Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten

Gelesen in der Gesamtsitzung der Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 17. Januar 1850

Die Frage, über welche ich heute zu sprechen beabsichtige, hat schon die Philosophie des Mittelalters beschäftigt, wie sie rückwärts zusammenhängt mit den größten Untersuchungen des philosophierenden Altertums. Wieder aufgenommen von Descartes und von Leibniz, ist sie durch die neue von Kant eingeleitete, aller Unterbrechungen und augenblicklichen Verfälschungen ungeachtet, von ihrem wahren Ziel noch nicht abgebrachte philosophische Bewegung ebenfalls in ein neues Stadium getreten und vielleicht der Entscheidung näher gebracht worden. Die Frage, die ich meine, bezieht sich auf die sogenannten ewigen oder notwendigen Wahrheiten, insbesondere auf die Quelle derselben; doch war dies der einfachste Ausdruck; im vollständigeren handelte es sich de origine essentiarum, idearum, possibilium, veritatum aeternarum; dies alles wurde als dasselbe betrachtet. Denn 1. was die Wesenheiten betrifft, so galt es als unwidersprochener Grundsatz: essentias rerum esse aeternas. Zufälligkeit (contingentia) bezieht sich stets nur auf die Existenz der Dinge, zufällig ist die hier, an diesem Ort, oder jetzt, in diesem Augenblick, existierende Pflanze, notwendig aber und ewig ist die Wesenheit der Pflanze, nicht anders sein könnend, sondern nur so oder gar nicht. Hieraus erhellt von selbst, daß die essentiae rerum auch dasselbe sind mit den mehr oder weniger platonisch gedachten Ideen. Da ferner bei der Wesenheit die Wirklichkeit nicht in Betracht kommt, indem die Wesenheit dieselbe bleibt, die Sache mag wirklich vorhanden sein oder[699] nicht, wie sich die Wesenheit eines Kreises nicht im Geringsten dadurch ändert, daß ich einen Zirkel wirklich beschreibe: so ist hieraus begreiflich, daß das Reich der Wesenheit auch das Reich der Möglichkeiten, und was nur so möglich, notwendig so ist. Dies führt von selbst auf den vierten Ausdruck der notwendigen oder ewigen Wahrheiten. Gewöhnlich wird dies nur auf die mathematischen bezogen. Aber der Begriff ist viel weiter. Denken wir uns, wie Kant, die höchste Vernunftidee als Inbegriff aller Möglichkeiten, so wird es auch eine Wissenschaft geben, die diese Möglichkeit unterscheidet und erkennbar macht, indem sie denktätig dieselben aus der Potentialität heraustreten und in Gedanken wirklich werden läßt, wie die Mathematik tut, wenn sie das was in einer Figur, z.B. dem rechtwinkligen Dreieck, bloß potentiâ (dem Vermögen nach) ist, wie das Verhältnis der Hypotenuse zu den Katheten, wenn sie, sage ich, dieses findet, indem die Denktätigkeit (ho nous energêsas) es zum Aktus erhebt. Phaneron, sagt Aristoteles, hoti ta dynamei onta eis energeian anagomena heurisketai (Offenbar ist, daß das bloß der Potenz nach seiende durch Überführung in Aktus gefunden wird). Dies ist der Weg aller reinen oder bloßen Vernunftwissenschaft. In der höchsten Vernunftidee wird nun unstreitig auch die Pflanze prädeterminiert, und es wird nicht absolut unmöglich sein, von den ersten Möglichkeiten aus, die sich noch als Prinzipe darstellen, zu der schon vielfach bedingten und zusammengesetzten Möglichkeit der Pflanze fortzuschreiten. Es wird, sage ich, nicht absolut unmöglich sein. Denn es handelt sich hier überhaupt nicht um das uns, sondern um das an sich Mögliche; das uns Mögliche ist überall von vielen sehr zufälligen Bedingungen abhängig; für solche Ableitungen ist uns die Beihilfe der Erfahrung unentbehrlich (ein höherer Geist könnte sie vielleicht entbehren): die Erfahrung ist eine immer fortschreitende, nie abgeschlossene, und auch das Maß der Anwendung unserer an sich beschränkten geistigen Fakultäten gar sehr von Zufällen bedingt. Angenommen nun aber, was im Allgemeinen als möglich anzunehmen ist und nie aufgegeben werden darf, daß von der höchsten Vernunftidee bis zur Pflanze als notwendigem Moment derselben ein stetiger Fortschritt zu finden sei: so ist die Pflanze in diesem[700] Zusammenhang nichts Zufälliges mehr, sondern selbst eine ewige Wahrheit, und ich will nicht aussprechen, wie man über den – Naturforscher urteilen müßte, dem dies gleichgültig wäre und – dessen Forschungen nicht von dem beständigen Bewußtsein begleitet wären, daß er, womit immer beschäftigt, nicht mit einer bloß zufälligen und für die Vernunft nichts werten Sache, sondern mit einer solchen zu tun habe, die in dem großen, wenn auch ihm unübersehbaren Zusammenhang eine notwendige Stelle und damit eine ewige Wahrheit hat.

Nachdem ich auf diese Weise die Ausdehnung des Gegenstandes der Frage gezeigt zu haben glaube, komme ich auf den Anlaß, und werde zunächst anführen, wodurch die Scholastiker bestimmt worden, sich nach der Quelle der ewigen Wahrheiten umzusehen.

Dieser Anlaß also war, daß ewige, d.h. notwendige Wahrheiten ihre Sanktion nicht von dem göttlichen Willen haben konnten; bloß durch göttliches Gefallen festgestellt, waren sie zufällige Wahrheiten, die ebensogut auch Nichtwahrheiten sein konnten; es mußte also eine vom göttlichen Willen unabhängige Quelle derselben anerkannt werden, und ebenso mußte es etwas vom göttlichen Willen Unabhängiges sein, worin die Möglichkeiten der Dinge ihren Grund hatten. Zwar für Thomas von Aquino war die Möglichkeit noch in der essentia divina selbst, nämlich in der als participabilis s. imitabilis gedachten; eine Vorstellung, wovon sich die Spur noch bei Malebranche findet. In den Ausdrücken erkennt man leicht die platonische methexis und die mehr von Pythagoreern gebräuchliche mimêsis. Aber wer sieht nicht zugleich, daß hier die Fähigkeit der Dinge, an dem göttlichen Wesen teilzunehmen oder es nachzuahmen – worin die Möglichkeit der Dinge bestehen würde – daß dieser eine Fähigkeit des göttlichen Wesens, an sich teilnehmen oder sich nachahmen zu lassen, untergeschoben wird, womit die Möglichkeit auf seifen der Dinge nicht erklärt wäre. Unausbleiblich also war die Anerkennung einer ursprünglichen, nicht bloß vom göttlichen Willen, sondern auch vom göttlichen Wesen unabhängigen Möglichkeit der Dinge. Eine solche behaupteten die[701] Scotisten, gezwungen dadurch, wie ein Anhänger von Leibniz sich ausdrückt, coacti admittere principium realitatis essentiarum nescio quod a Deo distinctum eique coaeternum et connecessarium, ex quo essentiarum pendeat necessitas et aeternitas. Dieses nescio quod hätte sich übrigens selbst nach den von Scotus gebrauchten Ausdrücken bis zu einem gewissen Punkt wohl überwinden lassen. Scotus sprach von einem ente diminuto, in quo possibile constitutum sit. Ens diminutum soll in dem Latein des Scotus unstreitig nichts anderes bezeichnen, als was nur in untergeordnetem Sinne das Seiende zu nennen ist, wie auch Aristoteles das prôtôs on, das erstlich Seiende, von dem bloß hepomenôs on, von dem was bloß als Folge und Mitgesetztes eines anderen ist, das energeia on von dem bloß hylikôs on unterscheidet und letzteres dem dynamei on oder dem mê on gleichsetzt (wohl zu unterscheiden von dem ouk on, dem ganz und gar nicht seienden). Über die materielle Natur also jenes Mitgesetzten blieb wohl kein Zweifel. Das Ungelöste und bis in unsre Zeit ungelöst Gebliebene lag nicht in der Beschaffenheit, sondern darin, daß jenes der eignen Natur nach bloß Seienkönnende doch irgend ein Verhältnis zu Gott haben mußte. Es kam nun aber Descartes, der den Knoten zerhauend auf seine Weise, nämlich hastig, das Gegenteil aussprach: die mathematischen wie die andern sogenannten ewigen Wahrheiten seien von Gott festgesetzt und vom göttlichen Willen nicht anders abhängig als alle andern Kreaturen. (Die eignen Worte des Descartes sind in einem seiner Schreiben folgende: Metaphysicas quaestiones in Physica mea attingam, praesertim vero hanc: veritates mathematicas, quas aeternas appellas, fuisse a Deo stabilitas et ab illo pendere non secus quam reliquas creaturas). Man könnte versuchen, die Worte so auszulegen, als solle nur die Unabhängigkeit der ewigen Wahrheiten von der göttlichen Erkenntnis widerlegt werden, entgegen denjenigen Scotisten, welche lehrten: die ewigen Wahrheiten würden bestehen, auch wenn gar kein Verstand wäre, nicht einmal der göttliche. Allein dieser Auslegung widerspricht eine andere Äußerung des Philosophen, folgende: In Deo unum idemque est velle et cognoscere, ita ut hoc ipso quod aliquid[702] velit ideo cognoscat, et ideo tantum (nämlich weil er es will) res est vera.

Die nächste Folge, die sich aus dieser Behauptung ergeben würde, wäre für die Mathematik, daß sie eine bloße Erfahrungswissenschaft sei; denn was die Folge eines Willens, und demnach zufällig ist, da es ebensogut nicht sein könnte, kann bloß erfahren, nicht wie man sagt a priori gewußt werden. Dem widerspricht aber schon, daß es in der Erfahrung keinen Punkt gibt, in der Wirklichkeit keine Linie, die vollkommen gerade, oder ohne alle Breite wäre, woraus auf jeden Fall folgen würde, daß bei den ersten Begriffen oder Voraussetzungen der Geometrie etwas anderes im Spiel ist als bloße Erfahrung. Ich sage auf jeden Fall: denn mit dem Allgemeinen, daß die Mathematik eine apriorische Wissenschaft sei, ist die Sache auch nicht abgetan, ich kann mich aber hier auf die spezielle Untersuchung der Genesis der mathematischen Wahrheiten nicht einlassen und muß dieselbe für eine andere Gelegenheit vorbehalten. Am meisten aber widerspricht der Behauptung (daß die mathematischen Lehren nur wahr sein sollen infolge des göttlichen Willens) die ganze Natur der Mathematik. Denn wo immer Wille dazwischen kommt, ist von Wirklichem die Rede; aber offenbar ist, daß die Geometrie z.B. nicht um das wirkliche, sondern nur um das mögliche Dreieck sich bemüht, und der Sinn keines ihrer Sätze ist, daß dem wirklich so sei, sondern daß es nicht anders sein könne, und das Dreieck z.B. nur so möglich ist, daß seine Winkel zusammengenommen zweien rechten gleich sind, wo dann freilich folgt, daß das Dreieck auch so sein wird, wenn es Ist, aber daß es Ist, als ganz gleichgültig betrachtet wird. Die Folge in bezug auf die Mathematik würde nun freilich wohl Descartes am wenigsten zugegeben haben; aber es ist darum nicht weniger war, daß sie aus seiner Ableitung der ewigen Wahrheiten von dem göttlichen Willen unabwendlich folgt, und daß mit dieser Annahme den Wissenschaften überhaupt alle ewig gültige Wahrheit entzogen wäre. Man könnte, wie Peter Bayle, aus Descartes Ausspruch den Schluß ziehen, daß 3+3 = 6 nur wahr ist, wo und so lang es Gott gefällt, daß es vielleicht[703] unwahr ist in andern Regionen des Weltalls und im nächsten Jahr auch für uns aufhört wahr zu sein. Von ernsteren Folgen aber würde die Sache sein, wenn die Lehre auf das sittliche und religiöse Gebiet übergetragen würde, wie dies durch einige Theologen der reformierten Kirche geschah, die sich durch die Lehre vom decretum absolutum bis zu der Meinung fortreißen ließen, daß auch der Unterschied von Gut und Bös kein objektiver, sondern allein durch den göttlichen Willen festgesetzter sei. Von dieser Seite besonders hat Descartes der oben erwähnte Bayle angegriffen, dessen Worte, die Leibniz einer Stelle in seiner Theodicee nicht unwürdig gefunden, ich auch hier wiederholen darf. »Eine Menge der ernstesten Autoren,« sagt er, »erklären sich dafür, daß es jedem göttlichen Gebot vorausgehend und unabhängig von einem solchen in der Natur der Dinge selbst ein Gutes und ein Böses gibt. Zum Erweis dieser Behauptung gelten ihnen besonders die abscheulichen Folgen der entgegengesetzten Lehre, aber es gibt ein direkt treffendes, aus der Metaphysik hergenommenes Argument. Es ist eine gewisse Sache, daß Gottes Existenz nicht eine Folge seines Willens ist; er existiert nicht, weil er will, und wenn er ebensowenig allmächtig oder allwissend ist, weil er es sein will, so kann sich sein Wille überhaupt nur auf außer ihm Seiendes erstrecken, doch auch so nur darauf, daß es Ist, nicht aber auf das, was zum Wesen desselben gehört. Gott, wenn er wollte, konnte die Materie, den Menschen, den Kreis nicht wirklich machen, aber unmöglich war ihm, sie wirklich zu machen, ohne ihnen ihre wesentlichen Eigenschaften mitzuteilen, die demnach nicht von seinem Wollen abhängen«1. Man darf es mit geistreichen Reden nicht zu strenge nehmen; sonst könnte man in Bayles Worten die Meinung durchschimmern sehen, daß die Existenz Gottes eine ewige Wahrheit in demselben Sinne sei, in Welchem ihm 3+3 = 6 eine solche ist; eine Meinung, der man sich doch vielleicht ebensowohl versucht finden könnte zu widersprechen, wie jener Abt eines Klosters, der den allzu eifrigen Lehrer, welcher sich hatte hinreißen lassen, zu sagen, Gottes Dasein sei so gewiß,[704] als daß 2 mal 2 vier sei, wegen dieses Ausspruchs zurechtwies, indem er hinzusetzte, Gottes Dasein sei weit gewisser als daß 2x2 = 4 sei. Ich begreife vollkommen, wenn, wie ferner erzählt wird, die Zuhörenden über eine solche Äußerung lachten, wie ich begreife, daß es auch jetzt noch Menschen genug gibt, die nicht begreifen können, wie etwas gewisser sein könne als daß 2x2 = 4 ist. Ohne den Ausdruck untersuchen zu wollen, ist gewiß, daß es Wahrheiten von verschiedener Ordnung gibt, und daß den Wahrheiten der Arithmetik und der Mathematik überhaupt schon darum nicht unbedingte Gewißheit beiwohnen kann, weil diese Wissenschaften, wie ich in meiner frühern Vorlesung aus Platon angeführt, mit Voraussetzungen zu Werk gehen, die sie selbst nicht rechtfertigen, und damit, was deren Wert und Geltung betrifft, einen höheren Gerichtshof anerkennen; ferner weil sie vieles nur erfahrungsmäßig wissen, z.B. von geraden und ungeraden, abgeleiteten und Primzahlen, für welche sie noch nicht einmal ein Gesetz des gegenseitigen Abstandes gefunden.

Mit Bayle erklärt sich nun Leibniz, was die Unabhängigkeit der ewigen Wahrheiten vom göttlichen Willen betrifft, einverstanden, nicht aber ebenso mit den äußersten unter den Scotisten, oder überhaupt mit denen, die ein von Gott in jedem Sinne unabhängiges Reich ewiger Wahrheiten, oder eine für sich und außer allem Zusammenhang mit Gott bestehende Natur der Dinge aufstellen. Wenn der Wille Gottes nur die Ursache der Wirklichkeit der Dinge zu sein vermag, so kann die Quelle ihrer Möglichkeit nicht auch in diesem Willen, sie kann aber ebensowenig eine von Gott unbedingt und in jedem Betracht unabhängige sein. »Meines Erachtens,« sagt Leibniz (in der Theodicee), »ist der göttliche Wille die Ursache der Wirklichkeit, der göttliche Verstand aber die Quelle der Möglichkeit der Dinge, dieser ist es, der die Wahrheit der ewigen Wahrheiten macht, ohne daß der Wille daran teilhat. Alle Realität, – also, will er sagen, auch die, welche wir den ewigen Wahrheiten zuschreiben müssen – alle Realität muß auf etwas gegründet sein, das existiert. Freilich ist wahr – was schon ein Teil der Scholastiker geltend gemacht hat – daß auch der Gottesleugner ein[705] vollkommener Geometer sein kann. Aber wenn kein Gott wäre, gäbe es kein Objekt der Geometrie, und ohne Gott gäbe es nicht nur nichts, das existiert, sondern auch nichts Mögliches. Das verhindert nicht, daß die, welche von der Verbindung aller Dinge unter sich und mit Gott keine Kenntnis haben, gewisse Wissenschaften verstehen können, ohne ihre erste Quelle zu wissen, die in Gott ist«2. Da Leibniz dies nur von gewissen Wissenschaften folgt, so hat er offenbar die Philosophie ausgenommen. Ultima ratio tam essentiarum quam existentiarum in Uno, ist Leibnizens allgemeiner Ausspruch in der Abhandlung de rerum originatione radicali. Zwischen »ganz unabhängig sein von Gott« und bestimmt sein durch göttliche Willkür ist etwas in der Mitte. Dieses Mittlere ist in der Unabhängigkeit vom göttlichen Verstande. Leibniz bedient sich dieser Unterscheidung namentlich, um wegen des Übels und des Bösen in der Welt jeden Vorwurf vom göttlichen Willen zu entfernen. Die Ursache des Übels, sagt er, ist in der idealen Natur der Dinge begründet, welche vom göttlichen Willen nicht abhängt, sondern nur im göttlichen Verstande ist.

Aber dieser Verstand nun wie verhält er sich zu den ewigen Wahrheiten? Entweder bestimmt er von sich aus und ohne an etwas gebunden zu sein, was in den Dingen notwendig und ewig sein soll; in diesem Fall ist nicht einzusehen, wie er sich von dem Willen unterscheide, es heißt auch hier: stat pro ratione voluntas. Ist es der Verstand Gottes, der, ohne durch irgend etwas bestimmt oder eingeschränkt zu sein, die Möglichkeiten der Dinge, die in der Wirklichkeit zu Notwendigkeiten werden, sich ausdenkt, so wird man auch so der Willkür nicht entgehen. Oder ist der Sinn dieser: der Verstand schafft diese Möglichkeiten nicht, er findet sie vor, er entdeckt sie als schon daseiende, dann muß es etwas von diesem Verstand Verschiedenes und von ihm selbst Vorausgesetztes sein, worin diese Möglichkeiten begründet sind und worin er dieselben erblickt. Dieses aber somit vom göttlichen Verstände Unabhängige, und woran wir diesen selbst gebunden zu denken hätten, wie sollen wir[706] es benennen? Quelle des Allgemeinen und Notwendigen in den Dingen kann es selbst nichts Individuelles mehr sein, wir wir den Verstand denken müssen; denn auch der Leibnizische Ausdruck l'entendement divin kann nur von einer göttlichen Fakultät verstanden werden. Unabhängig aber von allem Individuellen, ja diesem entgegengesetzt, selbst das Allgemeine und der Sitz der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten, das alles läßt sich nur von der Vernunft sagen. Wir wären also auf eine vom göttlichen Willen unabhängig existierende ewige Vernunft gewiesen, deren Schranken oder Gesetze der göttliche Verstand in seinen eignen Hervorbringungen oder Entwürfen nicht überschreiten könnte. Aber einmal auf diesem Punkt, und bezaubert von dem über alles Individuelle uns hinweghebenden Allgemeinen – sollten wir auf diesem Punkt stehen bleiben, und nicht vielmehr des Individuellen uns ganz zu entledigen suchen? Und dies um so mehr, als wenn man zwischen dieser Vernunft und Gott unterscheidet, zwei voneinander Unabhängige angenommen werden müssen, deren keines von dem andern abzuleiten ist, während die Wissenschaft vor allem und zuerst auf Einheit des Prinzips dringt. Warum also nicht sagen, daß Gott selbst nichts anderes ist als diese ewige Vernunft, eine Meinung, die, einmal als unwidersprechlich und unter gescheiten Leuten sich von selbst verstehend adoptiert, unendlicher Beschwerden überhebt und alles Schwerbegreifliche mit einemmal entfernt?

Man wird vielleicht gegen diesen Fortgang einwenden, daß er viel mehr ein Sprung sei und uns von der Leibnizischen Zeit unmittelbar in die Gegenwart versetze. Denn das System, in dem die Vernunft alles ist, sei ja eben das neueste. Allein es würde daraus nicht folgen, was man folgern will. In dem Zeitraum von Leibniz bis auf Kant war Rationalismus die allgemeine Denkart der Zeit und nur durch kein philosophisches System repräsentiert (denn damals fehlte es bekanntlich daran), also genötigt, auf mehr populäre Weise sich geltend zu machen und sich auf die Theologie zu werfen. Dieser theologische Rationalismus, der freilich selbst noch nicht wußte, was er in letzter Instanz wollte, ging (es läßt sich dies genau geschichtlich nachweisen) unmittelbar aus der Wolffschen Schule hervor. Wenn[707] aber dieser Rationalismus erst in der neuesten Zeit dazu gelangt ist, sich als philosophisches System aufzustellen, so dankt er dies freilich der späteren Entwicklung, aber seine eigentlichen Wurzeln hat er darum nicht in dieser, sondern in der ihr vorausgegangenen Zeit. Denn eine einmal allgemein gewordene und einem ganzen Zeitalter gleichsam zur andern Natur gewordene Denkart wird nur von wenigen überwunden, die sich als Ausnahmen darstellen, und läßt sich nicht sofort durch ein philosophisches System aufheben, vielmehr begibt sich das Gegenteil, daß die angenommene Denkart jenes aufhebt, indem sie es sich dienstbar macht und nur das so geknebelte sich gefallen läßt.

Eine große und unausweichliche Unbequemlichkeit haftet jedoch auch dieser Auskunft an. Denn wie auf der einen Seite der bloße göttliche Wille das Notwendige und Allgemeine der Dinge nicht erklärt: so unmöglich ist es, aus reiner bloßer Vernunft das Zufällige und die Wirklichkeit der Dinge zu erklären. Es bliebe zu dem Ende nichts übrig, als anzunehmen, daß die Vernunft sich selbst untreu werde, von sich selbst abfalle, dieselbe Idee, welche erst als das vollkommenste, und dem keine Dialektik etwas weiteres anhaben könne, dargestellt worden, daß diese Idee, ohne irgend einen Grund dazu in sich selbst zu haben, recht eigentlich, wie die Franzosen sagen, sans rime ni raison, sich in diese Welt zufälliger, der Vernunft undurchsichtiger, dem Begriff widerstrebender Dinge zerschlage. Dieser Versuch, wenn er gemacht würde, wäre ein merkwürdiges Beispiel, was man einer befangenen Zeit bieten darf; ihn beurteilen? ja etwa mit den terentianischen Worten: haec si tu postules (ein solches sich selbst Verrücken der Vernunft) certa ratione facere, nihilo plus agas, quam si des operam, ut cum ratione insanias.

Wieder an Leibniz anzuknüpfen –, so ist offenbar: Um das gleich Unmögliche einer vollkommenen Abhängigkeit und einer völligen Unabhängigkeit zu vermeiden, nimmt Leibniz zwei verschiedene Fakultäten in Gott an; aber wäre es nicht einfacher und natürlicher, die Ursache des verschiedenen Verhältnisses zu Gott in der Natur jenes nescio quod selbst zu suchen, das den Grund aller Möglichkeit und gleichsam den Stoff, die Materie[708] zu allen Möglichkeiten enthalten soll, demgemäß aber selbst nur Möglichkeit, also nur die potentia universalis sein kann, die als solche toto coelo von Gott verschieden, soweit auch ihrem Wesen nach, also bloß logisch betrachtet, unabhängig von dem sein muß, von dem alle Lehren übereinstimmend sagen, daß er reine Wirklichkeit ist, Wirklichkeit, in der nichts von Potenz ist. Soweit ist das Verhältnis noch ein bloß logisches. Aber wie wird sich nun das reale Verhältnis darstellen? Einfach so: Jenes alle Möglichkeit begreifende, selbst bloß Mögliche wird des selbst-Seins unfähig, nur auf die Weise sein können, daß es sich als bloße Materie eines andern verhält, das ihm das Sein ist, und gegen das es als das selbst nicht Seiende erscheint. Ich gebe diese Bestimmungen ohne weitere Motivierung, weil sie sich alle auf bekannte aristotelische Sätze gründen. To hylikon oudepote kath' hautou lekteon, »das Hylische, das bloß eines materiellen Seins Fähige, kann nicht von sich selbst, es kann nur von einem andern gesagt werden«, welches andere demnach es ist. Denn wenn ich B von A sage (prädiziere), so sage ich, daß A B ist. Dieses andere aber, das dieses, des selbst-Seins Unfähige, ist, dieses müßte das selbst-Seiende und zwar das im höchsten Sinn selbst-Seiende sein – Gott. Das reale Verhältnis also wäre, daß Gott jenes für sich selbst nicht Seiende ist, das nun, inwiefern es ist – nämlich auf die Weise Ist, wie es allein sein kann – als das ens universale, als das Wesen, in dem alle Wesen, d.h. alle Möglichkeiten sind, erscheinen wird.

Mit dieser Entwicklung sind wir auf dem von Kant zuerst gleichsam eroberten Standpunkt gekommen, der ihm als der höchste Preis seines ebenso unermüdlichen, wie redlichen Forschens zuteil geworden, wenn er auch diesen Standpunkt nur eben erreicht hat, ohne von ihm aus selbst weiter fortzuschreiten. Ich kann mich über Kants Lehre vom Ideal der Vernunft kurz fassen, da ich sie früher, in der Absicht, später darauf zu verweisen, zum Gegenstand einer ausführlichen Abhandlung gemacht habe, die ich die Ehre hatte ebenfalls hier vorzulesen3. Kant zeigt[709] also, daß zur verstandesmäßigen Bestimmung der Dinge die Idee der gesamten Möglichkeit oder eines Inbegriffs aller Prädikate gehört. Dies versteht die nachkantische Philosophie, wenn sie von der Idee schlechthin, ohne weitere Bestimmung spricht; diese Idee selbst nun aber existiert nicht, sie ist eben, wie man zu sagen pflegt, bloße Idee; es existiert überhaupt nichts Allgemeines, sondern nur Einzelnes, und das allgemeine Wesen existiert nur, wenn das absolute Einzelwesen es ist. Nicht die Idee ist dem Ideal, sondern das Ideal ist der Idee Ursache des Seins, wie man auch insgemein zu sagen pflegt, daß durch das Ideal die Idee verwirklicht ist. In dem Satz: das Ideal ist die Idee, hat also das ist nicht die Bedeutung der bloßen logischen copula. Gott ist die Idee heißt nicht: er ist selbst nur Idee, sondern: er ist der Idee (der Idee in jenem hohen Sinn, wo sie der Möglichkeit nach alles ist), er ist der Idee Ursache des Seins, Ursache, daß sie Ist, aitia tou einai, im aristotelischen Ausdruck.

Es ist also nun wohl das Verhältnis so bestimmt, daß Gott das allgemeine Wesen ist, aber noch weder wie, noch infolge welcher Notwendigkeit er es ist. Was nun das Wie betrifft, so versteht sich außer dem schon Gesagten, daß Gott das All der Möglichkeit ewiger Weise, also vor allem Tun, daher auch vor allem Wollen ist. Und doch ist nicht Er selbst dieses All. In ihm selbst ist kein Was, er ist das reine Daß – actus purus. Aber um so mehr, wenn in ihm selbst kein Was und nichts Allgemeines ist, durch welche Notwendigkeit geschieht es, daß was selbst oder in sich ohne alles Was ist, daß dieses das allgemeine Wesen, das alles begreifende Was ist?

Es kann nichts helfen zu sagen: vom bloß Individuellen ohne das Allgemeine würde es keine Wissenschaft geben. Hê epistêmê tou katholon. Denn warum eben soll Wissenschaft sein? und nimmer kann die Möglichkeit unsres Wissens die Ursache davon sein, daß der, in welchem schlechterdings nichts Allgemeines, und der eben dadurch über alles, was wir sonst Einzelnes nennen, weit erhaben ist (denn dieses trägt immer noch sehr viel Allgemeines in sich) – daß dieser, welcher das absolute Einzelwesen ist, das allgemeine Wesen ist. Da er es nicht wollend,[710] und auch nicht infolge seines Wesens oder Selbstes ist – denn dieses, als das Absonderlichste (to malista chôriston), d.h. als Individuellste, ist es vielmehr das, aus dem nichts Allgemeines folgen kann –, so kann er das Alles Begreifende nur sein infolge einer über ihn selbst hinausreichenden Notwendigkeit. Aber welcher Notwendigkeit? Versuchen wir es auf diese Weise. Sagen wir, diese Notwendigkeit sei die des Einsseins von Denken und Sein – diese sei das höchste Gesetz, und dessen Sinn dieser, daß was immer Ist auch ein Verhältnis zum Begriff haben muß, was Nichts ist, d.h. was kein Verhältnis zum Denken hat, auch nicht wahrhaft Ist.

Gott enthält in sich nichts als das reine Daß des eigenen Seins; aber dieses, daß er Ist, wäre keine Wahrheit, wenn er nicht Etwas wäre – Etwas freilich nicht im Sinn eines Seienden, aber des alles Seienden –, wenn er nicht ein Verhältnis zum Denken hätte, ein Verhältnis nicht: zu einem Begriff, aber zum Begriff aller Begriffe, zur Idee. Hier ist die wahre Stelle für jene Einheit des Seins und des Denkens, die einmal ausgesprochen auf sehr verschiedene Weise angewendet worden. Denn es ist leicht von einem System, das man nicht übersieht und das vielleicht übrigens auch noch weit entfernt ist von der nötigen Ausführung, einzelne Fetzen abzureißen, aber es ist schwer, mit solchen Fetzen seine Blöße zu decken und sie darum nicht an der unrechten Stelle anzuwenden. Es ist ein weiter Weg bis zum höchsten Gegensatz, und jeder, der von diesem sprechen will, sollte sich zweimal fragen, ob er diesen Weg zurücklegt. Die Einheit, die hier gemeint ist, reicht bis zum höchsten Gegensatz; das ist also auch die letzte Grenze, ist das, worüber man nicht hinaus kann. In dieser Einheit aber ist die Priorität nicht auf seifen des Denkens; das Sein ist das Erste, das Denken erst das Zweite oder Folgende. Es ist dieser Gegensatz zugleich der des Allgemeinen und des schlechthin Einzelnen. Aber nicht vom Allgemeinen zum Einzelnen geht der Weg, wie man heutzutag allgemein dafür zu halten scheint. Selbst ein Franzose, der sich übrigens um Aristoteles Verdienste erworben, schließt sich dieser allgemeinen Meinung an, indem er sagt: le général se réalise en s'individualisant.[711] Es möchte schwer sein zu sagen, woher dem Allgemeinen die Mittel und die Macht komme, sich zu realisieren. Zu sagen ist vielmehr: daß das Individuelle, und zwar am meisten das es im höchsten Sinne ist, daß das Individuelle sich realisiert, d.h. sich intelligibel macht, in den Kreis der Vernunft und des Erkennens eintritt, indem es sich generalisiert, d.h. indem es das allgemeine, das alles begreifende Wesen zu Sich macht, sich mit ihm bekleidet. Könnte man heutzutage noch über irgend etwas verwundert sein, so müßte man es darüber sein, auch den Platon, den Aristoteles auf jener Seite genannt zu hören, wo das Denken über das Sein gesetzt wird. Platon? – nun ja, wenn man jene einsame Stelle im sechsten Buch der Republik übersieht, wo er von dem agathon, d.h. von dem Höchsten in seinen Gedanken, sagt: ouk ousias ontos tou agathou all' eti epekeina tês ousias presbeia kai dynamei hyperechontos, also, daß das Höchste nicht mehr ousia, Wesen, Was ist, sondern noch jenseits des Wesens, das an Würde und Macht ihm Vorangehende. Selbst das Wort presbeia, das in erster Bedeutung Alter, erst in zweiter Ansehen, Vorrecht, Würde bezeichnet, ist nicht umsonst gewählt, sondern um selbst die Priorität vor dem Wesen auszudrücken. Wenn man also diese Stelle übersieht, könnte es scheinen, als gebe Platon dem Denken den Vorrang über das Sein. Aber Aristoteles? Aristoteles, dem die Welt vorzüglich die Einsicht verdankt, daß nur das Individuelle existiert, daß das Allgemeine, das Seiende nur Attribut ist (katêgorêma monon), nicht selbst-Seiendes, wie das, was allein prôtôs, zuerst sich setzen läßt – Aristoteles, dessen Ausdruck: hou hê ousia energeia allein allen Zweifel niederschlagen würde; denn hier ist ousia was sonst dem Aristoteles das ti estin, das Wesen, das Was, und der Sinn ist, daß in Gott kein Weis, kein Wesen vorausgeht, an die Stelle des Wesens der Aktus tritt, die Wirklichkeit dem Begriff, dem Denken zuvorkommt. Diesem absoluten Daß in Gott kann dann aber nur das absolute Was entsprechen. Wie aber beide aneinander gekettet sind, dafür bedarf es noch des bestimmteren Ausdrucks. Gott ist das allgemeine Wesen. die Indifferenz aller Möglichkeiten, er ist dies nicht zufälliger, sondern notwendiger und ewiger Weise, er hat es an sich, diese[712] Indifferenz zu sein, an sich in dem Sinn, wie man wohl von einem Menschen sagt, daß er etwas an sich habe, um auszudrücken, daß er es nicht gewollt, ja zuweilen sogar, daß er nicht darum wisse. Aber eben darum, weil Gott jenes andere ohne sein Zutun, nicht gewollter, also in Ansehung seiner selbst zufälliger Weise ist, ist es ein zu ihm Hinzugekommenes, ein symbebêkos im aristotelischen Sinn, zwar ein notwendiges, ein autô kath hauton hyparchon, aber das ihm doch nicht im Wesen ist (mê en tê ousia on), wogegen ihm also (was zwar nicht hierher gehört, aber der Folge wegen wichtig ist) auch das Wesen frei bleibt. Aristoteles erläutert ein solches nicht im Wesen und doch an sich Haben durch ein aus der Geometrie hergenommenes Gleichnis. Daß die Winkel eines Dreiecks zusammen = zwei Rechten, ist zwar ein dem Dreieck kath' hauto hyparchon, ein ihm infolge notwendiger Ableitung Zukommendes, aber es ist ihm doch nicht in der ousia, denn der Begriff des rechten Winkels selbst kommt in der Wesensbestimmung oder Definition des Dreiecks gar nicht vor; es kann ein Dreieck geben ohne rechten Winkel.


Die Erörterungen, denen ich mich hier überlassen, scheinen weit abzuliegen von allem, was jetzt vorzugsweise die Geister beschäftigt, und dennoch haben sie eine sehr nahe Beziehung auf die Gegenwart. Denn jenes dem Denken über das Sein, dem Was über das Daß erteilte Übergewicht scheint mir nicht ein besonderes, sondern ein allgemeines Leiden der gesamten, glücklicherweise von Gott mit unerschütterlicher Selbstzufriedenheit ausgerüsteten deutschen Nation zu sein, die sich imstande zeigt, eine so lange – lange Zeit, unbekümmert um das Daß, mit dem Was einer Verfassung sich zu beschäftigen. Wodurch also in der letzten Zeit die deutsche Philosophie mit unseliger Improduktivität geschlagen worden, dasselbe scheint mir auch die Ursache der politischen Improduktivität Deutschlands, am schmerzlichsten zu empfinden in einem Staat, der, von kleinen und zweifelhaften Anfängen durch unermüdliche Tatkraft zu großer[713] Bedeutung erhoben, um so mehr Ursache hat, stets jenes Wort des großen Italieners eingedenk zu sein, daß die Staaten nur durch dieselben Ursachen erhalten werden, durch welche sie groß geworden sind. Wenn auf eine über jede Anfechtung und allen Zweifel erhabene Weise erst das Sein festgestellt ist, mag man, wie es auch von selbst immer geschehen ist, den Inhalt dieses Seins dem Denken und der Vernunft gerechter zu machen suchen. Fängt man aber mit dem Inhalt an, der für sich und von allen Existenzbedingungen losgetrennt nur ein allgemeiner sein kann: so wird man das eine Weile fortsetzen können, aber mit Schrecken am Ende gewahr werden, daß es an dem Gefäß fehlt, diesen Inhalt aufzunehmen. Das Was führt von sich selbst ins Weite, in die Vielheit, und also auch natürlich zur Vielherrschaft, denn das Was ist in jedem Ding ein andres, das Daß seiner Natur nach und daher in allen Dingen nur Eines; in dem großen Gemeinwesen, das wir Natur und Welt nennen, herrscht ein einziges, jedes Vielheit von sich ausschließendes Daß; wenn aber auch mit Platon anzunehmen ist, daß weder die Ungebildeten und aller Wahrheit Unkundigen den Staat gut verwalten werden, noch auch die, welche ohne Unterlaß und ausschließlich in der Wissenschaft gelebt haben, jene nicht, weil sie nicht Einen Zweck im Leben zu verfolgen gewohnt sind, sondern vielerlei und zufällige Zwecke, diese nicht, weil sie nicht freiwillig auf menschliche Geschäfte sich einlassen, sondern jetzt schon in den Inseln der Seligen zu wohnen sich dünken werden: so kann daraus nicht folgen, daß der Philosoph, wenn auch die zufällige politische Strömung nach der entgegengesetzten Seite gehen sollte, nicht nur um so mehr in der Wissenschaft festhalte an jenem Homerischen, das schon durch Aristoteles die Metaphysik sich als letzten Grundsatz angeeignet hat:

eis koiranos estô.[714]


Fußnoten

1 Erdmannsche Ausgabe von Leibniz, S. 560, § 183.


2 A. a. O., S. 561. § 184.


3 Enthalten in der zwölften Vorlesung [zur Philosophie der Mythologie].

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 3, Leipzig 1907.
Entstanden 1850. Erstdruck in: Sämtliche Werke, hg. von K.F.A. Schelling, Stuttgart (Cotta) 1856-1861.
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