen, daß sie aber das wahrhaft Seiende, das rein Intelligible nicht erreichen, sondern nur von ihm träumen96.[678]
Nachdem nun Platon über diese Art von Vernunftwissenschaft sich erklärt, geht er zu der andern über, wobei nichts Fremdartiges, Sinnliches dazwischen kommt, sondern das reine Denken mit dem rein Intel ligiblen verkehrt, und hier sagt er dann folgendes:
»Lerne nunmehr, was ich die andere Abteilung des Intelligiblen nenne, jenes nämlich, das die Vernunft selbst berührt (hou autos ho logos haptetai), indem sie kraft des dialektischen Vermögens (tê tou dialegesthai dynamei) Voraussetzungen (hypotheseis), die nicht Prinzipien, sondern wahrhaft (tô onti) bloße Voraussetzungen sind, wie Zugänge und Anläufe (hoion epibaseis kai hormas) sich bildet, um mittelst derselben bis zu dem was nicht mehr Voraussetzung (mechri tou anhypothetou), zum Anfang von allem – Prinzip des Allseienden – gehend (epi tên tou pantos archên iôn), und dieses ergreifend, und wieder sich anhängend dem, was diesem (dem Anfang) anhängt (echomenos tôn ekeinês echomenôn), so zum Ende herabzusteigen, ohne sich irgendwie eines Sinnlichen zu bedienen, sondern allein von den reinen Begriffen ausgehend, durch die Begriffe fortschreitend, in Begriffen endend«97.
Mit den letzten dieser Worte geht Platon zu der Ableitung (von dem Prinzip) über; diese mögen wir also vielleicht später in Betrachtung ziehen, wenn wir selbst dorthin gekommen sind; hier können wir sie übergehen. Viel Rätselhaftes enthält auch so die Stelle gewiß für den, der den Weg nicht aus Erfahrung kennt; aber auch für uns, die ihn zu kennen glauben, bleibt Verschiedenes zu erörtern übrig. Nur so viel ist auf den ersten Blick zu sehen, 1. daß die beschriebene Methode überhaupt induktiv (denn sie geht durch Voraussetzungen hindurch), 2. daß sie in dem besondern Sinn induktiv ist, wo die Vernunft, d.h. das Denken selbst es ist, welches diese Voraussetzungen bildet, 3. daß das in dieser Methode Tätige das dialektische Vermögen, die Methode selbst also nach Platon die dialektische Methode zu nennen ist.
Die erste Frage möchte sein, was dem Platon die Voraussetzungen[679] (hypotheseis) überhaupt bedeuten. Die Antwort kann für uns keine Schwierigkeit haben. Denn auch wir haben ja das, was das Seiende nur sein kann, oder was das Seiende nur auf gewisse und demnach bedingte Weise, nur hypothetisch ist, als Anlauf benutzt, um zu dem, was das Seiende ist, zu dem Seienden selbst zu gelangen. Auch wir sind durch das Mögliche hindurchgegangen. Das erste Mögliche (die prima hypothesis) war das reine Subjekt, das zweite Mögliche das reine Objekt, das dritte Mögliche das reine Subjekt-Objekt.
Weniger leicht ist zu sagen, vorläufig wenigstens, wie sich Platon die Voraussetzungen im Besondern gedacht habe. Einige stellten sich vor, er habe die Ideen gemeint. Aber zumal nach dem, was durch Brandis entdeckt und aus Stellen im Ganzen verlorener Bücher des Aristoteles hervorgehoben worden, daß auch an der Bildung der Ideen das Große und das Kleine, d.h. im aristotelischen Ausdruck die Hyle, einen Teil habe, läßt sich daran nicht mehr denken: unter den Voraussetzungen müssen vielmehr schlechthin einfache Elemente gemeint sein98. Noch weniger zulässig erscheint, was andere allerdings mit leichter Mühe gefunden, es seien Voraussetzungen des unphilosophischen Denkens, von denen die dialektische Methode nach Platon ausgehe. Denn da ausdrücklich gesagt ist, daß die Vernunftforschung selbst sich bilde99, so können sie nur selbst philosophisch gesetzt sein, und am wenigsten, wie man vielleicht aus dem »sich machen oder bilden« zu schließen oder dem heutigen Gebrauch des Worts. Hypothesen gemäß anzunehmen geneigt wäre willkürlich angenommen; denn das Denken, das sie erreicht, ist von allein Zufälligen frei, in seinem eigenen Wesen, und nur der eigenen Notwendigkeit unterworfen, daher unfehlbar, nicht, wie sobald ein Fremdes (Heteronomisches) dabei ist, fehlbar. Freilich gelangen nicht alle zum Denken selbst, und die am Lautesten, man dürfte mitunter sagen, aufs Unverschämteste vom Denken[680] geredet, sind nie über das Zufällige, nämlich über das Künstliche und bloß scheinbar Notwendige hinaus zum Denken selbst gekommen, das, weil es einer inneren Notwendigkeit folgt, wenig Aufwand macht, aber, wie wir aus Aristoteles angeführt, an Wahrheit und Schärfe die Wissenschaft übertrifft. An Wahrheit, denn die Wissenschaft ist fehlbar, wenn sie sich nicht mit bloßen ungerechtfertigten Annahmen begnügt, und um den Anfang unbekümmert, bloß auf das Ziel losgeht, wie Platon die mathematischen Disziplinen beschreibt; aber diese sind dann nur unter Bedingung, hypothetisch, also zufällig, unfehlbar, das Denken selbst aber ist durch seine Natur selbst dem Irrtum entnommen. Was aber die Schärfe betrifft, so ist das Denken, um Denken zu sein, also durch sich selbst, zu dem Entschluß gedrungen, was es nicht zumal setzen kann nacheinander zu setzen, und auf jene schlechthin einfachen Elemente zu gelangen, bei denen keine Fluktuation des Denkens mehr möglich ist, die entweder nicht oder scharf und richtig gedacht werden, in Beziehung derer keine Täuschung ist, en hois ouk esti pseudos, Worte, auf die wir später zurückkommen werden. (Die Schärfe ist nur da, wo keine symplopê noêmatôn, also die reinen noêmata sind)100.
Ein Drittes, das sich zu fragen darbietet, ist: wie die Vernunftforschung die Voraussetzungen beschafft. Auch dies vollbringt sie mittelst des dialektischen Vermögens. Hier müssen wir aber daran erinnern, daß in dem Dialektischen das Logische begriffen ist, die logische ist nach Platon die eine Seite der dialektischen Methode; mittelst des dialektischen Vermögens werden also die Voraussetzungen gefunden, auch wenn sie bloß nach logischer Möglichkeit und Unmöglichkeit bestimmt werden, nach reinster, wie man jetzt sagt, formaler Denknotwendigkeit, über die niemand sich täuschen kann. Wie diese zur materialen (den Inhalt bestimmenden) werde, haben wir in der letzten Vorlesung gezeigt, aber eben darum auch, wie diejenige Evidenz ihnen zukommt, welche in dem logischen Axiom selbst[681] liegt, das, wie Aristoteles ausführlich zeigt101, nur indirekt, auf dem Wege der Widerlegung (elenktikôs) zu beweisen ist. Daß dem reinen Subjekt (-A) nichts vorauszusetzen, wird nicht bewiesen, man muß es erfahren. Erfahren, sage ich. Es gibt viele und recht sinnige Menschen, die gegen die ausschließliche Macht des reinen Denkens in der Philosophie eingenommen sind, die meisten zwar, weil sie von jenem beschränkten Begriff der Induktion, der bis jetzt allein in den Schulen gelehrt und gelernt worden ist, ausgehen, manche aber auch, weil durch Übertreibungen, die von Erfindungsarmut meist unzertrennlich sind, ganz falsche Vorstellungen erregt werden. Denn allerdings gibt es auch solche, die von dem Denken wie einem Gegensatz aller Erfahrung reden, als ob das Denken selber nicht eben auch eine Erfahrung wäre. Man muß wirklich denken, um zu erfahren, daß das Widersprechende nicht zu denken ist. Man muß den Versuch machen, das Uneinbare zumal zu denken, um der Notwendigkeit inne zu werden, es in verschiedenen Momenten, nicht zugleich zu setzen, und so die schlechthin einfachen Begriffe zu gewinnen. Wie es zwei Arten von Induktion gibt, so auch zweierlei Erfahrung. Die eine sagt, was wirklich und was nicht wirklich ist: diese ist die insgemein so genannte; die andere sagt, was möglich und was unmöglich ist: diese wird im Denken erworben. Als wir die Elemente des Seienden suchten, wurden wir nur durch das im Denken Mögliche und Unmögliche bestimmt. Es stand nicht in unserm Belieben, welche Momente des Seienden und in welcher Ordnung wir sie aufstellten, sondern es galt, mit dem Denken dessen, was das Seiende ist, wirklich zu versuchen, und also zu erfahren, was als das Seiende gedacht werden kann, insbesondere was das primum cogitabile ist. Das Denken ist also auch Erfahrung. Geradezu ist von dem so im Denken Erworbenen kein Beweis möglich, nur ad hominem102. Man denkt sich dabei immer einen andern gegenüber,[682] dem man anheimstellt zu finden, was er dem reinen Subjekt vorsetzen könnte, sicher, daß er nichts dergleichen finden, also nicht antworten werde. Man verfährt auch ohne die äußerliche Form, gesprächsweise, wovon ja auch der Name des dialektischen Wissens herkommt, das Aristoteles aufs Bestimmteste der apodiktischen Wissenschaft entgegensetzt.
Aber das Beschaffen oder Setzen ist nur das Vorausgehende, also nur die eine Seite des dialektischen Verfahrens; die folgende liegt deutlich auch in der bis jetzt allein gebrauchten platonischen Stelle. Von Voraussetzungen ist zwar gleich, aber offenbar bloß durch eine Art von Prolepsis die Rede, denn es wird übrigens nur gesagt, daß sie in Wahrheit (tô onti) nur Voraussetzungen und nicht Prinzipien seien, aber was sie in Wahrheit sind, wird eben selbst erst durch die dialektische Methode ermittelt; gesetzt also werden sie unmittelbar als Prinzipien (und unmittelbar zu setzen ist ja überhaupt nur, was und insofern es Prinzip sein kann), gesetzt werden sie als mögliche Prinzipien103, aber nur, um durch die Macht der Dialektik zu Nichtprinzipien, zu bloßen Voraussetzungen degradiert zu werden, zu Stufen, die nur dienen zum allein Unbedingten zu geleiten. Ja, es bedürfte gar nicht, wie doch angenommen ist, mehrerer Stufen, wenn nicht das zuerst Gesetzte (und dieses muß doch vorzugsweise und sozusagen mehr als jedes Folgende von der Natur des Prinzips an sich haben) als Nichtprinzip gesetzt, d.h. als Prinzip verneint würde, und so jedes Folgende, bis man zu dem Äußersten gelangt ist, in dem nichts mehr vorausgesetzt, sondern nur gesetzt wird (das wirklich Prinzip und nicht mehr zur bloßen Voraussetzung zu machen ist). Die positive und die negative Seite des dialektischen Verfahrens sind also unzertrennlich, und wenn in Ansehung des ersten Glieds das Setzen natürlich dem Verneinen vorausgeht, so ist dagegen das Setzen jedes folgenden durch das Verneinen des vorhergehenden vermittelt.
Wir haben die negative Seite in der zuerst erwähnten Stelle nur indirekt nachgewiesen, aber eine ausdrückliche Erklärung[683] findet sich später, wo nämlich Platon noch einmal auf die Geometrie und die mit ihr zusammenhängenden Disziplinen zurückkommt, von denen er das früher schon Angeführte äußert: daß sie von Voraussetzungen Gebrauch machen, die sie unbeweglich lassen (akinêtous eôsin), indem sie keine Rechenschaft von ihnen ablegen; darauf fährt er so fort: Wo nun der Anfang ein unbekannter bleibt, Ende aber und Mittel (Schluß- und Mittelsätze) auf Unbekanntem beruhen, ist es wohl möglich, daß eine solche Zusammenfügung je Wissenschaft werde? Nimmer ist dies möglich, antwortet der Gefragte. Hierauf denn sagt er: Die dialektische Methode allein also wandelt diesen Weg, daß sie die Voraussetzungen aufhebend (anairousa), zum Anfang selbst (ep' autên tên archên), d.h. zu dem, was Prinzip nicht bloß scheint, sondern ist, fortschreitet104. Nun – doch nicht als Voraussetzungen werden sie aufgehoben, als solche bleiben sie vielmehr, sondern als Prinzipien, wie sie demnach zuerst gesetzt worden. In diesem Aufheben also möchte das eigentlich Dialektische bestehen, wenn man es nämlich von dem Logischen unterscheiden will (denn das Setzen, wie wir gesehen, erfolgt nach rein logischem Gesetz), aber auch so erscheinen beide als unzertrennlich, und das Logische nur als das stets mitgehende Werkzeug des Dialektischen105.
Was nicht mehr Prinzip sein kann, wird Stufe, Stufe zum Prinzip, zum wahren bleibenden, in dem nichts Voraussetzliches mehr ist106. Eigentlich war also jedes Element nur versuchsweise gesetzt, hypothetisch, wie es der platonische Ausdruck (hypotheseis) mit sich bringt; definitiv gesetzt wird jegliches nur[684] mit dem Prinzip, mit dem, welches das Seiende nicht mehr bloß sein kann, sondern ist; an diesem hängt alles nach dem aristotelischen Ausdruck: ex hou ta alla êrtêtai107, dessen er sich auf einem späteren Standpunkt in der schwungvollen Stelle bedient, wo er sagt: An einem solchen Prinzip also hangen der Himmel und die Natur. Auch hieraus erhellt also wieder, daß die dialektische Methode, die zur Erforschung des Prinzips angewendet wird, mit der induktiven unter eine Gattung gehört, sowie umgekehrt dialektische Methode nicht bloß in jener Anwendung statthat, sondern ein allgemeines in jeder Art von Forschung unentbehrliches Werkzeug ist, z.B. wo es sich um die Bedeutung historischer Tatsachen handelt (den ganzen ersten Teil der gegenwärtigen Untersuchung haben wir als den historisch-dia lektischen bezeichnet); versuchsweise werden auch hier alle Möglichkeiten aufgestellt, wie sie stufenweise auseinander hervorgehen und endlich alle in die sich aufheben, welche die einzig wahre ist. Noch deutlicher ist die Übereinstimmung in den gewöhnlich allein so genannten induktiven Wissenschaften, der Physik und den ihr verwandten. Die dialektische Methode besteht darin, daß die nicht willkürlichen, sondern vom Denken selbst diktierten Annahmen gleichsam dem Versuch unterworfen werden. Ebenso nun aber stellt in der Physik zwischen Denken und Erfahrung etwas in der Mitte, das Experiment, das immer eine apriorische Seite hat. Der denkende und sinnreiche Experimentator ist der Dialektiker der Naturwissenschaft, der ebenfalls durch Hypothesen, durch Möglichkeiten, die vorerst bloß im Gedanken sein können, und auf die er auch durch bloße logische Konsequenz geführt ist, hindurchgeht, ebenfalls um sie aufzuheben, bis er zu derjenigen gelangt, welche sich durch die letzte entscheidende Antwort der Natur selbst als Wirklichkeit erweist. Ein deutscher Gelehrter, der sich unter die Physiker zählte, nannte seinerzeit die Oersted'sche Entdeckung eine zufällige, d.h. seiner Meinung nach eine solche, die eigentlich nicht hätte gemacht werden sollen, weil ihr in seiner und der Gleichgesinnten Vorstellung keine Möglichkeit vorausgegangen war; für ihn war sie ein untoward[685] event. Ohne von der Möglichkeit großer Entdeckungen überzeugt zu sein, kann man sie nicht machen; wer nicht für möglich hält, eh' er findet, wird auch nicht finden; was einer nicht voraus zu denken vermag, wird er auch schwer für möglich halten, wenn er es mit Augen sieht108.
Auch in der höchsten Funktion demnach können wir von der Dialektik das Aristotelische gelten lassen, sie sei eine versuchende Wissenschaft (peirastikê)109. Muster und Meisterstücke dieser versuchenden Methode sind die platonischen Gespräche, wo immer gewisse Annahmen (Setzungen, Thesen) vorausgehen, die im Verlauf aufgehoben werden; wo das Vollkommenste in dieser Gattung erreicht ist (was man freilich nicht in allen platonischen Gesprächen suchen muß), verwandeln diese Annahmen sich in stetig zusammenhängende Voraussetzungen des allein wahrhaft und bleibend zu Setzenden, in das sie zuletzt eingehen. Platon hat gesucht, das Suspensive der dialektischen Methode auch im Gespräch nachzubilden, von dem sie ja den Namen hat110, und in welchem die Untersuchung stets zwischen Bejahung und Verneinung schwebt, bis in der letzten über alles siegreichen Bejahung jeder Zweifel sich hebt und das erscheint, worauf alles hinzielte und worauf alles gewartet hat (e quo omnia suspensa erant). Die dialektische Methode ist, wie die dialogische Methode, nicht beweisend, sondern erzeugend; sie ist die, in welcher die Wahrheit erzeugt wird. Von der demonstrativen Wissenschaft ist der Versuch ausgeschlossen oder nur in sehr untergeordneter Art zugelassen. Aber um zu wissen, was das Seiende ist (und darum handelt es sich zuletzt allein), muß man, wie gesagt, wirklich versuchen es zu denken, so wird man erfahren, was es ist. Tentandum et experiendum est.
Die nächste Frage nun aber ist, wie es mit dem angenommenen Aufheben zugehe, und worein sich die zu Nichtprinzipien herabgesetzten Elemente, die zuerst Prinzipe schienen, verwandeln.
Halten wir uns fortwährend an die platonische Stelle. Da finden wir außer dem Prinzip selbst, das die Vernunft ergriffen[686] hat und berührt111, echomena autês, ihm anhängende, von ihm untrennbare Elemente, und woher sollten diese kommen, wenn nicht eben von den Voraussetzungen, die Prinzipe scheinen konnten, aber durch die Kraft der Dialektik sich jetzt in hypotithenta des Prinzips, im aristotelischen Ausdruck tê archê kath' hautên hyparchonta, d.h. in Attribute des Prinzips verwandeln, an welche sich anhaltend (ihrer als Mittel sich bedienend), nun die Vernunft zur Erzeugung der Wissenschaft selbst fortschreitet, ohne sich irgend eines aus den Sinnen Herbeigezogenen zu bedienen112. Weil das im Denken Erste (-A) zwar nicht ein Seiendes, aber doch auch das Seiende nicht eigentlich ist, sondern ist und nicht ist, ist auf die eine, nicht ist auf die andere Weise, so wird es zu etwas, das das Seiende nur zufällig (symbebêkotôs), nicht ursprünglich (prôtôs), d.h. als Subjekt ist; es wird zu etwas von dem, was das Seiende ist, d.h. zum Attribut, und ebenso verhält es sich auch mit den andern. Es wird hier ganz angemessen sein, sich wieder an das zu erinnern, daß Kant von einem Inbegriff aller Prädikate spricht.
Auf solche Weise überkommen nun die als Attribute Gesetzten das Sein von dem, dessen sie sind. Also daß sie sind, wie Attribute sein können, verdanken sie dem, das sie ist (dem Prinzip), aber (und dies ist von großer Wichtigkeit) nicht ebenso ist. Was sie sind durch dieses bestimmt; dem Was nach sind sie unabhängige und selbständige Mächte. Jenes (das Prinzip) hat für sich die Ewigkeit und also Notwendigkeit des Seins, sie haben für sich die Ewigkeit und Notwendigkeit des Wesens, des Gedankens, sie gehören dem Reich der ewigen Möglichkeiten an, und sind erst wahrhaft das, was man die essentiae oder veritates rerum aeternae genannt hat, und von dem seit Leibniz in der Philosophie so viel die Rede war, wiewohl immer nur auf abstrakte Weise113. Unabhängig von dem, das sie ist,[687] also a priori mögliche Prinzipe, behalten sie auch nach der Hand (post actum) – ein Ausdruck, mit dem freilich kein zeitliches Vor oder Nach verbunden werden darf – auch als Attribute gesetzt, behalten sie diese Möglichkeit, Prinzipe zu sein, und demnach auch als solche hervorzutreten. Der Unterschied ist nur: unabhängig von dem Prinzip waren sie bloß im Denken, mit dem Prinzip werden sie, wie Platon sagt, tô onti hypotheseis, wirklich mögliche Prinzipe.
Wir konnten längst die Einrede erwarten: wenn jenen Elementen die ihnen zugeschriebene Bedeutung zukomme, müßten sie in der Philosophie, oder doch im menschlichen Bewußtsein überhaupt, da doch alle Entwicklung stufenweise geschieht, auch geschichtlich als Prinzipe hervorgetreten sein. Es war indes noch nicht Zeit davon zu reden. Auch jetzt wollen wir bloß bemerken, daß nur eines der möglichen Prinzipe sich ausschließlich gellend machen kann, das erste. Aber dieses, in welchem Maß und mit welcher Macht auch hat es seine Selbständigkeit behauptet! Dafür würde schon das System zeugen, das von der ältesten Zeit bis tief ins Mittelalter und selbst noch unter den Einflüssen des Christentums sich behauptet hat, und vielleicht zu keiner Zeit ohne alle Anhänger gewesen ist: ich meine das sogenannte System der zwei Prinzipe, beruhend auf der unbestimmt dauernden Äquipotenz zweier entgegengesetzter Mächte, deren eine mit dem bloß an sich seienden, darum eigentlich nur sich wollen könnenden, die andere mit dem außer sich seienden, darum überfließenden, mitteilsamen, unselbstischen Prinzip die meiste Ähnlichkeit hatte. Am schwersten vergißt unter den möglichen Prinzipen das erste, dieses allein durch seine Natur dem höchsten entgegenzutreten befähigte (befugte), daß es unabhängig von dem eigentlichen und wahren Prinzip ewig sein konnte. Aber durch die Macht der Idee (in diesem Sinn ewig) ist es dem nächst Höheren untergeordnet, und noch spät in Ägypten wird es als das vor der Zeit untergegangene beklagt. Was aber die Philosophie betrifft, so hat Aristoteles schon aufmerksam gemacht auf die ganz analoge Sukzession von Prinzipien in der Mythologie und der Philosophie. Bei ihm selbst aber, dem von allem Mythischen so weit entfernten – welche Antinomie[688] in dem berühmten Kapitel, wo er von der Hyle, dem ersten Unterworfenen (dem prôton hypokeimenon oder hypotithen), fragt: wenn sie nicht Substanz (Selbstseiendes), was es dann wohl sei, und gleich hernach sagt: unmöglich sei, daß sie Substanz sei, denn dieser komme vor allem zu, ein Absonderliches (für sich sein Könnendes) zu sein, ein solches aber sei die Materie nicht.
In der Tat nun auch ist diese sukzessive Herabsetzung der möglichen Prinzipe zu Attributen, die wir bis jetzt als rein noetischen Hergang betrachtet – dieser rein noetische Hergang ist vorbildlich für den wirklichen Hergang des stufenmäßigen Entstehens, das wir in der Natur wahrnehmen; denn worauf anders könnte es wohl beruhen dieses stufenmäßige Aufsteigen, wenn nicht darauf, daß Mächte, die als Prinzipe hervortreten können aber Prinzipe nicht sind, in den Prozeß gestürzt wieder zu bloßen Stufen herabgesetzt werden, und in Attribute sich verwandeln, zunächst dessen, was über der Natur, zuletzt dessen, was über allem ist.
Schon eine bloße tiefere Erfassung der Natur möchte also den einfachen Gedanken als glaublich erscheinen lassen, daß in dem ganzen wundervollen Schauspiel derselben nur auf reelle, wirkliche Weise der Prozeß sich wiederholt, den wir als Gedankenprozeß kennen gelernt haben. Es wurde soeben erwähnt, dem Aristoteles sei die Materie die erste Unterlage für alles. Alles nun, dem sie zur Unterlage geworden, und das daher Materie hat, ist ein Zusammengesetztes (syntheton), da aber die Hyle selbst keine Hyle hat, so ist sie in der Tat einfach, Prinzip. Als solches, als Prinzip erscheint sie nur noch in den Gestirnen, die darum dem Aristoteles keine materiellen Wesen, sondern reine energeiai, ja sogar psychai sind. Hier ist also was zur künftigen Unterlage anderer Wesen bestimmt ist noch aufrecht, und als Prinzip Quell einer eben darum unablässigen Bewegung. In der formierten Körperwelt ist es nicht mehr Prinzip und trägt schon das Gepräge einer höheren Macht an sich, doch behauptet es noch so weit seine Selbständigkeit, daß die Bestimmungen dieser Macht an ihm noch als bloße Akzidenzen erscheinen (daß[689] es die Wirkungen der hohem Potenz, des Lichts, der Elektrizität usw. nur als Akzidenzen in sich aufnimmt). Aber in der organischen Natur hat die Materie alle Selbständigkeit verloren, und ganz in den Dienst einer hohem Macht getreten, ist sie nur noch Akzidens, im beständigen Gehen und Kommen, Entstehen und Vergehen begriffen, zwar noch Attribut (denn wir sagen von dem Tier: es ist ein materielles Wesen), aber nicht mehr Subjekt; das eigentlich Seiende im Tier, das Tier selbst ist nicht mehr Materie, es ist ein Wesen völlig anderer Art wie aus einer andern Welt. Bemerkenswert wird es immer bleiben, daß die Methode, welche zum Gesetz ihres Fortschreitens eben dieses hatte, daß was im ersten Anlauf als Subjekt oder Prinzip erscheint, im folgenden Moment zum Objekt geschlagen Nichtprinzip wird, daß diese Methode, die sich nicht auf die Natur beschränkt, sondern nach gleichem Gesetz in die geistige Weh fortsetzte und so alles umfaßte, und die in Platon wohl zu erkennen ist, aber nicht aus ihm zu nehmen war, daß diese durch eine Art von Notwendigkeit fast eher angewendet als in ihren letzten Gründen verstanden, unmittelbar hervortrat, sowie dem philosophischen Geist der neueren Zeit das Joch der mittelalterlichen Metaphysik, das ihm bis daher immer aufgelegt war, völlig und für immer abgenommen und dadurch die Möglichkeit gegeben war, wieder die freien Bahnen der Alten zu betreten. In der Tat möchte diese Methode, der man wenigstens das nicht wird absprechen können, daß durch sie zuerst Philosophie als eine wirkliche Wissenschaft möglich wurde, die Stoff und Inhalt nicht überall her zusammenzusuchen hatte, sondern sich selbst erzeuge und die Gegenstände nicht kapitelweise abhandelte, sondern in stetiger ununterbrochener Folge, jeden folgenden als hervorgehend aus dem vorhergegangenen in natürlichem Zusammenhang behandelte, es möchte, sage ich, diese Methode, so sehr sie bald wieder von einzelnen, rückwärts (nach der gemachten Wissenschaft) Zurückstrebenden, verdorben und mit unechten Zusätzen verbrämt worden, bis jetzt noch immer als der einzige eigentliche Fund der nachkantischen Philosophie anzusehen sein, und eine fruchtbare philosophische Tätigkeit möchte sich auf das tiefere Verständnis und eine immer wichtigere und im Verhältnis mit[690] der unaufhörlich fortschreitenden und erweiterten Erfahrung reichere und mächtigere Anwendung derselben beschränken, da es kaum möglich scheint, von diesem Standpunkt auf eine Philosophie, die in einem bloßen Aufstapeln von Tatsachen oder tatsächlichen Bestimmungen bestünde, oder eine bloße Kategorien- d.h. Prädikatenlehre wäre, zurückzukommen. Denn, was das Letzte betrifft, wenn das, wovon man ausgeht, nur die erste, oder wie man wohl sagt schlechteste, inhaltsärmste, das, womit man endet, die höchste, reichste Kategorie ist, so wird man nichts als Prädikate haben, ohne etwas, von dem sie gesagt würden, ein Subjekt. Es hieße denen, die so etwas sagen, zu viel zugetraut, wenn man für möglich hielte, sie wollten damit die Philosophie der Mathematik nähern, von welcher Aristoteles sagt, sie sei peri oudemias ousias, d.h. daß sie mit Dingen sich beschäftige, die sich zuletzt in bloße Prädikate auflösen, ohne daß ein eigentliches Subjekt zurückbliebe, worauf allerdings großenteils die ihr eigentümliche Evidenz beruht. Aber die Usia, die Substanz, das Subjekt ist eben das Warum der Philosophie, das Einzige, um dessen willen sie ist, und das ihr ganz Eigne, und selbst jene ersten Setzungen, die im Verfolg sich aufheben, setzen nicht Attribute, denn kein solches läßt sich unmittelbar setzen; was unmittelbar und wiefern es so gesetzt wird, muß Subjekt, oder im aristotelischen Ausdruck kath' hauto sein114, wenn es auch in der Folge zum Attribut wird.
Also auch jene Attribute, von denen zuletzt die Rede war, sind ursprünglich Subjekte? Aber wie sollte dies sein? Haben wir sie doch selbst so unterschieden, daß das eine (-A) nur als Subjekt, das andere (+A) als reines Objekt erschien. Freilich; aber die Meinung war nicht, daß das Letzte auf diese Art sei, denn das Sein kommt ihnen erst mit dem Prinzip, sondern, es sei das Subjekt, die Potenz des so seienden. Wie sie rein a priori gedacht sind (wir haben schon erklärt dies heiße: vor dem Prinzip gedacht), sind sie eben bloß Subjekte oder Potenzen, reine hypokeimena tês ontotêtos; das letzte Wort ist nicht[691] eben rein hellenischen Klangs, aber es drückt aus, was wir wollen, und wir haben es von dem ehrenwerten Alexander (dem Kommentator des Aristoteles) entlehnt. Als reine Subjekte werden sie eben nur gesagt, und weder wird etwas von ihnen, noch werden sie selbst ausgesagt. Wir sollten Namen für sie haben, statt daß wir sagen: das an-sich-Seiende, das außer-sich-Seiende. Dies ist ein Übelstand, der Veranlassung gegeben, eigne, Worte ersparende Zeichen (-A +A ±A) zu erfinden, um jedes davon gleichsam als an einem Namen zu erkennen. Zugleich sollten sie dienen, jedes als ein eignes, ja einziges Wesen zu bezeichnen. Denn wohl stellen die Potenzen in sich die höchsten und allgemeinsten Arten (die summa genera) des Seins dar, sind aber darum selbst keine Arten (eidê), keine koina kai pleiosin hyparchonta, sondern jede ist das bestimmte, diese Art des Seins rein und ausschließlich in sich darstellende Subjekt. So wenig Empedokles gemeint hat, daß Wasser, Feuer und die andern von ihm angenommenen Urstoffe der Dinge Gattungen seien, unter denen die Dinge begriffen seien, so wenig sind die Potenzen uns Gattungen. Zwar alles Konkrete entsteht aus ihrer Zusammenwirkung; insofern ist keines der möglichen Prinzipe ein Konkretes, also eher Allgemeines, aber nicht Allgemeines wie irgend ein Gattungsbegriff, z.B. Mensch, sondern wie die Materie, das Licht, wie selbst Gott in gewissem Sinn ein Allgemeines ist. Sagte man: jedes sei eine Gattung, wenigstens wäre es nicht die selbst nicht seiende Gattung von außer ihm seienden, es wäre die selbst seiende Gattung, freilich nicht ein Einzelwesen, aber wie ein Einzelwesen. Es ist eine der aristotelischen Aporien, oder Zweifelsfrage, ob die Prinzipe von der Natur des Allgemeinen, oder wie die Einzelwesen seien115. Ins Genauere können wir jedoch wegen dieser Frage hier noch nicht eingehen und müssen uns eine spätere Erörterung derselben vorbehalten.
Bis jetzt nämlich haben wir uns eigentlich bloß mit Platon beschäftigt und auf ihn uns berufen, um dem Verfahren, durch welches wir zum Prinzip gelangt waren, den Namen des dialektischen[692] zu vindizieren. Nachdem uns aber dieses gelungen, möchte es ein zweideutiges Licht auf unsere Methode werfen, wenn wir uns scheuten, an sie auch den Maßstab des Aristoteles zu legen.
Hierbei bemerke ich jedoch vorläufig, daß Aristoteles von Dialektik überhaupt mehr in jenem allgemeinen Sinn spricht, inwiefern sie in einer jeden Wissenschaft und jeder Untersuchung anzuwenden ist, als in jener besondern Beziehung, inwiefern sie nämlich zur Erreichung des Prinzips dient. In dieser scheint sie ihm weniger wichtig; denn dem Aristoteles ist das Prinzip und das Erste aller Wesen116, von dem er allerdings spricht, nicht wirklich Prinzip, nämlich nicht wirklicher Anfang von Wissenschaft, ihm dehnt sich jene Voruntersuchung zur ganzen prôtê epistêmê oder prôtê philosophia aus117, und in dieser ist es nur Ende, und auch nur als solches bewegende Ursache (kinei hôs telos); dem Platon aber ist das Prinzip auch wirklich Prinzip, und es gehört in der Tat zu den unbegreiflichen Äußerungen seines Schülers, wenn dieser in einer Stelle der Nikomachischen Ethik von ihm sagt: Platon habe gesucht und gezweifelt (ezêtei kai êporei), ob der Weg nach den Prinzipien oder von den Prinzipien ausgehe. Platon ist aber darüber nichts weniger als zweifelhaft. Denn in derselben Stelle wo Platon von dem Aufsteigen zum Prinzip redet, sagt er, wie wir schon gehört, daß die Vernunftforschung das Prinzip ergreifend und an das, was an demselben hängt, sich haltend, zum Ende herabsteige118. Im Allgemeinen indes schreibt Aristoteles der Dialektik den Besitz oder die Erkenntnis des Weges zu den Prinzipien sämtlicher Methoden zu (exetastikê ousa pros tas hapasôn methodôn archas hodon echei. Top. I, 2 fin.); aber Dialektik und Philosophie bezieht sich ihm darum doch nicht auf Verschiedenes, jene auf die Erforschung der Prinzipien, diese auf die Wissenschaft selbst, sondern dasselbe kann nach ihm dialektisch und philosophisch behandelt[693] werden: im ersten Fall bleibt es bei dem Versuch119. Die Dialektik ist versuchend (peirastikê), wo die Philosophie erkennend ist, die Sophistik dies zu sein scheint, aber nicht ist120. Auch dem Platon ist, wie wir gesehen, die Dialektik versuchend, aber nach ihm dringt sie wirklich zu dem voraussetzungslosen Anfang, von welchem als dem vollkommen Erkannten und durch sich selbst Gewissen ausgehend, die Vernunft die wahre Wissenschaft erzeugt. Wiewohl sich demnach eine gewisse Analogie erkennen läßt zwischen dem, was Dialektik auch der höchsten Funktion dem Platon und was sie dem Aristoteles ist: so dürfen wir uns doch nicht verbergen, den bloßen Worten nach ist, was den wissenschaftlichen Wert der Dialektik betrifft, die schneidendste Dissonanz zwischen den beiden Philosophen. Dem Platon ist das dialektische Vermögen die höchste Kraft der Wissenschaft, durch welche sie des Prinzips selbst sich bemächtigt, des Gipfels, von dem allein mit Sicherheit herabzusteigen ist, dem Aristoteles erreicht Dialektik so wenig als Sophistik die Wahrheit, der Unterschied beider ist nur: die Sophistik will sie nicht (ihr ist es bloß um Täuschung zu tun), die Dialektik kann sie nicht erreichen. Letztere unterscheidet sich von der Philosophie tô tropô tês dynameôs, hinsichtlich des Vermögens, erstere tou biou tê proairesei, durch das, was sie sich als Lebenszweck vorsetzt, nämlich Täuschung121. Dieses Unvermögen liegt darin, daß sich Sophistik und Dialektik in bloßen Subjekt- und Prädikatverknüpfungen, d.h. im Reiche des Scheins und der möglichen Täuschung, bewegen; denn Wahrheit und Irrtum ist nicht in den Dingen, sondern nur im Verstande (in der Subjekt und Prädikat entweder verknüpfenden oder trennenden Tätigkeit)122.[694]
Es scheint mir, daß dieses schlechthin verwerfende Urteil des Aristoteles um so mehr einer Erklärung bedürfte, als er ja seinen Zweck, der vorzugsweise nur Erforschung des Prinzips ist, ebenfalls nur auf dialektischem Wege erreicht. Der Unterschied ist nur der: für Platon, welchem ja übrigens auch das dialektische Verfahren im gemeineren Sinn nicht fremd ist, gibt es eine Spitze desselben, und hier geht es ihm über in reine Vernunftforschung, Aristoteles aber wandelt den breiteren Weg einer sehr weit ausgreifenden, alles zu Hilfe nehmenden, nichts verschmähenden Induktion, denn z.B. auch Fragen, die an spätere scholastische Spitzfindigkeiten erinnern, wie die, ob Sokrates und der sitzende Sokrates derselbe sei, rechnet er unter die, deren. Untersuchung nur dem Philosophen zu stehe123.[695]
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